Kommunikationswissenschaft

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1Eine systematische Auflistung nichtsprachlicher Momente von Kommunikation gibt Graumann (1972: 1219 ff.). Er zählt zum Bereich außersprachlicher Medien neben den körperbezogenen Ausdrucksmitteln auch Kommunikationsräume (wie die Landschaft, das Klima, die Stadt, das Gebäude) und Kommunikationsobjekte (etwa alltägliche Gegenstände wie einen Tisch, Blumen, ein Streichholz usw.). Alles, was uns umgibt, kann als Medium auftreten und damit Bedeutungen vermitteln. – Als ein Standardwerk zur nonverbalen Kommunikation gilt: Argyle (2013), vgl. aber auch: Röhner/Schütz (2012: 57 ff.).

2Merten (1977: 122 ff.) zeigt anhand vieler Befunde auf, dass sich die verbale Kommunikation aus der nonverbalen Kommunikation entwickelt haben muss, wobei diese durch die verbale Kommunikation allerdings „nicht abgelöst, sondern nur ergänzt worden ist“ (ebd.: 82).

3Es soll nicht übersehen werden, dass Sprache auch andere Funktionen als die des Mitteilens erfüllen kann. So lässt sich dieser dialogischen z. B. eine monologische Sprachfunktion (ebd.: 185, Pelz 2013: 29) gegenüberstellen: Gemeint ist die Leistung der Sprache als Denkhilfe oder auch als Möglichkeit, eigene Gefühle vor sich selbst manifest werden zu lassen (= emotionell-expressive Leistung). Zu denken ist z. B. an einen spontanen „Au-Schrei“ oder an einen im Affekt geäußerten Fluch. Erwähnt sei außerdem die phatische Sprachfunktion: Sie besteht im bloßen Kontakthalten oder auch im „Herstellen, Verlängern oder Unterbrechen eines sprachlichen Kontakts“ (Pelz ebd.). Sie ist z. B. als small talk auf Partys und in vielen Alltagssituationen beobachtbar, wenn „Geräusch um des Geräusches willen“ gemacht wird – in Äußerungen wie: „Schöner Tag heute“, „Na, auch mal wieder in der Stadt?“ etc. Hier geht es also weniger um mitzuteilende Inhalte, vielmehr um die Kontaktfunktion von Sprache: um das Herstellen oder Aufrechterhalten von Gemeinsamkeit oder auch um „das Vermeiden von Schweigen“ (ebd.: 30).

4Zur Semiotik vgl. u. a.: Bentele/Bystrina 1978, Eco 2002, Glück/Rödel 2016: 609 ff., Pelz 2013: 39 ff.

5Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang freilich das von Karl Bühler (1934) noch früher entwickelte „Organon-Modell“ der Sprache, das auch bereits neben der Darstellungs- bzw. Symbolfunktion eine (auf den Sender bezogene) Ausdrucks- bzw. Symptomfunktion und eine (auf den Empfänger bezogene) Appell- bzw. Signalfunktion unterscheidet (vgl. oben: Kap. 2.5).

6Die Lehre vom sprachlichen Handeln – daher oft auch: Sprechhandlungstheorie – entwickelte Austin in seinen berühmten Vorlesungen an der Harvard University im Jahre 1955, die erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden (in deutscher Übersetzung: Austin 1972). Eine knappe Einführung in sprechakttheoretisches Denken bzw. eine Darstellung der verschiedenen Sprechhandlungstypen geben Hennig/Huth (1975: 112–129). Als wichtige Vertreter der Sprechakttheorie sind v. a. John Searle (1971), ein Schüler Austins, und Dieter Wunderlich (1976) zu nennen.

7Als „Gegenstände“ werden hier sowohl Dinge, Ereignisse, Zustände, Personen, als auch Äußerungen oder Zustände von Personen verstanden (vgl. Habermas ebd.).

8Zum Zeichenbegriff siehe Kap. 2.5.

9Zum Symbolischen Interaktionismus vgl. ausführlich weiter oben (Kap. 2.5) die Überlegungen anlässlich der Klärung des Symbolbegriffes sowie dessen breitere Darstellung als Sozialisationskonzept weiter unten (Kap. 4.2.3).

10Ein Gedanke, den übrigens auch der deutsche Philosoph Ernst Cassirer umfassend in seiner zwischen 1923 und 1929 publizierten (dreibändigen) „Philosophie der symbolischen Formen“ entwickelt hatte. „Ein Schlüssel zum Wesen des Menschen“ – so Cassirer (1996: 47) – ist „das Symbol“.

11„Sprachliche Selbstreflexivität“ ist ein drittes Postulat von Korzybski – darauf wird weiter unten (Kap. 3.3.4) näher eingegangen.

12Der belgische Maler René Magritte (1898–1967) hat mit dem perfekt gemalten Bild einer Pfeife und dem darunter geschriebenen Text („Ceci n’est pas une pipe“) dieses Postulat kunstvoll in Szene gesetzt (vgl. dazu auch Foucault 1997).

13Ethnolinguistik ist eine Richtung der Sprachwissenschaft, die Zusammenhänge zwischen Sprache und soziokulturellen Gegebenheiten untersucht.

14Die erste explizit sprachtheoretische Formulierung dieser These stammt von Wilhelm von Humboldt, eine Weiterentwicklung leistete Leo Weisgerber mit seiner Lehre von den „sprachlichen Weltbildern“; der Gedanke selbst lässt sich bis ins 15. Jh. zurückverfolgen (vgl. Roth 2004).

15An dieser Stelle scheint das Quasi-Bonmot des Sprachwissenschaftlers Leo Weisgerber erwähnenswert: „Ob in einem Land Unkraut wächst, hängt von der Sprache seiner Bewohner ab“ (zit. n. Pelz 2013: 37).

16Die Sapir-Whorf-Hypothese ist nicht unbestritten, nach Pelz (2013: 37) v. a. mit Blick auf einen sprachlichen Determinismus, dem sie in der 1970er Jahren noch zugerechnet wurde. Neuere Auffassungen reden eher von einem Wechselverhältnis zwischen Sprache und Denken (Glück/Rödel 2016: 582), diese Position wird auch hier vertreten.

17Mit der sprachlichen Selbstreflexivität ist zugleich das dritte (und letzte) semantische Grundpostulat nach Korzybski angesprochen; zu den ersten beiden Grundprinzipien vgl. weiter oben Kap. 3.3.2.

18Ähnliches gilt ja auch für das Erlernen einer Fremdsprache.

19Wörter wie Baum, Haus, Hund (u. Ä.) verweisen auf Begriffe, die sinnlich wahrnehmbar (erfahrbar) sind, also über einen direkten empirischen Bezug verfügen. Begriffe mit indirektem empirischem Bezug (wie sie z. B. in Wörtern wie Verständigung, Interaktion, Intentionalität, Gesellschaft, Integration u. Ä. zum Ausdruck kommen), verweisen dagegen auf Phänomene, deren unmittelbare sinnliche Wahrnehmbarkeit gar nicht gegeben ist. „Aber es gibt Phänomene, die anzeigen (indizieren), dass der gemeinte Vorstellungsinhalt eine reale Basis hat“ (Prim/Tilmann 1997: 35). Über derartige „Indikatoren“ kann man sie operationalisieren, d. h. messbar machen (vgl. ebd.: 45 ff.).

20Nach Opp (2014: 124 f.) sind solche Wesensbestimmungen ohnehin oft als Nominaldefinitionen zu klassifizieren (weil sie Vorschläge machen, wie ein bestimmtes Wort zu verwenden ist).

4Kommunikation und menschliche Existenz

In diesem Abschnitt steht die Frage nach der Bedeutung von Kommunikation für den Menschen im Mittelpunkt. Dabei wird von der Behauptung ausgegangen, dass Kommunikation (insbes. in ihrer soeben dargestellten verbalen Variante) als eine Grundbedingung menschlichen Daseins schlechthin zu betrachten ist. „Arbeit und Sprache sind älter als Mensch und Gesellschaft“ heißt es dazu bei Habermas (1976a: 151). Es dürften sich „in den Strukturen von Arbeit und Sprache erst die Entwicklungen vollzogen haben, die zur spezifisch menschlichen Reproduktionsform des Lebens und damit zum Ausgangszustand der sozialen Evolution geführt haben“ (ebd.). Was für die (stammesgeschichtliche) Evolution gilt, scheint auch für die Sozialisation des Individuums zu gelten: „Sowohl unter phylogenetischem als auch ontogenetischem Aspekt ist die Existenz des Menschen ohne seine eben spezifisch-menschliche Kommunikationsfähigkeit nicht zu denken“ (Vogt 1979: 68).1 Um dies nachvollziehen zu können, muss man sich den Prozess der Menschwerdung also aus zweierlei Perspektiven vor Augen führen:


Abb. 13: Phylo- und ontogenetische Menschwerdung (eigene Darstellung)

Zunächst sind Hinweise auf den fundamentalen Stellenwert der Kommunikation im Verlauf der Anthropogenese zu geben. Neben dieser evolutionstheoretischen Dimension ist aber auch aus der sozialisationstheoretischen Perspektive von Kommunikation einsehbar zu machen, was Kommunikation für den Prozess der Persönlichkeitsgenese leistet.

Der Angelpunkt der Betrachtungen soll in beiden Fällen jene humanspezifische Kommunikationsfähigkeit sein, die v. a. auf der Möglichkeit zur Bildung und Verwendung von Symbolen beruht: Die Tatsache, dass der Mensch Zeichen (als Vermittler von Bedeutung) nicht nur bewusst und zielgerichtet generieren, sondern auch in ihrer Repräsentationsfunktion verwenden kann, ist ja weiter oben bereits als Voraussetzung für die spezifisch menschliche Qualität von Kommunikation erkannt worden, die als symbolisch vermittelte Interaktion definiert und diskutiert wurde.

Ihre besondere Ausprägung findet diese symbolisch vermittelte Interaktion schließlich in ihrer (im Kap. 3 ausführlich diskutierten) Sprachlichkeit: Hier ist es nicht nur die (mit der Repräsentationsfunktion eng zusammenhängende) Bezeichnungsleistung der menschlichen Sprache, sondern auch die (im Kontext sprachlicher Selbstreflexivität gegebene) Möglichkeit zur Metasprache und Metakommunikation, welche menschliche Kommunikationsprozesse von animalischen Kommunikationsereignissen grundsätzlich unterscheidbar machen.

4.1 Kommunikation – eine anthropologische Grundkonstante

Evolution gilt ganz allgemein als der Prozess „allmählich fortschreitende(r) Veränderungen in Struktur und Verhalten der Lebewesen, so dass die Nachfahren andersartig als die Vorfahren werden“ (Rammstedt 1973: 187). Seit im 19. Jhdt. der Engländer Charles Darwin den Gedanken formulierte, dass der Mensch wie alle anderen Lebewesen auch das Produkt eines evolutionären Entwicklungsprozesses ist, war die (Wechsel-)Beziehung zwischen Artentstehung (bzw. Entstehung artspezifischer Fähigkeiten) und Umweltdruck in den Vordergrund getreten:2 Als Grundlage zumindest der biologischen (Weiter-)Entwicklung der Lebewesen waren nunmehr Veränderungen durch Umweltbedingungen erkannt worden (Schraml 1972: 88). Nur diejenigen Lebewesen, die sich an die jeweils vorhandenen Umweltbedingungen am besten anpassen konnten, überlebten und pflanzten sich schließlich auch fort. Die natürliche Selektion stellte sich damit als ein auf Anpassung (des jeweiligen Organismus an seine Umwelt) hin gerichteter Prozess (Wezler 1972: 304) heraus, der zur Bildung neuer Fähigkeiten oder Fertigkeiten der jeweiligen Spezies führte, um deren Überleben zu gewährleisten.

 

Auf der Basis dieser Einsicht wird nunmehr die Frage nach dem Stellenwert der spezifisch menschlichen Kommunikationsfähigkeit im Verlauf der Anthropogenese zur Frage nach deren arterhaltender Funktion: Es ist also nach jenen Selektionsfaktoren zu suchen, die bei vor- und frühmenschlichen Lebewesen zur Ausbildung ebendieser Fähigkeit geführt haben müssen (vgl. dazu Soritsch 1975). In Entsprechung zu einer infolge von Umweltdruck vorangetriebenen differenzierten Entwicklung der Organismen lässt sich ja „die Entwicklung verschiedener Prozesstypen [von Kommunikation – R.B.] entlang einer evolutionären Zeitachse“ (Merten 1977: 92)3 verfolgen – dennoch: „So großartig und vielfältig die in der Natur vorhandenen Kommunikationssysteme auch sind, begriffliches Denken und verbale Kommunikation, Wissensakkumulation in einer Sprache hat im Verlauf der Evolution nur eine einzige Spezies entwickelt, nämlich der Mensch“ (Soritsch 1975: 13).

Worin bestanden nun jene Umweltbedingungen, aufgrund derer es zur Ausbildung von begrifflichem Denken und Sprache kam? Was waren die Umstände, welche die Entwicklung ebendieser besonderen kommunikativen Fähigkeit (über-) lebensnotwendig machten?

Zur Beantwortung dieser Frage muss man entlang der „evolutionären Zeitachse“ etwa 20 Millionen Jahre zurückgehen, als sich irgendwo auf der Welt die biologische Entwicklung der Affen aufspaltete (Darlington 1971: 16) und eine neue Entwicklungslinie entstand: die der Hominiden, der Menschenartigen.4 Diese hatten (vermutlich infolge des Zurückweichens der Urwälder und der Ausbreitung der Steppen) die Bäume des Waldes verlassen und bevölkerten nunmehr die offene Landschaft.5 Forderte der durch diesen Umweltdruck erzwungene Nahrungswechsel – anstatt nach pflanzlicher musste nunmehr nach tierischer Kost Ausschau gehalten werden – den aufrechten Gang (bipede Fortbewegung) sowie stereoskopisches Sehen (zur besseren Abstandsschätzung) heraus, so regten die allmählich entwickelten Jagdtechniken ihrerseits wieder die geistige Aktivität und damit die Vergrößerung des Gehirns an, was schließlich – begünstigt durch die infolge der aufrechten Körperhaltung für andere Tätigkeiten frei gewordenen Hände – zur Ausbildung echter Werkzeuglichkeit6 führte. Diese nachgewiesene Werkzeuglichkeit der Hominiden ist jedoch bereits eng an begriffliches Denken, an die Fähigkeit zur Abstraktion gebunden: Erst wenn situationsgebundene Leistungen von ihren zufälligen Begleitumständen abgrenzbar sind, werden konstant hervorgerufene Wirkungen (z. B. eines Werkzeuges) erkennbar. Nicht zuletzt die Notwendigkeit zur Tradition der Produktions- und Verwendungsweise derartiger Geräte mag schließlich auch die Ausbildung jener Kommunikationsfähigkeit forciert haben, die in der Sprache ihre angemessene Entsprechung erfuhr: Denn Sprache abstrahiert stets vom unmittelbaren Konkreten, ein „Wort hält […] in seiner Bedeutung stets das Allgemeine der Dinge und Erscheinungen fest […]. Es ist folglich auch eine Eigenart des Denkens, dass es sich dieser [sprachlichen – R. B.] Zeichen als Instrumente bedient“ (Schaff 1968c: 100).

Sprache: Resultat von und Voraussetzung für Evolution

Kann der bisher angedeutete evolutionäre Entwicklungsprozess noch überwiegend als eine Reaktion auf Umweltdruck interpretiert werden, so darf spätestens seit der Ausbildung der Sprache „jenes ihm immer schon innewohnende Potential an Eigendynamik nicht übersehen werden, das sich in einer stetig zunehmenden Umweltveränderung durch gezielt-aktive Anpassungsleistungen der Hominiden (und noch mehr: des Menschen!) äußerte und äußert“ (Vogt 1979: 70). Im Hinblick auf die hier im Mittelpunkt stehende Kommunikationsfähigkeit bedeutet dies, dass Sprache – bisher vornehmlich als Resultat biologischer Evolution angesehen – nunmehr als Voraussetzung für wesentliche Markierungen der mit ihr einsetzenden soziokulturellen Evolution betrachtet werden muss: „Sprache allein ermöglichte Abstraktionsniveaus, die zur Entwicklung der materiellen Kultur und der menschlichen Gesellschaft notwendig waren“ (Campbell 1972, zit. n. Soritsch 1974: 278).

Und man kann mit Talcott Parsons (der den Biologen Alfred Emerson zitiert) ergänzen: „Innerhalb der menschlichen Anpassungswelt ist das ‚Gen’ weitgehend durch das ‚Symbol’ ersetzt worden. Deshalb bestimmt nicht allein die genetische Konstitution der Spezies Mensch die ‚Bedürfnisse’ gegenüber der Umwelt, sondern diese Konstitution plus der kulturellen Evolution“ (Parsons 1971: 57). So wie Parsons in der Sprache eine der Grundvoraussetzungen der Evolution von Kultur und Gesellschaft (eine seiner evolutionären Universalien)7 sieht, so benennt auch Habermas (1971b) umgangssprachliche Kommunikation als eine der Eingangsbedingungen für gesellschaftliche Evolution.8

Kooperative Arbeit: Motor der Sprachevolution

Nun sind aber jene abstrakten (durch Sprache möglich gewordenen) Bewusstseinsleistungen, welche die soziale Evolution erst initiierten, nur dann angemessen zu begreifen, wenn man (mit Vogt 1979: 71) erkennt, dass sowohl Werkzeuglichkeit als auch Sprache ihren Ursprung in der gesellschaftlichen Organisation menschlicher Arbeit besitzen (vgl. auch: Rossi-Landi 1972). Gesellschaftlich organisierte Arbeit gilt als „die spezifische Weise, in der Menschen im Unterschied zu Tieren ihr Leben reproduzieren“ (Habermas 1976a: 145). Sie tritt bei den Frühmenschen in der für sie charakteristischen Ausprägung der kooperativen Jagd (ebd.: 149) auf und war für die Ausdifferenzierung interpersonaler Kommunikation ein außerordentlich fruchtbarer Boden. „Es ist klar: Je besser eine jagende Männergruppe sich über den Stand eines Tieres beim Umzingeln und beim Angriff verständigen konnte, je mehr Einzelheiten sich die Mitglieder einer solchen Gruppe mitteilen konnten, desto erfolgreicher musste sie sein, desto größer war die Überlebenschance einer Horde. Dasselbe gilt für die Techniken, die zur Jagd entwickelt wurden und die an die Nachkommenschaft mitgeteilt werden mussten. Das an die Jagd anschließende Verteilen der Beute, das die ersten Fähigkeiten zur Quantifizierung entwickelt haben dürfte, hatte eine überaus wichtige Bedeutung für die Denk- und Sprachentwicklung“ (Soritsch 1975: 17). Mittlerweile ist bekannt, dass „menschliche Kommunikation in einer Weise kooperativ strukturiert ist, wie das bei anderen Primaten nicht der Fall ist“ (Tomasello 2011: 18). Diese kooperative Kommunikation entstand irgendwann im Verlauf der Evolution „als ein Mittel, diese Aktivitäten der Zusammenarbeit effizienter zu koordinieren“ (ebd.: 19).

Erforderte das Verteilen der Beute „Interaktionsregeln, die auf dem Niveau sprachlicher Verständigung intersubjektiv als anerkannte Normen oder Regeln kommunikativen Handelns von einzelnen Situationen abgelöst und auf Dauer gestellt werden können“ (Habermas 1976: 146), so war bereits im Zuge des kooperativen Jagens eine Rollendifferenzierung notwendig geworden, die eine Sprengung jener eindimensionalen Rangordnung notwendig machte, in der jedem Tier nur ein einziger

Status zukommt: Ein und dasselbe Individuum musste ja in verschiedenen Situationen (der Jagd) einen unterschiedlichen Status einnehmen können. „Zusätzlich dürfte schließlich aus der Existenz zweier sozialer Teilsysteme (egalitäre Jagdhorden der Männer und sammelnde Gruppen der Frauen und Kinder) ein Integrationsbedarf entstanden sein, der erst durch die Ausprägung der Vaterrolle befriedigt werden konnte: Dies bedeutete aber die Ersetzung des tierischen Statussystems durch ein System sozialer Normen, das Sprache voraussetzt“ (Vogt 1979: 71).

Darauf verweist auch Habermas, für den drei Bedingungen erfüllt sein müssen, bevor ein System sozialer Normen überhaupt entstehen kann:

Die Interaktionspartner müssen (1) die Teilnehmerperspektive gegen die Beobachterperspektive austauschen können, (2) über einen Zeithorizont verfügen und sie müssen (3) in der Lage sein, die Existenz von Sanktionsmechanismen anzuerkennen.

„Aus verschiedenen Gründen können diese drei Bedingungen nicht erfüllt werden, bevor nicht Sprache voll ausgebildet ist. Wir dürfen annehmen, dass sich in den Strukturen von Arbeit und Sprache erst die Entwicklungen vollzogen haben, die zur spezifisch menschlichen Reproduktionsform des Lebens und damit zum Ausgangszustand der sozialen Evolution geführt haben. Arbeit und Sprache sind älter als Mensch und Gesellschaft“ (Habermas 1976a: 151).

Die Ausbildung von Sprache – und damit der Erwerb der Fähigkeit zu symbolisch vermittelter Interaktion – wird somit als ein zentrales Fundament der Anthropogenese erkennbar. Erst Sprache schuf die Voraussetzung für das Entstehen sozialer Normen und trug damit wesentlich zur Entwicklung von Kultur9 bei: Denk- und Handlungsweisen (Wertvorstellungen und entsprechende Verhaltensformen) wurden tradierbar. Sprache ließ also „einen neuen Typ der Evolution entstehen, der sich in keiner anderen Art finden lässt“ (Berelson/Steiner 1969: 34). Folgerichtig sieht Habermas daher in der Hominisation eine organisch-kulturelle Mischform der Evolution: Der Weg vom Tier zum Menschen „ist durch das Ineinandergreifen organischer und kultureller Entwicklungsmechanismen bestimmt“ (Habermas 1976a: 147). Und man kann mit Merten ergänzen, dass Menschwerdung mithin als eine Folge (und nicht als eine Voraussetzung) kultureller Leistungen begriffen werden muss (Merten 1977: 126). Oder anders – deutlicher im Hinblick auf den vorliegenden Zusammenhang – formuliert: Menschwerdung (auch: Anthropogenese, Hominisation) ist die Jahrmillionen10 währende Konsequenz von Bewusstseinsleistungen, die auf einem Abstraktionsniveau erfolgten, welches allein durch die Erlangung jener symbolischen Kommunikationsfähigkeit möglich geworden war, die in der Sprache ihre intersubjektiv wahrnehmbare Manifestation erfuhr.

Warum aber erlangte ausschließlich der Mensch diese spezifische Kommunikationsfähigkeit? Warum bestand (und besteht) für das Tier offenbar kein existentieller Zwang zur Ausbildung von Sprache?11

Der Mensch: Mängelwesen und sekundärer Nesthocker

Antwort auf diese Frage gibt uns die Anthropologie, die „Wissenschaft von den Lebens- und Äußerungsformen des Menschen“ (Fuchs-Heinritz 2011: 39).12 Sie macht den Unterschied zwischen Mensch und Tier zunächst an der Beziehung zur Umwelt fest. Für den Menschen gibt es im Unterschied zum Tier keine „artspezifische Umwelt“, in die er aufgrund seiner Sinnesausstattung verwiesen wird und in der er allein lebensfähig wäre (vgl. Griese 1976: 24). Während für das Tier aus der Fülle der in der Welt vorhandenen Gegebenheiten nur eine begrenzte Anzahl existiert, innerhalb derer es gleichsam wie ein Gefangener lebenslang bleibt und stirbt,13 hat der Mensch keine so einförmige und enge Sphäre. Dieser Umstand lässt ihn als den ersten „Freigelassenen der Natur“ (Herder) begreifen; er ist im wahrsten Sinn des Wortes „weltoffen“ (Scheler, Gehlen), denn er besitzt weder eine spezialisierte Organausstattung noch verfügt er über jene instinktiven Absicherungen, die dem Tier in seiner artspezifischen Umwelt das Überleben ermöglichen.

Der Mensch gilt als ein „Mängelwesen“ (Herder, auch: Gehlen 1986) in der Natur: Es fehlt ihm ein natürlicher Witterungsschutz in Form eines Haarkleides, er verfügt über keine spezialisierten Angriffs- oder Verteidigungsorgane und seine Sinnesorgane werden an Leistungsfähigkeit von vielen Tieren übertroffen (Griese 1976: 16 f.). Er konnte daher nur überleben, indem er diese seine Unspezialisiertheit kompensierte: Die Ausbildung von Sprache und begrifflichem Denken, die Tradition von Erfahrungen und das Entstehen von Kultur werden (trotz vorhandener Instinktreste14) allgemein als die Antwort auf jene biologischen Mängel interpretiert: „Der Mensch kann nur überleben, wenn er sich Kultur schafft, d. h., wenn er arbeitend die Natur bewältigt und verändert, wenn er seine Mangelausstattung und Unspezialisiertheit durch soziales Handeln kompensiert. Kultur ist daher die von Menschen handelnd veränderte Natur, seine zweite ‚künstliche’ Natur, seine menschliche Welt (Griese 1976: 25). Für Arnold Gehlen (1904–1976) ist Kultur „ein anthro-biologischer Begriff, der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen“ (Gehlen 1986: 80).

 

Damit richtet sich der Blick nunmehr aber von der phylogenetischen auf die ontogenetische Perspektive der Menschwerdung. Auch hier nimmt der Mensch eine Sonderstellung in der Natur ein, auf die als erster der Zoologe Adolf Portmann (1956) hingewiesen hat. Er erkannte in einem morphologischen Vergleich mit den höheren Wirbeltieren, „dass der Mensch seiner Naturgeschichte nach zu den Nestflüchtern15 gehört, dass er aber ungefähr ein Jahr früher zur Welt kommt, als seinem Zerebralisationsgrad angemessen wäre und folglich zu einem sekundären Nesthocker wird – darin einzigartig unter allen Tieren“ (Habermas 1973a: 99). Der Mensch erscheint vom Standpunkt der Zoologie als eine physiologische Frühgeburt: Portmann hat das erste Lebensjahr des Menschen daher auch treffend als extrauterines Frühjahr bezeichnet, weil der Mensch im ersten Jahr nach seiner Geburt erst jenen Entwicklungsgrad erreicht, den ein seiner Art entsprechendes Säugetier noch im Mutterleib (im Uterus) verwirklicht (vgl. Portmann 1956: 52 ff.).

Geradezu hilflos, kommunikations- und bewegungsunfähig wächst der Säugling in engster physischer und auch emotionaler Abhängigkeit von seinen Eltern auf; die physiologische Frühgeburt bzw. das extrauterine Frühjahr stempeln ihn zu einem Lernwesen, das auf andere Menschen angewiesen ist, um überhaupt menschlich werden zu können, ab (Griese 1976: 20).

Aufgrund seiner Pflegebedürftigkeit benötigt jeder Säugling (über-)lebensnotwendige Hilfe und Betreuung durch Personen in seiner nächsten Umgebung; man kann darin auch eine „biologische Garantie“ für erste Sozialkontakte sehen. In diesen frühen Interaktionsprozessen entfaltet sich aber zugleich auch jenes Humanspezifikum, das als Soziabilität oder „Anlage zur Geselligkeit“ begriffen werden kann. Soziabilität ist die „Möglichkeit, Fähigkeit und Notwendigkeit des Angewiesenseins auf andere“ (Wössner 1970: 39). Dieses Angewiesen- und zugleich Ausgerichtetsein auf andere Menschen ist eine notwendige Bedingung zur Erhaltung und Entfaltung der menschlichen Existenz (ebd.). Mit dieser Soziabilität ist aber auch die grundsätzliche Formbarkeit des Menschen durch soziale Einflüsse angesprochen bzw. seine Fähigkeit, sich an andere Menschen oder soziale Bedingungen anpassen zu können (Klima 2011: 621). Die Entfaltung dieser Soziabilität erscheint nicht nur im organisch-biologischen Sinn für den Menschen (über-)lebensnotwendig16 zu sein; sie stellt – zusammen mit der Ausbildung seiner erhöhten Lernfähigkeit – v. a. auch eine unabdingbare Voraussetzung für seine (spätestens) ab dem Moment der Geburt beginnende Sozialisierung dar.

4.2 Sozialisation und Kommunikation

Sozialisation (als Status) oder Sozialisierung (als Geschehen) ist der „weitgefasste Begriff für den [ontogenetischen, R.B.] Prozess der Menschwerdung des Menschen, der Vergesellschaftung und lndividuierung gleichermaßen umfasst“ (Mühlbauer 1980: 25). Sozialisationsforschung versucht nachzuweisen, dass sich die menschliche Persönlichkeit in keiner ihrer Dimensionen gesellschaftsfrei herausbildet, sondern stets in einer konkreten Lebenswelt, die gesellschaftlich-historisch vermittelt ist“ (Hurrelmann 1976: 16). Mit dem Sozialisationsbegriff wird also v. a. der „Prozess der Persönlichkeitsgenese in Abhängigkeit von der Umwelt“ (Geulen 1973: 87) umschrieben. So durchschreitet der nur mit rudimentären Instinkten geborene Säugling in seiner Entwicklung vom Kind bis zum Erwachsenen nicht nur Stadien der biologischen Reifung,17 sondern macht auch (individuelle und soziale) Lernvorgänge durch. Sowohl individuelles als auch soziales Lernen dauert jedoch im Prinzip das ganze Leben hindurch an.

Von dieser Perspektive aus erscheint Sozialisierung als ein permanenter, lebensbegleitender Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, der erst durch den Tod abgebrochen wird (Mühler 2008: 46 ff.). Es gibt daher keine endgültige, abgeschlossene Sozialisierung, sondern nur einen jeweiligen Stand der Sozialisierung: die Sozialisation (vgl. Fuchs-Heinritz et al. 2011: 625 ff.). Der Mensch – als Produkt von (zu reifenden) Anlagen und Umwelteinflüssen – steht mit dem Akt seiner leiblichen Geburt somit erst am Beginn seines „eigentlichen“ Geborenwerdens in einem erweiterten Sinn des Wortes: Erst durch seine „zweite soziokulturelle Geburt“ (Claessens 1962) wird der Mensch zum Menschen – und in Wahrheit ist „das ganze Leben des Individuums […] nichts anderes als fortwährend an der eigenen Geburt schaffen“ (Fromm 1974: 28).

Worin besteht nun diese (eigentliche) soziokulturelle Geburt des Menschen und welchen Stellenwert besitzt Kommunikation in diesem Prozess? Eine Antwort auf diese Frage kann es immer nur aus der Perspektive des jeweiligen sozialisationstheoretischen Konzepts geben. Dazu hier ein knapper Überblick.

4.2.1 Sozialisationstheoretische Positionen

Nach Geulen (1977: 43 ff.)18 können fünf abstrakte Dimensionen sozialisationstheoretischen Zugriffs unterschieden werden, die zu fünf unterscheidbaren Modellen vom sozialisierten Menschen führen:

•Das anthropologisch-funktionalistische Modell sieht den Menschen – wie soeben besprochen – als konstitutionelles Mängelwesen (Arnold Gehlen), der nach seiner Geburt alleine gar nicht (über-)lebensfähig ist. Sozialisation wird von dieser Position aus als Notwendigkeit zur physischen Existenzsicherung gesehen (neben Gehlen sind auch Emile Durkheim und Bronislaw Malinowski dieser Position zuzurechnen).

•Im Wissensmodell gelten die gesellschaftlichen Momente als Voraussetzung für die intentionale Handlungsorientierung: Der Mensch handelt auf der Grundlage der Bedeutung, die die Dinge für ihn besitzen. Ein sozialisiertes Individuum verfügt nicht nur über ein gewisses Maß an Wissen über seine alltägliche Lebenswelt, sondern kann dieses auch sprachlich vermitteln (Mead). Sozialisation erscheint hier als der Prozess, in dem Wissen von der gesellschaftlichen Wirklichkeit über Sprache bzw. Symbolinterpretationen erworben wird (neben Mead sind auch Alfred Schütz, Peter Berger und Thomas Luckmann Vertreter dieser Position).

•Das Integrationsmodell rückt die Persönlichkeitsentwicklung in den Fokus: Der Mensch wird den gesellschaftlichen Einflüssen entsprechend gebildet; er geht – gleichsam als ein Ebenbild seiner Gesellschaft – restlos in ihr auf: Die Person erscheint als (Persönlichkeits-)System von Bedürfnisdispositionen, die sich infolge der Verinnerlichung von Wertorientierungen ausbilden, welche das Individuum im Zuge seines Rollenhandelns erwirbt. Sozialisation ist also der Prozess, in dem Menschen in die Gesellschaft integriert werden (zu den Hauptvertretern zählt Talcott Parsons).

•Der Fokus des Repressionsmodells liegt auf dem „Konflikt zwischen gesellschaftlich vermittelten und anderen Persönlichkeitsmomenten innerhalb des Individuums“ (Geulen 1977: 81). Es gibt zwei Ausprägungen des Modells: Einerseits wird Sozialisierung als „Prozess der Entpersönlichung“ gesehen, in dem die Individualität und Freiheit des Einzelnen in der Kontrolle und Allgemeinheit sozialer Rollen aufgehoben wird“ (Dahrendorf 1974: 164). Andererseits sind es – etwa bei Sigmund Freud (1856–1939) – „die im Organischen fundierten Triebe der Menschen“ (Geulen 1977: 81), von denen jede Gesellschaft nur einen recht schmalen Ausschnitt der an sich breitgefächerten Triebregungen zulässt. Sozialisation erscheint hier somit als der Prozess der Verinnerlichung gesellschaftlicher Institutionen, die zur eigentlichen Individualität des Menschen im Widerspruch stehen.

•Im Individuationsmodell wird Gesellschaft dagegen als Voraussetzung für die Menschwerdung angesehen: Nicht trotz Sozialisation, sondern erst infolge konkret ablaufender Sozialisationsvorgänge kann sich menschliche Individualität entwickeln. Neben Emile Durkheim, Georg Simmel, Helmut Plessner und Jürgen Habermas sieht Geulen auch George Herbert Mead als Vertreter dieses Modells. Sozialisation ist für diese Ansätze also der Prozess, in dem die gesellschaftliche Vermittlung von Individualität stattfindet, in dem sich Identität und „Selbst-Bewusstsein“ im Rahmen der Interaktion mit anderen Menschen (und im Rahmen von Rollenübernahme) überhaupt erst bilden kann.