Kommunikationswissenschaft

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Um dieses Sich-aus-der-Perspektive-des-Anderen-Betrachten klar vor Augen zu führen, sei mit Zijderveld (1975: 100) eine ganz alltägliche Gesprächssituation unter die Lupe genommen: Angenommen, Herr A begegnet auf der Straße Herrn B und fragt ihn nach dem Weg zum Bahnhof. Analysiert man diese Begegnung als ein wechselseitiges Aktualisieren von subjektiv erlebten und intersubjektiv verständlichen und daher gegenseitig bedeutungsvollen ‚signifikanten’ Symbolen, dann stellt sie sich folgendermaßen dar: Herr B „richtet sich mit Gebärden und mit Worten, als Erklärer des Weges zum Bahnhof, nicht nur an Herrn A (dort ihm gegenüber), sondern während er den Weg erklärt, übernimmt er die Rolle und Haltung des Herrn A, das heißt: des Zuhörers, der der Erklärung bedürftig ist, und richtet sich also an sich selbst, als wäre er jemand, der den Weg zum Bahnhof noch nicht kennt. Etwas Ähnliches passiert mittlerweile innerhalb von Herrn A: Während er Herrn B (dort ihm gegenüber) sieht und hört, adressiert er sich selber in der Rolle und der Haltung eines Erklärers“ (ebd. 1975: 100).

Genau an diesem Punkt wird nun die Bedeutung von Kommunikation für die Entstehung von Identität und Selbst-Bewusstsein einsehbar: Das Verfügen über bzw. das Verwenden von signifikanten Symbolen (im kommunikativen Handeln) bringt eine Verhaltensweise hervor, in der das Individuum für sich selbst ein Objekt wird, weil die Rolle des Anderen (die Perspektive seines Gegenübers) im Augenblick des Gebrauchs derartiger signifikanter Symbole auch in ihm selbst gegenwärtig ist (vgl. Mead 1968: 180 f.). Eben weil signifikante Symbole mit Anderen geteilte Bedeutungen aktualisieren, machen sie zugleich auch die Perspektive dieser Anderen dem kommunikativ Handelnden selbst gegenüber deutlich.

Wurde diese Fähigkeit, in die Rolle des Anderen zu schlüpfen bzw. sich aus der Perspektive seines Gegenübers betrachten zu können, vorhin als Voraussetzung für die Entwicklung von Identität und Selbst-Bewusstsein erkannt, so erweist sich nunmehr der Gebrauch signifikanter Symbole im Rahmen interpersonaler Kommunikationsprozesse als elementare Bedingung für die Genese eines derartigen Selbst. Erst Kommunikation mit Hilfe signifikanter Symbole macht es dem Individuum möglich, nicht nur als Subjekt – als I – (kommunikativ) zu handeln, sondern sich damit (zugleich) auch aus der Perspektive des/der Anderen als Objekt – als Me – zu betrachten, d. h., in die Rolle des Gegenübers zu schlüpfen.

Mittlerweile existiert die empirisch (in experimentellen Studien mit Kleinkindern sowie mit Menschenaffen) gut belegte These, dass diese Fähigkeit zur Rollenübernahme ein wesentlicher Faktor in der Evolution menschlicher Kooperation gewesen sein düfte: Erst auf dieser Grundlage scheinen Individuen die Fähigkeit entwickelt zu haben, „miteinander einen gemeinsamen Akteur, ein ‚wir‘ zu schaffen, der sich geteilter Intentionen, geteilten Wissens und geteilter soziomoralischer Werte bedient“ (Tomasello 2020: 19). Kooperative – über Kommunikation koordinierte – Interaktionen könnten somit die Basis dafür gewesen sein, dass die Spezies Mensch in der Lage war, „einzigartige Prozesse kultureller Koordination und Weitergabe“ (ebd.) von Wissen auszubilden, ohne die globale Zivilisationsprozesse nicht vorstellbar sind.

Insgesamt wird mit dieser Einsicht in den Stellenwert von Kommunikation bei der Genese von Identität und Selbst-Bewusstsein aber auch ein dem Menschen gleichsam auferlegter Zwang zur Kommunikation deutlich! Der Mensch, im Gegensatz zu anderen Lebewesen unfertig geboren, muss durch den kontinuierlichen Erwerb seines Selbst lebenslang seine eigentliche (menschliche) Geburt vorantreiben und bedarf dazu der kommunikativen Begegnung mit anderen Menschen.

Damit sind nunmehr deutliche Hinweise dafür erbracht, dass der spezifisch menschlichen Kommunikationsfähigkeit elementare Bedeutung für die Menschwerdung – sowohl in phylogenetischer als auch in ontogenetischer Hinsicht – zuzuerkennen ist. Der Mensch, so wie er bis heute geworden ist und wie er täglich neu wird, ist ohne die nur ihm eigene Fähigkeit zur symbolischen Kommunikation nicht denkbar.

1Phylogenese meint die stammesgeschichtliche Entwicklung der Arten bis hin zur evolutionären Herausbildung der menschlichen Gattung aus dem Tierreich (= Anthropogenese). Im Gegensatz dazu fokussiert die Ontogenese auf die Entwicklung des einzelnen Individuums von seiner Geburt bis zum Tod.

2In seinem 1859 entstandenen Werk über die Entstehung der Arten griff Darwin die Idee von der Abstammung innerhalb der Organismuswelt auf, die schon im 17. Jhdt. bei Leibniz sowie im 18. Jhdt. bei Saint-Hilaire und Lamarck zu finden ist. Die große Leistung Darwins war es jedoch, erstmals eine Theorie der Entstehung der Arten von Lebewesen entwickelt zu haben. „In ihrem Mittelpunkt stand das Zusammenwirken zufällig entstandener erblicher Abweichungen einzelner Individuen und Teilen einer Population (…) und der natürlichen Selektion (Auswahl), die bestimmten Teilen einer (…) Population unter bestimmten Umweltbedingungen eine höhere Chance des Überlebens und einer relativ größeren Zahl von Nachkommen gibt“ (Wezler 1972: 304).

3So scheint es eine hierarchische Ordnung zu geben, nach der „alle höheren Kommunikationsprozesse Eigenheiten und Leistungen der niederen voraussetzen und diese auch übernehmen“ (Merten ebd.).

4Nur um einen Eindruck evolutionärer Zeitdimensionen zu geben: So glaubt man zu wissen, dass die Evolution von einem dem heutigen Spitzenhörnchen ähnlichen Tier bis zum Menschen etwa 75 Millionen Jahre dauerte (Bresch 1977: 264). – Der nun folgende kurze Abstecher in die Paläoanthropologie hält sich im Wesentlichen (wenn nicht anders vermerkt) an Soritsch (1974 und 1975).

5Der für die weitere Evolution so wichtige Übergang vom Wald in die offene Landschaft scheint ein noch nicht ganz erklärbarer Vorgang zu sein: „Einige Autoren meinen, es sei die direkte Folge verringerten Regenfalls gewesen, der die Ausdehnung des tropischen Waldes einengte und einen erhöhten Populationsdruck auslöste. Andere deuten ihn einfach als das Ergebnis des normalen Wettbewerbs im Bereich des Lebendigen, das die Erschließung aller erschließbaren Umwelten begünstigt“ (Soritsch 1975: 15).

6Wohl können Ansätze von Werkzeuglichkeit auch bei Tieren festgestellt werden; „echte“ Werkzeuglichkeit liegt nach Narr (1973) jedoch erst dann vor, wenn die Hinzufügung neuer, nicht vorgegebener Qualitäten hinsichtlich Form und Funktion des jeweiligen Gegenstandes beobachtbar ist – eine Eigenschaft, die schließlich auch mit neuen Erzeugungsweisen (Herstellung von Werkzeugen durch Werkzeuge) einhergeht (vgl. Soritsch 1974: 278).

7Ein evolutionäres Universalium ist für Parsons „jede in sich geordnete Entwicklung oder ‚Erfindung’, die für die weitere Evolution so wichtig ist, dass sie nicht nur an einer Stelle auftritt, sondern dass mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere Systeme unter ganz verschiedenen Bedingungen diese ‚Erfindung’ machen“ (Parsons 1971: 55). Als einen „zusammenhängenden Satz von evolutionären Universalien“ sieht er (beginnend in der frühesten Menschheitsgeschichte) Religion, Kommunikation durch Sprache, soziale Organisation durch Verwandtschaftsordnungen und Technologie (ebd.: 58).

8Habermas nennt (in expliziter Anlehnung an Marx) vier kulturelle Universalien als Ausgangsbedingungen gesellschaftlicher Evolution: Produktion, Verkehrsform, umgangssprachliche Kommunikation und Ideologie (Habermas 1971b: 277 ff.).

9Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive meint Kultur die „Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen einer Gesellschaft, die durch Symbole über Generationen hinweg übermittelt werden, in Werkzeugen und Produkten Gestalt annehmen, in Wertvorstellungen und Ideen bewusst werden“ (Fuchs-Heinritz 2011: 384).

10Die ersten Lebewesen, die einen Übergang vom Tier zum Menschen darstellen (die sogenannten Australopithecinen), traten vor etwas zwei bis vier Millionen Jahren auf. Der Mensch, der anatomisch von uns praktisch ununterscheidbar ist, scheint vor 40- bis 50.000 Jahren das erste Mal registrierbar zu sein (vgl. Soritsch 1975, Campbell 1972, Darlington 1971).

11Bei all diesen Fragen und Überlegungen darf nicht übersehen werden, dass der Biologe Adolf Portmann bereits vor vielen Jahrzehnten feststellte: „Wir haben keinen Grund, etwa den jetzigen Zustand als das Ende der Evolution aufzufassen“ (Portmann 1972: 128).

12Die Anthropologie ist eine disziplinübergreifende Wissenschaft – ausdifferenziert haben sich mittlerweile die formale, historische, ökonomische, philosophische, politische, soziale und strukturale Anthropologie (vgl. ebd. 39–40).

13Der Terminus „artspezifische Umwelt“ geht auf den Biologen Jakob v. Uexküll (1864–1944) zurück, dessen Beschreibung der Umweltbeziehung der Zecke ein (oft zitiertes) Beispiel für die Verdeutlichung des hier Gemeinten gibt: Die Zecke kann ausschließlich Licht und Wärme empfinden sowie den Geruch von Buttersäure wahrnehmen. Das genügt, um auf Bäume oder Sträucher zu klettern und sich auf warmblütige Tiere fallen zu lassen. Dort bohrt sie sich in die Haut, pumpt sich voll Blut, lässt sich wieder zu Boden fallen, legt ihre Eier und stirbt. „Die Lebensweise der Zecke entspricht ihrem organischen Bau. Zwischen Organausstattung, Lebensweise und Umwelt besteht Harmonie; die Wahrnehmungsfähigkeiten entsprechen den ‚Lebensinteressen’ des Tieres, beide sind der biologischen Ausstattung angepasst“ (Uexküll zit. n. Griese 1976: 24).

14Zu solchen Instinktresiduen zählen z. B. beim Säugling angeborene Reflexe wie der Greif-, Such-, Saug- und Augenlidreflex, oder angeborene Verhaltensmuster der Kontaktaufnahme wie Lächeln, Plappern, Weinen etc. (vgl. Griese 1976: 21 f.). Was jedoch fehlt, sind „echte“ Instinkthandlungen, als deren Kennzeichen Angeborensein (auch bei später Reifung), Artspezifität, Starrheit und Zielgerichtetheit, reaktionsspezifische Energie und Taxis (Fixieren mit den Augen) angeführt werden (vgl. dazu Lorenz 1960).

 

15Sogenannte Nestflüchter sind Lebewesen, die bereits ausgereift zur Welt kommen und sich gleich nach ihrer Geburt in ihrer Umgebung zurechtfinden.

16Spätestens seit Rene Spitz und dem von ihm erkannten Hospitalismus (= Bezeichnung für pathologische Folgen eines längeren Aufenthaltes in Krankenhäusern u. ä. Anstalten als Folge mangelnder persönlicher Zuwendung) weiß man um die Bedeutung der sozialen Kontakte zwischen Kind und Erwachsenen. Der mit wenig Sozialkontakt einhergehende Mangel an affektiver Zufuhr (Spitz 1980: 279) führt zu schweren und teils irreversiblen Schädigungen im organisch-biologischen, psychischen, geistigen und sozialen Dasein des Kindes.

17Unter Reifung ist der endogene (genetisch gesteuerte) Anteil der menschlichen Entwicklung (wie z. B. das Anwachsen des Gehirnvolumens) zu verstehen (vgl. Schraml 1972: 91 ff.).

18Zur Sozialisationsthematik vgl. auch Geulen/Veith (2004), Veith (2008), Zimmermann (2000).

19Gemeint ist hier insb. der „Nutzenansatz“, der das Verhalten des Medienrezipienten mit Hilfe des Symbolischen Interaktionismus modelliert (vgl. dazu weiter unten Kap. 6.5).

20Selbstverständlich gibt es keine Gesellschaft, in der sich alle Mitglieder in allen Handlungsbereichen stets rollenkonform verhalten. Gerade die Alltagserfahrung zeigt ja, dass neue soziale Rollen entstehen, sich verändern und auch auflösen können. Es handelt sich hier eben nicht um ein statisches Phänomen, sondern um einen dynamischen Prozess, der sozialen Wandel stets impliziert.

21Siehe dazu auch die drei Prämissen des S.I., die bereits weiter oben (Kap. 2.5) angesprochen wurden.

22Folgerichtig wird Sozialisation im Horizont des S.I. bisweilen auch als „Perspektivenerwerb“ (Helle 1977: 85) bezeichnet.

23Hier schließt Mead an den Psychologen William James (1842–1910) an, der in seinem Konzept des „sozialen Selbst“ das Ergebnis der Anerkennung oder Beurteilung sah, die ein Mensch von Anderen erhält (vgl. Stryker 1976: 258). James bereitete damit bereits jene Sichtweise vor, die das Individuum als in sozialen Beziehungen verwurzelt erkannte. Vgl. dazu auch die Unterscheidung von „personaler“ und „sozialer“ Identität bei Goffman (1977).

24Cooley weist nachdrücklich auf den subjektiven Charakter der Vorstellung von der Beurteilung unserer Erscheinung hin: „Das, was in uns Stolz oder Beschämung auslöst, ist nicht die bloße mechanische Spiegelung unserer selbst, sondern ein unterstelltes Gefühl, die imaginierte Wirkung dieses Spiegelbildes auf das Denken des anderen“ (Cooley, zit. n. Cardwell 1976: 121). Mit diesem Verweis auf das „unterstellte Gefühl“ und die „imaginierte Wirkung“ steht also der individuelle Wertungsprozess seitens des jeweils handelnden (und die Reaktionen des anderen interpretierenden) Individuums im Mittelpunkt.

25Geulen (1977: 115) hat auf den Einfluss Hegels auf Mead’sches Denken hingewiesen (vgl. dazu auch Reck 1963: 24). Hegel nahm ja „ein komplementäres Verhältnis zweier sich erkennender Individuen als ursprünglich an“ (Huch 1974: 24) und verwies damit bereits auf den Umstand, dass sich jedes individuelle Selbstbewusstsein erst auf der Basis wechselseitiger Anerkennung bildet (Huch ebd.).

26Vgl. dazu das illustrative empirische Beispiel über die Vielfältigkeit der Rezeption des österreichischen Boulevardblattes Kronen-Zeitung (Bruck/Stocker 2002).

27Vgl. dazu auch die Erkenntnisse über die Nutzung der Massenmedien (Kap. 6.5).

28Mead erkennt die Existenz von Gesten auch im Tierreich an; er verdeutlicht dies bisweilen am Beispiel von miteinander kämpfenden Hunden (ebd.) sowie anhand der Vokalgesten von Vögeln (ebd.: 101). Mittlerweile scheint nachweisbar zu sein, dass sogenannte Zeigegesten (mit denen auf etwas hingewiesen wird) und insbesondere ikonische Gesten (So tun als ob) im Tierreich nicht vorkommen und einzigartig für den Menschen sind (Tomasello 2020: 158 ff.).

29Mead weist darauf hin, dass der Säugling mit einer überaus großen Sensibilität für mimische Gesten geboren wird. So reagiert das Neugeborene z. B. auf einen Gesichtsausdruck früher als auf die meisten anderen Reize (Mead 1968: 419). Zu ähnlichen Befunden kam später auch Spitz (1980: 69 ff.).

5Massenkommunikation in der internetbasierten Kommunikationsgesellschaft

Im vorigen Kapitel wurde Kommunikation als elementare Bedingung phylogenetischer und ontogenetischer Menschwerdung erkannt. In diesem Abschnitt soll nun auf Basis des weiter oben entwickelten Kommunikationsbegriffes eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit Massenkommunikation erfolgen.

Darf man, soll man – so mögen sich kritische Leser jetzt fragen – im dritten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends mit Blick auf Internet, Social Media und Co. überhaupt noch von Massenkommunikation sprechen? Es war doch bereits im 20.Jahrhundert vom sogenannten „Decline of Mass Media“ (Maisel 1973), also vom „Abstieg der Massenmedien“ und von der Entwicklung hin zur Zielgruppenkommunikation die Rede.

In einer auf die USA bezogenen empirischen Untersuchung überprüfte Richard Maisel (1973) für den Zeitraum von 1950–70 die von zwei Nationalökonomen (Merrill/ Lowenstein 1971) entwickelte „Drei-Stufen-Theorie“ der kommunikativen Differenzierung. Danach ist eine Gesellschaft je nach ihrem Entwicklungsstand durch Elitemedien, populäre Medien (= Massenmedien) und Spezialmedien gekennzeichnet. Für die Existenz von Spezialmedien müssen hoher Bildungsstandard, Wohlstand, frei verfügbare Zeit sowie eine ausreichende Bevölkerungsgröße vorhanden sein. „Spezialisierung aller gesellschaftlichen Bereiche in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften zieht auch eine Spezialisierung von Bedürfnissen und Geschmacksrichtungen nach sich, eben auch und gerade in den für diese Gesellschaften ungemein wichtigen Bereichen Kommunikation und Information. Spezialisierung der Medien kann dabei per Medien-Einheit (Beispiel: die Hörfunkentwicklung in den USA zu E-Musik- sowie Pop-Stationen) oder innerhalb der Medien (Beispiel: Zielgruppenprogramme beim Fernsehen) erfolgen“ (Kiefer 1982: 14); „vom broadcasting zum narrowcasting” sozusagen (Schulz 2011: 131). Die von Kiefer (1982) vorgelegte Trendanalyse (die Mediennutzungsdaten seit 1964 verwendete) deutete damals schon darauf hin, dass sich dieser Trend auch in Deutschland auszubreiten begann.

Diese Entwicklung hat sich mittlerweile vollzogen.1 Man könnte also argumentieren, Zielgruppenkommunikation wäre der angemessene Nachfolge-Terminus für Massenkommunikation, letzterer sollte daher aus der Fachsprache eliminiert werden.

Ich halte das allerdings für wenig sinnvoll. Abgesehen davon, dass die Bezeichnung Massenkommunikation bis in die Alltagssprache hinein gebräuchlich ist und wohl nur schwer durch ein anderes Wort ersetzt werden kann, gibt es weitaus gewichtigere inhaltliche Gründe, die dagegen sprechen, den Terminus Massenkommunikation auf die begriffliche Müllhalde zu verbannen. Die beiden Wortbestandteile verweisen nämlich auf strukturelle Grundmuster eines Prozesses, der keineswegs als überholt zu begreifen ist – wenn man ihn nur angemessen interpretiert. Auf dieser Grundlage sowie unter Bezugnahme auf aktuelle empirische Daten lässt sich nämlich begründet vermuten, dass das, was Massenkommunikation im Kern meint, entgegen manch vorschneller (Fehl-)Diagnosen wohl noch lange nicht verschwinden wird.

Doch der Reihe nach: Zunächst muss es darum gehen, den „klassischen“ Begriff der Massenkommunikation überhaupt zu verstehen, der für die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts so charakteristisch war, wie kaum ein anderer.

5.1 Massenkommunikation: Zur Klärung eines Begriffes

Der angloamerikanische Terminus mass communication taucht erstmals Ende der 1920er Jahre in den USA auf.2 Mit mass communication war übrigens seinerzeit immer ausdrücklich der Rundfunk gemeint, „weil Rundfunk als Instrument individueller drahtloser Kommunikation im Schiffsverkehr, in der Wirtschaft und beim Militär eingeführt wurde. Aus der Radiotelegraphie wurde dann ‚broadcasting’“ (Vowe 2013: 18). Weitere Bekanntheit erlangte der Begriff sodann ein Jahrzehnt später, als in den Jahren 1939/40 einschlägig interessierte Wissenschaftler zu regelmäßigen Sitzungen des sogenannten „Rockefeller Communication Seminar“ in New York zusammenkamen: Im monatlichen „Letter of Invitation“ war stets von mass communication die Rede (Rogers 1994: 222).

Rühl (2008: 173) vermutet also zu Recht, dass man „den Terminus mass communication ohne Beziehungen zu einem vorab konsentierten Kommunikationsverständnis“ eingeführt hat. Er ist daher als ein ursprünglich theoretisch völlig unbedarfter Begriff einzustufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Wortkombination dann „in zahlreiche Sprachen übersetzt“ (ebd.). Der Terminus Massenkommunikation ist somit die mehr oder weniger unreflektierte Eindeutschung des angloamerikanischen mass communication. Von seiner Etymologie her schleppt der Begriff deshalb nichts von dem abendländischen Ballast mit, den die beiden Wortbestandteile in den Sprachräumen des europäischen Kontinents implizieren. Genau darin liegt jedoch eine nicht unwesentliche Ursache für Missverständnisse, die diese Bezeichnung bisweilen auszulösen imstande war und ist.

Die Masse im Begriff Massenkommunikation

So hatte der Wortbestandteil Masse seinerzeit die Vorstellung wachgerufen, man könne die Rezipient·innen massenmedial verbreiteter Aussagen mit einer Masse gleichsetzen, wie sie etwa der französische Arzt Gustave Le Bon (1895) kulturpessimistisch-pejorativ als soziales Aggregat beschrieben hat, das sich auf niedrigem intellektuellem Niveau nach einem (Ver-)Führer sehnt. Man assoziierte kulturkritische Begriffe wie „Massenmensch“, „Vermassung“ oder „Massengesellschaft“, die von den Apologeten der späteren Massenpsychologie in der Nachfolge Ortega y Gassets (1930) vertreten wurden. Auch in den USA hatte Ende der 1920er Jahre übrigens der Begriff mass society Konjunktur: Mit dieser Massengesellschaft verband man die „oft unbesehen übernommene Behauptung, mit fortschreitender Industrialisierung weise die große Majorität der Menschen – der dann eine kleine ‚Elite’ gegenübersteht – bestimmte Veränderungen auf, die schließlich zum ‚Massenmenschen’ im ‚Massenzeitalter’ führen“ (Maletzke 1963: 25).

Der semantische Kern dieser Massengesellschaft war die Vorstellung einer Gleichförmigkeit der Menschen in ihren Wahrnehmungen, Einstellungen, Motiven und Verhaltensweisen (Vowe 2013: 20 ff.). Als charakteristisch für diesen Massenmenschen galten seine Persönlichkeitsverarmung, die Nivellierung seiner Denkweise, seines Geschmacks und Lebensstils sowie das Schwinden von persönlicher Selbständigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Initiative. All dies hätte letztlich zu einer Massengesellschaft geführt, in der die – durch massenmedial verbreitete Propaganda bzw. Werbung gesteuerte – öffentliche Meinung das Denken und Handeln des Einzelnen bestimmt (Maletzke 1963: 26). Obwohl die „Massenpsychologie wissenschaftlich bereits abgewirtschaftet hatte“ (Rühl 2008: 174), wirkte die Idee von der Massengesellschaft jahrzehntelang in die (Massen-)Kommunikationswissenschaft hinein (Vowe 2013: 23). Vowe sieht die bis heute anzutreffende „Vorstellung von universalen, linearen, starken Wirkungen medialer Impulse“ (ebd.) diesem Massenparadigma geschuldet.

Der Wortbestandteil Masse im Terminus Massenkommunikation will allerdings weder massenpsychologische noch kulturkritische Assoziationen wecken. Gemeint war (und ist) damit lediglich, dass man sich mit den zu vermittelnden Aussagen an eine Vielzahl von Menschen richten kann (Schulz 1971: 93), die sich für die jeweiligen Kommunikator·innen – wie es Wright (1963: 11 ff.) seinerzeit auf den Punkt brachte – als unüberschaubar, heterogen und anonym darstellt:

 

Unüberschaubar, weil sie zahlenmäßig über eine Größe verfügt, die eine direkte Interaktion (von Angesicht zu Angesicht) zwischen Kommunikator·innen und Rezipient·innen unmöglich macht,

heterogen, weil diese Menschen eine Vielzahl sozialer Positionen bekleiden und den Aussagen daher aus verschiedenen Rollen heraus (d. h. mit unterschiedlichen Erwartungen) Aufmerksamkeit schenken. Und schließlich

anonym, weil die konkreten Personen, die sich den Aussagen zuwenden, den jeweiligen Kommunikator·innen unbekannt sind.

Hat man also die Gesamtheit jener Menschen im Auge, die man via Massenkommunikation erreicht, so scheint es in der Tat angemessener zu sein, anstatt von „Masse“ hier (mit Gerhard Maletzke 1963: 28 f.) von einem Publikum zu sprechen. Dabei denkt man zunächst wahrscheinlich an ein Präsenzpublikum: Es entsteht, wenn Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort anwesend (präsent) sind und eine Aussage oder Darbietung auf sich einwirken lassen (wie z. B. ein Theaterstück, einen Vortrag, ein Konzert, eine Kundgebung etc.). Maletzke führte deshalb den Terminus disperses Publikum ein und fokussiert damit auf Individuen, aber auch kleine Gruppen, deren verbindendes Charakteristikum v. a. darin besteht, dass sie sich Aussagen der Massenmedien zuwenden.

Disperse Publika sind keine überdauernden, sondern flüchtige soziale Gebilde, sie entstehen immer nur „von Fall zu Fall dadurch, dass sich eine Anzahl von Menschen einer Aussage der Massenkommunikation zuwendet“ (Maletzke 1963: 28). Zwischen den Mitgliedern eines derartigen dispersen Publikums existieren in der Regel keine direkten zwischenmenschlichen Beziehungen, denn üblicherweise sind die Rezipient·innen (oder Rezipient·innen-Gruppen) räumlich voneinander getrennt, gegenseitig anonym und wissen lediglich, dass außer ihnen noch zahlreiche andere Menschen dieselbe Aussage aufnehmen (ebd.: 29).

Schließlich sind disperse Publika noch vielschichtig inhomogen, d. h., sie umfassen Personen, die aus verschiedenen sozialen Schichten stammen, deren Interessen, Einstellungen, deren Lebens- und Erlebensweise oft sehr weit voneinander abweichen, überdies sind sie unstrukturiert und unorganisiert: Ein disperses Publikum „weist keine Rollenspezialisierung auf und hat keine Sitte und Tradition, keine Verhaltensregeln und Riten und keine Institutionen“ (Maletzke ebd.: 30). Damit ist klargestellt: Der Wortbestandteil „Masse“ im Terminus Massenkommunikation ist im Sinn des dispersen Publikums zu verstehen.

Kommunikation kann allerdings nicht ohne ein Medium stattfinden – dies wurde bereits weiter oben (Kap. 2.4) herausgearbeitet. Daher gilt hier, dass ein Massenmedium nötig ist, damit Massenkommunikation stattfinden kann. Der Soziologe Alphons Silbermann hat Massenmedien seinerzeit treffend als „Techniken der Kollektivverbreitung“ (1969: 673) bezeichnet, die Aussagen via Schrift, Bild und/oder Ton, optisch bzw. akustisch (audiovisuell) an eine unbestimmte Vielzahl von Menschen vermitteln (ähnlich bereits: Maletzke 1963: 36). Zu diesen Massenmedien zählen: Flugblatt/Flyer, Plakat, Presse, Buch, Hörfunk, Fernsehen, Film, heute auch Websites sowie potenziell alle Speichertechniken analoger (Bild, Tonband/Musik-/ Videokassette, Schallplatte) oder digitaler (CD/DVD, Festplatten/Speicherkarten) Natur. Potenziell meint: Sie sind nur dann als Massenmedien zu begreifen, wenn sie – und das ist der entscheidende Punkt(!) – zur öffentlichen Verbreitung von Aussagen eingesetzt werden. Denn nach wie vor gilt das, was bereits oben (Kap. 2.4) – im Kontext des publizistischen Medienbegriffes (nach Ulrich Saxer) – festgestellt worden ist: Man greift zu kurz, wenn man allein die Technizität des Mediums als ausreichendes Definiens für das Definiendum Massenmedium begreift.

So ist ein als Privatdruck (d. h. für einen genau definierten Empfänger·innenkreis) produziertes Buch ebenso wenig ein Massenmedium, wie eine gedruckte Einladung, die im Verwandten- und Freundeskreis versendet wird. Auch die Hörfunk- und Fernsehtechnik kann man für vielerlei Zwecke einsetzen: etwa für den Küstenfunk, in der Militärüberwachung, zur Beobachtung des Straßenverkehrs, zur Überwachung von Kaufhausabteilungen oder auch zu Lehrzwecken – aber in all diesen Fällen fungieren diese Medien nicht als Massenmedien, weil die Aussagen (bzw. Inhalte) nicht öffentlich, an eine unbegrenzte Vielzahl von Menschen, sondern privat an einen relativ eindeutig definierbaren Empfänger·innenkreis vermittelt werden.

Anlass zu ähnlichen Unklarheiten im Begriff Massenkommunikation gibt freilich auch der Wortbestandteil Kommunikation. Hier ist v. a. danach zu fragen, ob (und wenn ja: inwieweit) der im Rahmen dieses Buches entwickelte Kommunikationsbegriff mit dem begrifflichen Inhalt von Massenkommunikation in Einklang gebracht werden kann.

Kommunikation im Begriff Massenkommunikation

So wie die ursprüngliche Form der interpersonalen Kommunikation eine unmittelbare, direkte (face-to-face) Begegnung zwischen den Kommunikationspartner·innen darstellt, so ist im typischen Modus der Massenkommunikation eine räumliche Distanz (z. B. bei Live-Übertragungen), in der Regel sogar eine raum-zeitliche Trennung zwischen Kommunikator(en) und Rezipienten vorhanden: das Plakat, der Flyer, das Buch, die Zeitung, die Hörfunk- oder Fernsehsendung, der Film oder auch ein Web-Auftritt werden in der Regel an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit rezipiert, als sie produziert worden sind. In seiner „klassischen“ Begriffsbestimmung typisiert Maletzke (1963: 21 f.) die Massenkommunikation daher als indirekte Kommunikation.

Außerdem hat man es in der Massenkommunikation üblicherweise mit einer Polarisierung der kommunikativen Rollen zu tun: Es fehlt der für die direkte zwischenmenschliche Begegnung so typische, gegenseitige Rollentausch zwischen den Kommunikationspartner·innen, eine unmittelbare Rückkoppelung zwischen Kommunikator·innen und Rezipient·innen ist demnach nicht gegeben. Seit Maletzke (ebd.) gilt Massenkommunikation daher auch als einseitige Kommunikation.

Fraglos ist dieses Merkmal der Einseitigkeit in vielen Fällen, in denen Massenkommunikation heute längst via Internet und damit computervermittelt stattfindet, „durchbrochen“, es trifft „nicht mehr uneingeschränkt zu“ wie Heinz Pürer (2014: 78) zu Recht konstatiert: Von Leser·innen (User·innen) gepostete Kommentare auf online publizierte journalistische Artikel sind zweifelsfrei (indirekte) Rückkoppelungen zwischen Kommunikator·innen und Rezipient·innen, die den traditionellen Leserbrief (Heupel 2007, Mlitz 2008) oder auch die Möglichkeit, sich in Phone-In-Sendungen zu Wort zu melden (Wulff 1998), ziemlich alt aussehen lassen. Onlinemedien können zudem ihr digitales Angebot jederzeit aktualisieren, allenfalls auf E-Mails, Posts, Tweets u. Ä. reagieren etc. (Pürer 2014: 280 ff.).3

Dennoch: Aller Dialog- und Interaktivitätseuphorie4 zum Trotz verbleiben die tatsächlichen Aktivitäten im „Mitmachnetz“ bislang auf „niedrigem Niveau“ (Busemann/Gscheidle 2011). Die herkömmliche einseitige Massenkommunikation hat zwar durch Social Media und Co. längst ihr Alleinstellungsmerkmal verloren, aber von einer Abwendung des Publikums kann keine Rede sein. Zwar sehen junge Menschen seit 2015 tendenziell weniger fern, aber die (einseitige) Bewegtbildnutzung nimmt zu (bedingt durch Streamingangebote) und auch mit linearem Fernsehen verbringen die 14- bis 29-Jähringen noch fast eine ganze Stunde täglich (Breunig/Handel/Kessler 2020: 419). Man kann also auch im dritten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends noch davon ausgehen, dass die einseitige Massenkommunikation kein Schattendasein führt.

Schließlich ist noch der Personenkreis, an den die Aussagen gerichtet sind, weder eindeutig festgelegt noch (quantitativ) begrenzt. Im Gegensatz zu privater Kommunikation, die sich an einen relativ eindeutig definierbaren Empfänger·innenkreis richtet, handelt es sich bei Massenkommunikation grundsätzlich um öffentliche Kommunikation, denn die Kommunikator·innen wissen nicht, wie viele Menschen sie mit ihren Botschaften tatsächlich erreichen (Pfetsch/Bossert 2013: 248). Diese „prinzipielle Unabgeschlossenheit des Publikums“ (Habermas 1990: 98) ist typisch für die Massenkommunikation.