Liebe, wie geht's?

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9. Überlebensmuster sind kompliziert

Was als Kind überlebensnotwendige Verhaltensmuster sind, sind meist hinderliche Verhaltensmuster im Erwachsenenleben. Über den Sinn des Auflösens.

Sie und er im Urlaub in Südspanien. Die Sonne scheint, der Oleander duftet und die Alhambra, die sie gerade besichtigen, beeindruckt in ihrer Perfektion und Einzigartigkeit.

Sie: Wow, schau dir das an! Ist es nicht beeindruckend, dieses Bewässerungssystem, das die Menschen damals schon entwickelt haben? Und da, diese Fliesen … Hey, du! Was ist mit dir?

Er (sorgenvoll): Du, schau einmal, ich habe doch da etwas auf der Lippe.

Sie: Was denn? (Sie sieht sich die Stelle an.) Da ist doch nichts. Eine leichte Rötung, nichts Besonderes.

Er (entrüstet): Nichts Besonderes? Das könnte Krebs sein!

Sie: Ach geh! Die Sonne hat dir vielleicht ein bisschen die Lippe gereizt. Hier, ich habe einen Lippenbalsam.

Er (geschockt): Was?! Ich habe hier vermutlich Krebs und du kommst mir damit? Ich hab schon mit meinem Hausarzt telefoniert! Er meint, das wäre nichts Schlimmes. Aber er kann das ja aus der Ferne gar nicht beurteilen!

Kurz darauf erreicht ihn ein Anruf aus dem Büro. Die Computer sind abgestürzt. Er telefoniert zwei Stunden lang und schafft es von Spanien aus, das Problem zu lösen. Als sie beim Abendessen sitzen, spricht sie ihn noch einmal darauf an.

Sie: Wie geht es denn deiner Lippe?

Er: Wieso? Was soll mit meiner Lippe sein?

Ja, wir Menschen können uns das Leben schon ordentlich schwermachen. Da könnten wir den Urlaub genießen und uns freuen, weil das Leben gerade sein Füllhorn über uns ausschüttet, und dann sorgen wir uns wegen eines roten Tüpfelchens auf der Lippe. Am wohl unterhaltsamsten und auch drastischsten hat es Hollywood im Film „Besser geht’s nicht“ mit Jack Nicholson als Zwangsneurotiker par excellence dargestellt. Seine Überlebensmuster zeigen sich anhand von Türschnallen, die er nicht angreifen kann, oder der Haustür, die er täglich im selben Ritual fünfmal nach links und dann nach rechts zusperren muss. Er legt damit sich selbst und auch sein Umfeld in Ketten und verpasst das Leben.

Überlebensmuster entstehen immer aus einer Not heraus, in einer Zeit, in der wir mit schwierigen Ereignissen nicht reflektiert umgehen können, also vor allem in unserer Kindheit. Der Dialog oben hat sich zwischen uns vor etlichen Jahren abgespielt. Dieses neurotische Verhalten hat seinen Ursprung, als der kleine Roland sich mit seiner Großmutter konfrontiert sah, die immer nur sterben wollte. „Ich will sterben“ war ihr Standardsatz und ergänzte quasi perfekt das insgesamt düstere Bild der schwarz gekleideten, gebeugten Frau, die am Rollator so oft an Rolands Zimmer vorbeizuckelte. Als kleiner Bub war ihm dieses Verhalten unheimlich und es machte ihm Angst. Doch es war nur selten jemand da, dem er sich anvertrauen konnte. Seine Eltern waren im familiären Betrieb eingespannt, und so war er viel alleine. Wenn er allerdings krank war, war seine Mutter präsenter. So lernte er dreierlei: Zum einen übernahm er die kreisenden Gedanken über den Tod, zum anderen, dass Krankheit manchmal Aufmerksamkeit beschert, und drittens zeigte ihm das Vorbild seiner Eltern, dass Arbeit einen wichtigen Wert hat und einen vor sorgenvollen Gedanken schützt.

Solche Schutzmechanismen bleiben in uns gespeichert und werden im Erwachsenenleben in bestimmten Situationen abgerufen, wie unser Dialog zeigt. Und sie verselbstständigen sich: Im schönsten Ambiente denkt er über den Tod nach, obwohl seine Frau ihm viel Aufmerksamkeit schenkt. Erst als der Anruf kommt, hat er sein vertrautes Überlebensmuster zur Seite gelegt und kann sich mit Arbeit ablenken. Das ist, was Schutzmechanismen ausmacht: Sie sind kompliziert und von außen rein objektiv auch nicht zu verstehen. Man versteht sie erst, wenn man hinter die Kulissen schaut.

Überlebensmuster vergleichen wir gerne mit Krücken. Zu einer Zeit, wo wir mit schwierigen Situationen nicht gut umgehen können, legen wir uns Krücken zu. Rolands Krücke ist, dass er sich gern in die Arbeit stürzt, damit kein Platz für düstere Gedanken entstehen kann. Wenn das nicht möglich ist – wie im Urlaub –, dann kriechen die großmütterlichen Energien hervor, und erst die Arbeit kann ihn wieder beruhigen. Wenn wir noch einmal einen Blick in den Film mit Jack Nicholson werfen, finden wir eine ganze Palette an Krücken: Er vermeidet es, auf Striche zu steigen, oder nimmt sich sein eigenes Besteck ins Restaurant mit, und alles nur, weil ihm das ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.

Genauso ist es eine Krücke, wenn Sie sich in zu viel Arbeit flüchten, um sich selbst, eine innere Traurigkeit oder einen Frust nicht allzu sehr spüren zu müssen. Oder wenn Sie sich unsichtbar machen aus Angst, etwas falsch zu machen und wie in Ihrer Kindheit geohrfeigt zu werden. Dieses letzte Beispiel zeigt auch ganz wunderbar, wie sehr eine Krücke in der Kindheit notwendig ist – und wie wenig passend sie im Erwachsenenleben ist: Ein Kind, das beobachtet, dass der Bruder immer wieder geschlagen wird, kann verschiedene Strategien entwickeln. Eine davon ist, dass es lernt, sich zu ducken und unsichtbar zu werden, um nur ja nicht auch die strenge Hand der Mutter zu spüren. Das ist eine sehr vernünftige Überlebensstrategie, nicht? Als Erwachsene zeigt sich diese Überlebensstrategie dann zum Beispiel darin, dass sie weiterhin unsichtbar bleibt: Sie kleidet sich unscheinbar, meidet es, Vorträge zu halten, und lehnt Einladungen zu TV-Talkshows ab, obwohl sie als Expertin viel zu sagen hätte.

Doch im Erwachsenenalter gibt es keine schlagende Hand, vor der man sich zu schützen hat. Trotzdem behält man seine Krücke und stützt sich auf sie, weil man sie verinnerlicht hat und gar nicht auf die Idee kommt, dass man auch anders leben kann. Wenn Sie zu jenen Menschen gehören, die sich aus welchen früheren Gründen auch immer zur Unsichtbarkeit entschieden haben, überlegen Sie: Was würde denn heute passieren, wenn Sie laut und klar Ihre Meinung sagen? Wenn Sie auf einer Bühne vor Publikum sprechen? Wenn Sie Ihren Wunsch durchsetzen und nicht wieder klein beigeben? Wäre dann Ihr Überleben bedroht? Höchstwahrscheinlich nicht.

Viel besser wäre es, Sie würden sich vornehmen, Ihr Verhalten zu verändern. Denn mit jedem Akt des Unsichtbarmachens unterdrücken Sie Ihr Potenzial und nützen es nicht. Das ist doch schade!

Wir Menschen werden geboren als Individuen, die sich entfalten wollen und wachsen, die ihre Lebendigkeit dadurch spüren wollen, indem sie alle Register ziehen, die sie zur Verfügung haben.

Diese Krücken stehen – psychologisch betrachtet – für das sogenannte „verlorene Selbst“. Wir sind mit einem Potenzial geboren, doch die Umstände in unserer Kindheit haben dazu geführt, dass wir manches davon verlieren. Und hier kehren wir zur Eingangsfrage zurück: Wie konnte ich mich nur in den verlieben? Genau darum: Weil Ihr Partner, Ihre Partnerin die perfekte Person ist, um Ihr verlorenes Selbst wiederzufinden und es in Ihr Leben zu reintegrieren.

Wir haben im Impuls Nr. 8 über die Seelenverwandtschaft geschrieben, die dafür verantwortlich ist, dass wir uns ineinander verlieben. Gleichzeitig erleben wir es oft, wie gegensätzlich wir sind: Sie ist ein Fels in der Brandung, der sich durch nichts erschüttern lässt – und er ist der quirlige Hans Dampf in allen Gassen. Das ist kein Widerspruch: Diesem konträren Verhalten liegt ein gemeinsames Thema zugrunde, das könnte durchaus ein ähnliches sein wie wir das beispielsweise bei den beiden Damen an der Kasse in Impuls Nr. 2 gezeigt haben. Und genau diese Gegensätze kommen uns beim verlorenen Selbst zu Hilfe.

Die Frau, die ihren Mann beim Verlieben durch ihre Ruhe und Besonnenheit so begeistert hat, hat vielleicht früh gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken. Wenn es Zoff im Büro gibt, will sie gar nicht weiter drüber reden. Das ist ihr verlorenes Selbst. Das verlorene Selbst des Mannes ist in diesem Beispiel diametral: Er wurde so geprägt, dass Gefühle gut sind und man sie zeigen muss. Was ihm fehlt, ist die Fähigkeit innezuhalten, nachzudenken und einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie erkennen bestimmt, wie schön sich die beiden ergänzen.

Solche Gegensätze führen jedoch zuerst einmal gerne in einen Konflikt: Sie ist eine Langweilerin und er eine Nervensäge, denn sie steigt nicht auf seinen Wunsch nach Abenteuer und Aktivität ein und er nicht auf ihr Bedürfnis nach Ruhe. Der Sinn einer Partnerschaft ist, dass beide die Chance nutzen und ihr verlorenes Selbst mithilfe des oder der anderen wiedererlangen. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Wenn Sie sich am Bein verletzt haben und zwei Monate lang mit Krücken durch die Gegend humpeln mussten, werden Sie umfallen, wenn Sie von einem Tag auf den anderen die Krücken weglegen. Da ist es besser, Sie legen vorerst einmal nur eine weg. Doch wenn Sie sich Zeit lassen und langsam einen Schritt nach dem anderen tun, dann entwickeln Sie sich zu einem perfekten Team!

10. Wenn der Partner unangenehm zupft

Warum Frustrationen ein doppeltes Geschenk sind und über den Sinn, daher auch Unangenehmes anzusprechen.

Sie: Kommt gar nicht in Frage, das mache ich nicht!

Er: Aber warum denn nicht? Es ist doch keine große Sache, sich auf die Bühne zu stellen und diesen Vortrag zu halten.

Sie: Ich sterbe tausend Tode, bevor ich mich auf diese Bühne traue. Nie und nimmer mache ich das! Die vielen Leute im Publikum, die würden mich zerpflücken und in der Luft zerreißen.

 

Er (ungehalten): So ein Blödsinn. Du bist doch Expertin auf deinem Gebiet.

Sie: Und erst recht all die Neider, die mein Vortrag auf den Plan rufen wird. Das brauche ich wirklich nicht.

Er (mittlerweile richtig wütend): Das ist doch ausgemachter Unsinn! Du glaubst, wenn du dich versteckst, wird dein Leben einfacher? Ganz im Gegenteil!

Sie: Schluss jetzt. Ich will nicht mehr drüber reden.

Der bereits im Impuls Nr. 9 erwähnte Kinoheld Melvin Udall kann im Film „Besser geht’s nicht“ nicht einmal von seinem Psychiater von seinen Zwangsneurosen geheilt werden. Sehr wohl aber von Carol Connelly, gespielt von der genialen Helen Hunt. Nur sie schafft es, ihn in seine Schranken zu weisen. Warum? Weil er sich in sie verliebt und sie wohl die einzige Person in seinem Leben ist, die er ernst nimmt. Weil sie beide Seelenverwandte sind. Sie droht ihm mit Lokalverbot, wenn er sich nicht besser benimmt, und mehrmals macht sie ihm klar, dass es ihr reicht, so unmöglich, wie er sich verhält. Damit „zwingt“ sie ihn, sein Verhalten zu verändern, denn sonst würde er seine Seelenverwandte verlieren. Sie zupft ihn ganz gewaltig an seinen Marotten und Neurosen, und am Ende wird er tatsächlich zu einem erträglichen Menschen. Auch umgekehrt erfährt sie selbst durch diese Beziehung Heilung. Sie ist eine, die sich nicht helfen lassen will und alles alleine stemmen muss, was sie über ihre Grenzen der Belastbarkeit bringt mit ihrem kranken Sohn. Er zeigt sich trotz aller Schrulligkeit als großzügiger Helfer und unterstützt sie, damit ihr Sohn die richtige Behandlung bekommen kann. Und so lernt sie, dass man sich anderen anvertrauen und Hilfe annehmen kann.

In unser aller Leben ist es nicht immer so drastisch wie in diesem Film. Zu Beginn einer Beziehung, wenn wir verliebt sind, sehen wir die meisten Seltsamkeiten ohnehin nicht, oder wenn, dann sind wir voll der Liebe: Ach, sie traut sich nicht, einen Vortrag zu halten – wie bescheiden, wie rührend, wie süß! Das Überlebensmuster der Angebeteten wird schöngeredet. Vielleicht sind wir sogar ein bisschen froh über diese zurückhaltende Art, weil auch wir die Erfahrung gemacht haben, dass zu viel der überschießenden Lebenskraft ganz schön bedrohlich sein kann. Doch spätestens, wenn der Alltag unsere Beziehung bestimmt, kann diese Bescheidenheit unerträglich werden, weil wir erkennen: Sie steht auf der Bremse und stellt sich nicht ihren Herausforderungen.

Als Paartherapeuten orten wir hier jedoch ein Problem: Wir konfrontieren unsere Partnerin mit ihrem Überlebensmuster erst, wenn es uns wirklich schon reicht. Wir haben also quasi den Überlaufschwimmer, der den Wasserfluss rechtzeitig stoppt, viel zu hoch montiert. Und dann, wenn uns ihr Verhalten ohnehin schon viel zu lange gestört hat, bricht es aus uns heraus und wir reagieren verärgert und wütend. Und wie reagiert die Partnerin dann? Ganz klar: mit Abwehr. Es kann sogar nur noch schlimmer werden, weil sie dann ihre Überlebensmuster noch mehr verteidigen muss. Wer sich nicht wertgeschätzt fühlt, muss sich zur Wehr setzen, so ist das nun einmal.

Max Frisch brachte es auf den Punkt, wie man als Überbringer einer Botschaft so ankommt, dass sich etwas verändern kann: „Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann – nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“ Wertschätzung ist immer ein passender Mantel. „Ich weiß, dass du dich gern mit deinem Wissen versteckst. Als Kind hast du es gelernt, dass es eine gute Strategie ist, unsichtbar zu bleiben, weil du dadurch glimpflich davongekommen bist, während dein vorlauter Bruder geschlagen wurde. Unsichtbar zu sein war daher für dich eine wichtige Überlebensstrategie. Heute, als erwachsener Mensch, brauchst du diese Strategie jedoch nicht mehr.“ So könnte eine gute Kommunikation lauten, die es möglich macht, in die Lebenskraft zu kommen und sichtbar zu werden.

Unsere Partner und Partnerinnen brauchen nicht nur die Wertschätzung dafür, dass ihre Komfortzone eine wichtige Überlebensstrategie aus der Kindheit war. Sie brauchen auch das Verständnis, dass das Verlassen dieser Komfortzone mit viel Angst, Scheu und Scham verbunden ist. Da nützt es gar nichts zu sagen: „Ach, stell dich nicht so an.“ Es ist so, als würde jemand noch mit Krücken gehen, obwohl seine Fußverletzung schon seit Jahren geheilt ist. Da bringt es auch nichts, wenn man ihm von heute auf morgen die Krücken wegnimmt – die Muskeln wären so verkümmert, dass dieser Mensch trotz geheiltem Fuß nicht gehen könnte, und er würde umfallen. Da braucht es eine langsame Annäherung: zunächst mit nur einer Krücke üben und fleißig Kräftigungsübungen machen, und erst dann kann man den ersten Versuch wagen, ohne Krücken zu gehen.

Eines jedenfalls ist gewiss: Niemand hat große Lust darauf, das ganze Leben lang mit Krücken zu gehen. Es ist nur die Angst, die uns im Vertrauten hängen bleiben lässt. In Wahrheit sind wir wohl eher ambivalent: Wir wollen in der Komfortzone bleiben und wir wollen in die Lebensfreude kommen. Also zupfen Sie sich ruhig gegenseitig immer wieder! Idealerweise nicht erst, wenn das Fass schon am Überlaufen ist, und auf jeden Fall in Liebe und Wertschätzung.

Um Sie zu motivieren, aus Ihrer Komfortzone zu steigen: Frustrationen sind ein Geschenk – und nicht nur das, sie sind sogar gleich ein doppeltes Geschenk! Falls Sie uns jetzt für verrückt erklären: Wir beweisen es Ihnen anhand eines Beispiels aus unserem eigenen Leben.

Eines unserer Streitthemen früher war, dass Roland sich mit seinen Ängsten vor Krankheiten und dem Tod von Sabine nicht ernst genommen fühlte. Wenn er ihr seine Sorgen erzählte, schob sie diese schnell vom Tisch: „Ach, was du schon wieder hast. Da ist doch nichts!“ Dieses Verhalten frustrierte ihn sehr. In einer der damals zahlreichen Therapiesitzungen, die sie besuchten, erzählte er ihr dann von seiner Oma, die ihr Zimmer neben ihm hatte und ständig davon redete, dass sie sterben wolle, wie wir das in Impuls Nr. 9 schon erzählt haben.

Dieses Bewusstwerden über den Zusammenhang mit dieser alten Geschichte, das Aufarbeiten, das Heilen dieser alten Wunde und der damit entstehende Gewinn von Lebensfreude war das erste Geschenk für Roland. Und das zweite Geschenk kam gleich dazu: Indem Sabine diesen tiefen Schmerz verstehen konnte, konnte sie auch ihr Verhalten ihm gegenüber verändern und sich mutig als Frau zeigen.

So ist das mit dem Frust: Er entsteht, weil der größte Schmerz der einen Person mit der größten Not der anderen zusammenkommt. An diesem Punkt kann der eine seine alten Wunden heilen und die andere wachsen und sich entwickeln. Sie sehen: Beide profitieren! Eigentlich könnten Sie ab nun bei jedem Frust die Arme hochreißen und rufen: „Hurra, wir haben ein Problem!“ Denn dann sind Sie im Grunde genommen mitten drin in dem, was wir in unserer Einleitung geschrieben haben: Beziehungen sind wie ein Labor, in dem es darum geht, dass zwei Menschen sich zu reifen Individuen entwickeln.

11. Ein Hungerkünstler kommt selten allein

Wenn zwei sich finden, schaut Amor auf die Seelenverwandtschaft. Und er schaut auch darauf, dass Gegensätze aufeinandertreffen.

Er: Sag, warst du schon einkaufen? Der Kühlschrank ist fast leer! Sie: Ich war doch gestern einkaufen. (Sie schaut erstaunt in den Kühlschrank.) Aber es ist doch alles da, Milch, sechs Eier … Da wirst du doch wohl nicht verhungern!

Er (ungehalten): Bitte schau genau. In der Milchpackung ist gerade einmal ein Tropfen drin.

Sie: Okay, davon hätte ich schon mehr kaufen können, da hast du Recht.

Er (alarmiert): Und überhaupt. Wir wollten doch ein großes Frühstück machen und einen Kuchen backen. Du kaufst immer viel zu wenig ein! Was soll das?

Sie: Ach du, du übertreibst immer. Es ist immer genug da, und trotzdem ist es dir nie genug. Du wirst schon sehen, das passt schon.

Er: Nein, also wirklich. Mir reicht’s! Ich gehe jetzt zum Markt einkaufen.

So ist es oft: Wo der eine gähnende Leere im Kühlschrank sieht, erkennt die andere die Fülle. Wo der eine aufgebracht seine Wünsche einfordert, beschwichtigt die andere und gibt klein bei. Und so kennen Sie es vermutlich auch: Es gibt Themen, da sind Sie und Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin eindeutig uneins.

Wenn wir von Liebe sprechen, denken wir gerne an Seelenverwandtschaft – wie wir das im Impuls Nr. 8 mit dem Zebraeffekt dargelegt haben. Gleichzeitig sagt man: Gegensätze ziehen sich an. Auch das ist richtig, und es schließt das eine das andere gar nicht aus. Wenn wir es näher betrachten, erkennen wir, dass beides sogar eng miteinander verbunden ist: Es sind die gemeinsamen Themen und oft auch ähnlichen Gefühlszustände in der Kindheit, die uns den passenden Strichcode erkennen lassen. Doch sind wir in unserer Kindheit mit diesen Themen und Gefühlen unterschiedlich umgegangen, sodass sich daraus Gegensätzlichkeiten entwickeln. Ein Beispiel aus unserer eigenen Geschichte:

Wir haben beide das typische Schicksal der 50er-Jahre-Kinder erlebt, die Eltern waren mit dem Wiederaufbau beschäftigt und haben versucht, manches nachzuholen und zu kompensieren. Da war für uns als Kinder nicht viel Platz, was emotionale Zuwendung und Sichtbarkeit anlangte. Unsere Eltern haben uns natürlich geliebt, wie das fast alle auf dieser Welt damals wie heute tun, und sie haben alles ihnen Mögliche getan, damit es uns finanziell und physisch gutgeht. Doch wir wurden nicht ausreichend gesehen, unsere seelischen Bedürfnisse wurden nur wenig wahrgenommen. Das ist, was unsere – Rolands und Sabines – Seelenverwandtschaft unter anderem ausmacht.

Unsere Gegensätze entwickelten sich daraus, wie wir mit diesem Nicht-Gesehen-Werden umgegangen sind, welche kindlichen Schutzmechanismen wir entwickelt haben. Sabines Schutzmechanismus war der, dass sie sich zurückgezogen hat – so quasi nach der Logik: Wenn ich wenig Energie aufwende, brauche ich auch nicht viel. Außerdem beschloss sie unbewusst: Ich bleibe bescheiden und brav, vielleicht werde ich dann doch belohnt und bekomme ein Stück emotionaler Zuwendung. Ruhig bleiben und sich zurückziehen, das war Sabines Art, mit ihrer Welt damals zurechtzukommen.

Roland hielt es eher wie Pippi Langstrumpf, nach dem Motto: Wenn es etwas Gutes gibt, muss man sich ranhalten, sonst kommt man zu kurz. Natürlich war auch sein Beschluss unbewusst. Er war als Kind schon sehr aktiv. Ein Beispiel: Weil seine Eltern so wenig Zeit für ihn hatten und es eigentlich nur sonntags ein gemeinsames Frühstück gab, war er es, der meist schon am Vorabend den Tisch deckte. So sorgte er dafür, dass er bekam, was er sonst so vermisste: Nähe und Anerkennung. Sonst wäre er ja emotional verhungert!

Genauso können aus derselben emotionalen Kargheit andere Menschen ganz andere Schutzmuster entwickelt haben: Der eine stopft zu viel Essen in sich hinein, die andere isst nur heimlich, der Dritte plündert regelmäßig die Naschlade der Oma und die Vierte hortet kein Essen, dafür aber jede Menge Puppen in ihrem Zimmer. Ja, wir sind als Kinder sehr kreativ, wenn es darum geht, mit unserer Welt umzugehen, wenn wir sonst keine Mittel haben, uns zu wehren oder sie uns zu erklären.

Diese Schutzmuster sind meistens direkt mit unserem Hirnstamm verbunden – das ist der älteste Teil unseres Gehirns, das vier Reaktionsmuster kennt: Angriff, Flucht, Erstarrung (oder Totstellen) und Unterwerfung.8 Sie repräsentieren das, was wir mit allen Tieren gemeinsam haben, nämlich die möglichen Reaktionen auf Gefahr. Angreifen und Flüchten sind zwei Strategien, bei denen wir unsere Energie aktivieren und maximieren. Wenn wir erstarren oder uns unterwerfen, minimieren wir sie. In der Imagotherapie sprechen wir gerne von Hagelsturm und Schildkröte – Sie können sich bestimmt denken, dass der Hagelsturm der Maximierer und die Schildkröte die Minimiererin ist.

In einer Paarbeziehung treffen meistens ein Hagelsturm und eine Schildkröte zusammen, wobei aus unserer Beobachtung heraus mehrheitlich die Frauen der Hagelsturm und die Männer die Schildkröte sind. Haben Sie eine Idee, wer in Ihrer Beziehung welche Rolle hat? Wenn Sie gerade in keiner Beziehung leben: Wie war es in Ihrer letzten Beziehung? Kann sein, dass sich das auf den ersten Blick nicht gleich festmachen lässt. Doch dort, wo Stress auftaucht und wir mit unseren ältesten Schutzmustern konfrontiert werden, wird das deutlich. Hagelsturm und Schildkröte sind Sie nicht nur in Ihrer Paarbeziehung, sondern auch darüber hinaus, und nicht selten zeigt ein und dieselbe Person im Beruf die eine Qualität und privat die andere – und umgekehrt.

 

Bei uns Bösels ist es so, dass Sabine die Minimiererin ist und Roland der Maximierer. Wenn Sie die Szene zu Beginn dieses Impulses noch einmal lesen, werden Sie sehen, dass die beiden genauso gut wir beide sein könnten: Er, der Hagelsturm, sieht im letzten Tropfen Milch die Hungersnot ausbrechen. Ganz seinem unbewussten Schutzmuster folgend reagiert er alarmiert: Essen muss her! Und er aktiviert seine Energie: Er muss auf den Markt gehen und einkaufen! Sie, die Schildkröte, hat gemäß Schutzmuster gelernt, genügsam zu sein. Für sie ist der Kühlschrank ausreichend gefüllt. Auf seinen „Angriff“ reagiert sie beschwichtigend, sie gibt ihm Recht und zieht sich zurück. Hauptsache kein Streit!

Es liegt auf der Hand, dass aus Gegensätzen leicht Konflikte und Streit entstehen können – doch nur, weil es da ein offenes Thema gibt, das beide nicht aufgearbeitet haben. Deshalb überreagieren beide auch. Gäbe es zwar unterschiedliche Ansichten über die Fülle im Kühlschrank, aber kein emotional aufgeladenes Thema im Hintergrund, würden sie sachlich einen Check machen, ob tatsächlich alles da ist, was sie brauchen, und bei Bedarf einkaufen gehen oder nicht. Und die Sache wäre erledigt.

Hagelsturm und Schildkröte, diese Kombination ist gleichzeitig auch sehr wichtig: Gegensätze ermöglichen es, dass wir uns ergänzen. Stellen Sie sich vor, es gäbe in einer Paarbeziehung zwei Maximierer. Die hätten vermutlich drei Kühlschränke in der Wohnung – sofern sie sich nicht schon längst zerfleischt hätten mit ihrer aufbrausenden, lautstarken Art, mit der sie auf Konflikte reagieren. Und zwei Schildkröten wären vermutlich verhungert, jede in ihrem Panzer zurückgezogen. Nur in der Gegensätzlichkeit können wir gut leben. So wie ein Projektteam bei guter und verständiger Führung umso bessere Ergebnisse liefert, je vielfältiger die Kompetenzen der einzelnen Teammitglieder sind, so wichtig ist es auch für das „Team Liebespaar“, unterschiedliche Qualitäten einzubringen. Hagelsturm und Schildkröte können ganz wunderbar voneinander lernen: die Schildkröte, indem sie sich ihre Bedürfnisse einfordern traut, der Hagelsturm, indem er so manches ein bisschen weniger dramatisiert. Wie so oft hilft auch hier ein Blick hinter die Kulissen. Die Seelenverwandtschaft hat so viele Gesichter: Beide kennen die Einsamkeit als Kind oder haben keinen Platz in der Familie bekommen, beide haben wenig Anerkennung erfahren oder auch ähnliche Schicksalsschläge aller Art in der Familie erlebt wie Tod, Selbstmord, Depressionen oder schwere Krankheiten. Vielleicht haben es beide auch erlebt, entwurzelt zu werden, weil die Familien aus verschiedenen Gründen immer wieder umgezogen sind und dadurch immer wieder Freunde verloren haben. Gehen Sie Ihren Gemeinsamkeiten auf die Spur: Was hat Sie zur Schildkröte, zum Hagelsturm werden lassen? Welches gemeinsame Thema können Sie ausmachen? Lernen Sie ein neues Lied: das dynamische Duett!

8siehe auch Impuls Nr. 19

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