Amakusa Shiro - Gottes Samurai

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Er verneigte sich langsam vor dem shōya, richtete sich wieder auf und verließ mit raschen Schritten die Hütte, gefolgt von seinen beiden Söhnen.

Kenzō Shibata eilte ihm nach. »Entschuldigt, Mori-san …«

»Hai

»Kommt Ihr mit Euren Schwertern?«

Der Rōnin wandte sich um und musterte ihn, ohne seine Überraschung zu verbergen. »Ha! Glaubst du denn, ich würde kommen, um euch zuzusehen?«

»Aber nein! Sumimasen … Entschuldigt, ich bitte Euch … Wir werden also heute abend sicher den Sieg erringen? Verzeiht meine dumme Frage …«

Mori Sōiken galt als ein Mann, auf den man sich vollkommen verlassen konnte. Es hieß, dass er seine Kunst im Umgang mit dem Schwert in jungen Jahren von einem Tengu aus dem Gebirge erlernt hatte. Auch wenn er seine Waffe nur noch in größter Einsamkeit zu ziehen pflegte, um für sich allein zu üben, so hatte er noch immer den Ruf, dass seine Klinge, »die von selbst aus der Scheide sprang«, den sicheren Tod brachte, sobald sie hervorschnellte. Er besaß eine Ausstrahlung, die jeden davon abhielt, ihn auf die Probe zu stellen.

Statt einer Antwort lachte Mori Sōiken laut auf, und mit entschlossenem Schritt ging er weiter. In seinem Bauch saß ein Gefühl von Kraft, wie er es seit langer Zeit nicht mehr empfunden hatte. Das, was er tun würde, erfüllte ihn mit großer Zuversicht. Endlich, endlich war der Moment gekommen, auf den er so lange gewartet hatte. Er ahnte, dass die Ereignisse sich nun überschlagen würden, so dass der Plan Wirklichkeit werden konnte, den er mit seinen auf Amakusa gebliebenen Kameraden, ersonnen hatte.

Tatsächlich war Mori einer von fünf alten christlichen Samurai, die geschworen hatten, die Missetaten der daimyō, die mit Billigung des weit entfernten Shōguns ganz Kyūshū im Würgegriff ihrer Gewalt hielten, nicht mehr ungestraft hinzunehmen. Sie waren Rōnin geworden und lebten zurückgezogen. Sie bearbeiteten den Boden wie einfache Bauern, um bei der Obrigkeit in Vergessenheit zu geraten.

Mori Sōiken war hier im Auftrag Ashizuka Chūemons, des Anführers der Gruppe, zu der noch Yamada Emonsaku sowie die Brüder Ōye Matsuemon und Ōye Genyemon gehörten. Diese waren auf der Insel Amakusa geblieben, um im Geheimen den Auftritt jenes Gesandten des Himmels vorzubereiten, des Tendō, dem jungen Masuda Shirō. Sie planten, ihn in dieser Rolle an die Spitze der gewaltigen Erhebung zu stellen, die kurz vor ihrem Ausbruch stand in den Provinzen von Hizen, Chikugo, Higo und Satsuma bis zu den südlichen Inseln, auf denen die Flamme zuerst aus der Glut schlagen würde.

Der Rōnin Mori Sōiken war beauftragt worden, das Terrain für den Christenaufstand auf der der Halbinsel Shimabara vorzubereiten, in allen Dörfern, die zwischen dem Vulkangebirge Unzen und dem Meer im Süden lagen. Hier wohnte er, hier kannte man ihn. Niemand hatte seinen einstigen Rang vergessen als Offizier in der Leibgarde des noch immer betrauerten christlichen daimyō Konishi Yukinaga. Konishi hatte kraft seiner Befehlsgewalt ausländischen Priestern gestattet, in den Provinzen des Südens die Lehren von Yaso – Jesus – zu verbreiten. Es schadete Moris Ansehen in den Augen der Landbevölkerung nichts, dass er seinen Rang verloren hatte, nachdem sein Meister in Ungnade gefallen war und den Tod gefunden hatte.

Es sollte auf Amakusa beginnen, mit der bevorstehenden Ankunft des Tendō, und dann sollte der Aufstand die Meerenge überspringen und sich rasch nach Norden ausweiten, wie ein gewaltiger Flächenbrand. Aber jetzt loderte hier ganz unerwartet eine Flamme auf, die eigentlich auf jener Insel hätte entzündet werden sollen … Das war eine unerwartete Situation, aber er fühlte sich in der Lage, sie unter Kontrolle zu halten, bis seine Kameraden von Amakusa herbeikommen würden, zusammen mit diesem Masuda Shirō. Es kam gar nicht in Frage, eine Entwicklung, die, wie er spürte, unaufhaltsam war, zurückhalten zu wollen, und sei es nur für wenige Tage. So würden die Dinge eben schneller ins Rollen kommen. Der Feind musste mit einem massiven frontalen Angriff überrumpelt werden, ihm durfte keine Zeit bleiben, sich zu sammeln.

Oh nein, diese Aussicht missfiel ihm keineswegs, nach all den schweren Jahren des Untätigseins.

Die Nacht war plötzlich noch finsterer geworden. Wolken verdüsterten den Mond. Die heiseren Stimmen im Wachhaus waren verstummt, eine Laterne nach der anderen erlosch. Kenzō Shibata umklammerte den Baum, der ihn verbarg, als ob die rauhe Rinde der Kiefer ihn beruhigen könnte. Seit einiger Zeit schon hörte man keinen Laut mehr von Okita. War sie schon tot? Wie viele ihrer Peiniger mochten noch im Haus geblieben sein? Abgestumpft vom sake würden sie wohl gar nicht begreifen, dass sie es nun waren, die der Tod ereilte.

Er zuckte zusammen, als er einen Ast knacken hörte. Er suchte mit den Augen den Rōnin Mori, aber bei dem Baum, hinter dem dieser gerade noch gestanden hatte, war seine Silhouette nicht mehr zu sehen. In diesem Moment bemerkte er, dass der Wald sich belebt hatte, als ob jeder Baum sich plötzlich verdoppelt hätte. Überall um ihn herum hatten die Schatten sich in Bewegung gesetzt, erst zögerlich, dann immer entschlossener, im Einklang miteinander. Ihr Ziel war das Haus auf der Lichtung, in dem nun keine Laterne mehr brannte. Kenzō Shibata spürte nichts mehr von der Kälte der Nacht. Zorn stieg in ihm auf, und er hatte das Gefühl, dass eine Feuerkugel in seiner Brust loderte. Am liebsten hätte er all seinen Hass herausgebrüllt. Er packte seinen Stock und eilte den anderen nach.

Die Offiziere des auf der Burg Moritake von Shimabara residierenden mächtigen Gouverneurs Hayashi Hyōemon, des Beauftragten des daimyō Matsukura Shigeharu für das Gebiet von Arima, hatten allzu tiefes Vertrauen in die Macht, die sie repräsentierten. Wovor hätten sie sich auch schützen sollen? Nobuyuki Kishi, der Steuereintreiber, der für die Entführung der kleinen Okita verantwortlich war, hatte nicht den geringsten Grund, des Nachts seine Türen ernsthaft bewachen zu lassen. Der einzige Wachposten döste vor sich hin, vom Alkohol benebelt; er hatte nicht einmal mehr Gelegenheit, Furcht zu empfinden, bevor sein Blut an die Wand spritzte.

Die Männer drangen in das Haus ein. Das Massaker nahm seinen Lauf. Rasch. Gnadenlos. Niemanden verschonend.

Schweiß und Blut bedeckte die Angreifer. Noch immer zitterten sie von all dem Hass, den sie so lange in sich zurückgehalten hatten. Nach der Raserei die Stille. Tiefes Erschrecken angesichts der eigenen Tollkühnheit. Das Erwachen würde schlimm werden. Die kleine Okita hatten sie nicht retten können …

»Es ist geschehen …«

Hätte der alte Shashi Kizaemon noch seine Augen besessen, hätte er es den drei Männern, die in sein Haus gekommen waren, das etwas abseits vom Dorf stand, nahe dem Bach, auch ohne diese Worte angesehen. Mori Sōiken und seine beiden Söhne standen vor dem alten Vasallen Konishis. Noch immer waren sie ein wenig außer Atem, und ihre Kleidung war mit Blut befleckt. Der alte Mann kniete im Zentrum des domo. Sein Haar war weiß, und den oberen Teil seines Gesichts bedeckte eine Platte aus Hartleder, die mit Hilfe einer Kordel aus feiner Seide an seinem Kopf befestigt war. Zwei schmale dunkle Schlitze im Leder schienen einen unaufhörlich anzustarren, aber jedermann wusste, dass hinter der Maske leere Augenhöhlen in einem von Narben übersäten Antlitz gähnten. Shashi Kizaemon war während der Herrschaftszeit des schrecklichen daimyō Katō Kiyamosa, genannt »Schlächter der Christen«, gefoltert worden. Dieser hatte ihm das Gesicht mit Schlägen verunstalten und ihm dann die Augen ausbrennen lassen, nachdem er sich geweigert hatte, seinem Glauben abzuschwören. Selbst die ana-tsurushi, die schreckliche Grubenfolter, hatte seinen Willen nicht brechen können. Nachdem man ihn geblendet hatte, ließ man ihn unter Hohngeschrei laufen, damit er, ein zerstörter Mensch, auf den Straßen umherirren möge. So hatten seine Peiniger es sich vorgestellt.

Mit der Zeit vergaß ihn die Obrigkeit in seinem kleinen Dorf, so wie viele der alten Krieger des großen Konishi Yukinaga. Diese jedoch vergaßen nichts. Sie holten ihre Waffen regelmäßig aus dem Versteck, damit der Rost sie nicht zerfraß. Shashi Kizaemon war ihr Ältester. Sie suchten seinen Rat, und sein Wort galt viel für all die Samurai und Rōnin, die überall auf der Halbinsel von Shimabara auf Rache sannen. Von Shimabara bis Amakusa war die Geschichte seines Lebens bekannt.

»Es ist zu Ende gebracht, Shashi-san …«

Der Alte spürte, dass ihm das Kinn leicht zitterte, aber er verharrte in seiner Haltung.

»Ihr überrascht mich, Mori-san. Erscheint Euch das Ganze nicht etwas zu einfach? Seit wann messt Ihr Euch im Schwertkampf mit Betrunkenen?«

»Oh, Ihr wisst es bereits …«

»So ist es.«

»Wir mussten es tun!«

»Seid Ihr Euch dessen so sicher?« fragte der Alte mit seiner brüchigen Stimme.

Mori Sōiken trat noch näher und hockte sich auf der Matte vor dem Maskierten nieder. Mit plötzlicher Lebhaftigkeit rief er: »Gewiss, Shashi-san! – Die Zeit des Hankan ist gekommen! So erinnert Euch doch …«

»Ich erinnere mich.«

»Die Zeit ist gekommen, dass wir für Yaso in den Kampf ziehen! Ein Engel wird kommen, so steht es geschrieben. Der Tendō …«

»Ein Engel? Tatsächlich? – Ich kann in Eurem Herzen lesen, Mori-san, und ich erkenne mehr, als ich mit den Augen sehen könnte.«

Ein flüchtiges Lächeln umspielte die Mundwinkel des Blinden. Mori Sōiken zuckte mit den Schultern. Er war verstimmt. Konnte der alte Krieger wirklich seine Gedanken lesen?

»Nun, wie auch immer. – Der Aufstand braut sich zusammen; das Geschwür wird aufplatzen. Die Zeit der Heimlichkeit geht zu Ende. Wir werden wieder offen kämpfen können und die Kränkung, die dem Andenken von Konishi-sama angetan wurde, auslöschen. Nach all dieser Zeit! Es ist nicht wichtig, wer den Weg weist, wenn es nur der rechte ist.«

 

»Kämpfen. – Mit den … Bauern?« Der alte Krieger veränderte leicht seine Haltung, und sein Mund verzog sich herablassend.

»Shashi-san, heißt es in den Lehren von Yaso nicht auch, dass alle Menschen gleich seien?«

»Ich weiß, ich weiß … Aber wie wollt Ihr unsere Bauern gegen die wohlorganisierten Truppen von Matsukura Shigeharu einsetzen? Was zählt denn der kleine Sieg von letzter Nacht? Ein paar betrunkene Soldaten, die im Schlaf überrascht wurden. Die Rache wird schrecklich sein!«

Matsukura Shigeharu, der verabscheuungswürdige daimyō von Shimabara … Mori Sōiken brachte sein Gesicht ganz dicht an das des Blinden und sprach: »Ehrwürdiger Shashi Kizaemon, Ihr wart dem großen Konishi Yukinaga näher als sonst einer von uns. Niemand könnte besser für Redlichkeit und Mut stehen als Ihr. Die Stunde ist gekommen. Jetzt! Ihr wisst, dass Matsukura Shigeharu sich derzeit in Edo befindet, dreißig Tagesreisen entfernt. Bevor er aus der Hauptstadt zurückkehrt, ist hier alles vollbracht.«

»Aber Matsukura wird zurückkehren. Und er wird Nobuyuki Kishi und seine Leute rächen. Zudem hat sich Hayashi Hyōemon während seiner Abwesenheit in der Festung von Shimabara bestens verschanzt.«

»Er müsste zuerst einmal den gesamten Distrikt von Takaku zurückerobern. Er wird zu spät kommen. Die Nachricht wird sich im ganzen Land verbreiten. Wir werden Tausende und Abertausende sein. Niemand liebt die Tokugawa!«

»Das ist es also …« Der alte Samurai nickte bedächtig. »Es ist ein gefährliches Spiel, Mori Sōi.«

»Ich glaube nicht, dass Ihr wirklich so denkt. Ihr seid noch nie vor der Gefahr zurückgeschreckt, und dieses Spiel lohnt die Mühe! Der Schlag muss schnell und mit großer Härte erfolgen. Ein einziges Wort von Euch wird alle Gefolgsleute von Konishi-sama sich uns anschließen lassen, und ihnen werden Tausende gequälte Bauern folgen, die nach Gerechtigkeit dürsten. Wir alle brauchen Euch.«

»Mich, einen blinden Alten? – Eure katana sind mehr wert als mein Wort.«

Mori Sōiken lächelte die Maske an. Er schenkte dem Alten einen Blick voll Bewunderung und Ehrfurcht. Er wusste, was Shashi Kizaemon einst im Kampf zu leisten vermochte. Selbst blind würde er noch fähig sein, jeden Gegner in seiner Reichweite mit dem Schwert niederzustrecken, so sehr hatte sich das Wahrnehmungsvermögen des Blinden geschärft. Mori Sōiken, der doch selbst ein Meister des Schwertkampfes war, hatte seinen Söhnen auf dem Weg hierher erzählt, dass der alte Samurai einer der größten Experten im Kampf war, den er je kennengelernt hatte. Sie sollten die Augen weit aufsperren und von ihm lernen.

»Yamada Emonsaku befindet sich in Ōyano und Ōye Genyemon in Shizuka. Überall auf Amakusa gärt die Revolte.« Und Mori Sōiken wiederholte, jede einzelne Silbe betonend: »Wir brauchen Euch.«

»Ist es wahr, dass Matsura Shigenobu auf dem Weg nach Nagasaki ist?«

»Das wisst Ihr also auch?«

»Warum nimmt er das Risiko auf sich, an einen Ort zu gehen, wo er seit seiner Flucht gesucht wird?«

»Verzeiht, dass ich versucht habe, es Euch zu verheimlichen, Shashi-san … Wir gedachten Euch in Kürze damit zu überraschen. Aber es ist wahr: Shigenobu hat den Auftrag, den jungen Masuda Shirō Tokisada zu holen.«

»Wie doch die Zeit vergeht«, sagte der Blinde. »Ich erinnere mich noch bestens an Shirō als Kind. Shigenobu hatte aus ihm bereits einen echten kleinen Samurai geformt, bevor er ihn bei dieser Familie in Nagasaki vor Matsukuras Häschern versteckte. Das unaufhörliche Predigen seines Vaters, meines Freundes Jinbei, hat seine ganze Familie gefährdet.«

»Erinnert Euch doch der Zeichen bei seiner Geburt! Dieses Jahr ist genau das richtige. Die Zeit des Hankan ist gekommen!« drängte Mori Sōiken.

»Ihr glaubt also an diese Prophezeiung? Er soll es wirklich sein, der Engel, der vom Himmel gesandt wurde?«

»Die Alten aus Ōyano haben es gesagt. – Und wir, wir brauchen Shirō … Jetzt. Versteht Ihr, Shashi-sama

Mori Sōiken hatte den Alten mit einer Höflichkeitsform angeredet, die Personen von Adel vorbehalten war. Sein Tonfall war sehr ernst, seine Hochachtung aufrichtig.

Die Mundwinkel des Blinden zuckten leicht. Er war überrascht. Dann machte er eine kleine Geste mit seiner fragil wirkenden Hand und wandte sich Mori auf eine Weise zu, dass dieser das Gefühl hatte, er würde von ihm bis in die Tiefen seines Wesens ergründet. Shashi Kizaemon wusste genau, dass der Rōnin und seine Freunde, als sie sich im vergangenen Monat mit den Anführern der Bauern auf der kleinen Insel Yushima getroffen hatten, alles vorbereitet hatten. Er spürte ihre Ungeduld, den Feind herauszufordern, ungeachtet dessen, dass sie inzwischen allesamt für Krieger, die auf dem Feld kämpfen wollten, in einem recht vorgerückten Alter waren. Alles in ihm brannte darauf, sich auf ihre Seite zu schlagen, im Andenken an den Mann, den er unter dem Namen Don Agostinho – so lautete der Taufname des großen daimyō Konishi Yukinaga – verehrt hatte. Mit diesem war er einst in die Schlacht von Sekigahara gezogen, hatte an seiner Seite gekämpft und mit ihm verloren. Und wie Mori, Ashizuka, Yamada und viele andere Samurai seines Lehens, die sich seinem Beispiel folgend hatten bekehren lassen, hatte er als Christ ihm nicht in den Tod folgen dürfen.

Aber das alles lag so lange zurück, und er wusste, was für eine schreckliche Verantwortung auf ihm lasten würde, wenn er das wahnwitzige Unterfangen unterstützte. Sollten sie wirklich aus der Verborgenheit treten, in der sie immerhin überlebt hatten, trotz allem? Und wenn es sich in Wahrheit um einen heimtückischen Plan der Spione des Shōguns handelte, geschickt suggeriert, den sie in ihrer Naivität auszuführen helfen würden? Ihn schauderte es bei dem Gedanken an die Zehntausenden Seelen aus all den armen Bauernfamilien, die bereit waren, einigen Tausend Kriegern zu folgen, die ihrerseits vor allem eine persönliche Rechnung mit den Machthabern in Edo zu begleichen hatten. Was wäre, wenn sie auf diese Weise nur einer ihnen weit überlegenen Macht die Möglichkeit geben würden, sie zu Staub zu zermalmen?

Shashi Kizaemon war bereits hoch in den Sechzigern. Sollte er nach all den Jahren der Zurückgezogenheit der Stimme der Vernunft oder der des Gefühls folgen? Er hätte nicht erwartet, dass er sich eines Tages in solch einem Zwiespalt befinden würde, den er wie einen Riss in seinem Wesen empfand. Wie ein Fieber hatte es ihn gepackt – überraschend für sich selbst. Er musste dieses Fieber abklingen lassen, in sein Herz wieder Stille einkehren lassen, damit er die Antwort auf all diese Fragen vernehmen konnte, die ihm niemand als sein Deusu geben konnte.

»Es reicht für heute abend, Mori-san, ich bitte Euch. Verzeiht, aber ich bin müde.«

Mori Sōiken erhob sich rasch und verneigte sich tief. »Verzeiht mir, Shashi-san, dass ich Eure Ruhe gestört habe. Es tut mir leid …« Er fragte: »Gestattet Ihr mir, dass ich morgen wiederkomme, Shashi-san

»Bitte vergebt einem verbrauchten alten Mann … Es wäre nutzlos.«

»Wollt Ihr Euch uns wirklich nicht anschließen? Bald werden unsere katana wieder in der Sonne blitzen.«

»Das meinige bleibt in seiner Scheide. Verzeiht … Dieses Abenteuer kommt zu spät für den alten Krieger, der ich geworden bin. Ich werde für euch beten.«

Mori Sōiken gab seinen Söhnen ein Zeichen. Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Die drei Männer wollten gerade die Hütte verlassen, als die ruhige Stimme des Alten sie zurückhielt: »Wie viele wart ihr heute abend, Mori-san

»Oh – etwa zwanzig.«

»Wenn ihr nicht nachlasst, werden es tausend mal mehr, zehntausend mal mehr sein, und keine Macht wird euch aufhalten können. Das Feuer, das ihr heute entzündet habt, könnt ihr nicht mehr beherrschen. – Gab es Verluste auf eurer Seite?«

»Vier Männer«, gab Mori Sōiken zu. »Sie hatten keine Waffen …«

»Und Okita?«

»Es war zu spät … Und für sie war es wohl besser so.«

»Shikata-ga-nai …«

»Ja, da kann man nichts machen. – Wir wünschen Euch eine gute Nacht, Shashi-sama. Bitte entschuldigt uns.«

Die schwere Holztür glitt zu und schloss sich hinter den drei Verschwörern.

Die Maske schien noch lange in Richtung des Eingangs zu blicken, reglos in der wieder eingekehrten Stille, als ob ihr leerer Blick die Nacht durchbohren könnte, die Mori Sōiken und seine Söhne aufgenommen hatte. Niemand mehr konnte die Flammen aufhalten, in denen sie vielleicht alle umkommen würden. Doch so sehr sich Shashi Kizaemon auch mühte, es wollte ihm nicht mehr gelingen, in die gelassene Geisteshaltung zurückzukehren, die einem Mann seines Alters geziemte. Schlimmer noch: Etwas in ihm weigerte sich beharrlich, das Geschehene zu bedauern. Es arbeitete in seinem Gesicht, und die wenigen weißen Bartstoppeln an seinem Kinn zitterten für einen Moment. Er gestattete seinem Körper, ein wenig in sich zusammenzusinken, damit die Rückenschmerzen nachließen, jetzt, wo er vor niemandem mehr seine Gebrechlichkeit verbergen musste.

Es musste endlich Gerechtigkeit geschehen in diesem Landstrich, wo Gott seit allzu langer Zeit allzu viele Dinge hatte geschehen lassen. Der alte Krieger tastete sanft mit den Fingern seiner linken Hand nach dem Kreuz aus Zedernholz an seiner Brust, direkt auf der Haut, sorgfältig verborgen unter dem Gewand. Wie alt fühlte er sich plötzlich in seinem Körper! Und wie jung im Herzen. Dort war noch immer soviel Liebe für diesen Yaso Kirishito, der es vollbracht hatte, den Menschen die einzig wahre Botschaft zu überbringen, die im Leben zählt, die der Liebe und des Mitgefühls für ihresgleichen.

Bis an sein Lebensende würde er das unterdrückte Volk von Kyūshū lieben. Der Gedanke, dass er diesen Menschen noch einmal von Nutzen sein könnte in diesen düsteren Tagen, die sich abzeichneten, ließ ihn endlich in den feinen Schwingungen seines Herzens die Antwort vernehmen, die er von seinem Gott, dem Herrn, erhofft hatte. Erleichtert seufzte er auf. Er fühlte sich glücklich und entschlossen.

Er wartete noch ein wenig, bis er Akio, seinen Diener, die heißen Lavasteine, die vom Unzen-Gebirge stammten und auf denen sich die Asche des ro sammelte, beiseite räumen ließ. Darunter kam eine Metallplatte zum Vorschein, die ein längliches Versteck verdeckte, das seit langem nicht mehr geöffnet worden war. Das kotatsu hatte auf wirksame Weise einige wertvolle Gegenstände geschützt, die aus den alten Zeiten stammten und die er bald wieder benötigen würde. Akio, der ihm seit so langer Zeit zu Diensten war, besaß sein Vertrauen, auch wenn er sich zu seinem Bedauern nie hatte dazu durchringen können, sich taufen zu lassen. Das war vielleicht der Grund, weshalb er ihm bisher nie von dem Versteck erzählt hatte. Doch ohne Akio wäre es schwierig für ihn gewesen zu überleben.

Als der Diener die versteckten Gegenstände sah, fragte er nur: »Aber warum, Herr, geschieht das alles erst so spät?«

2

Nagasaki, Dezember 1637

Die Menschen in der Stadt schliefen noch, als das gedämpfte Geräusch von stoffumwickelten Hufen in den Gassen von Nagasaki ertönte und wieder verklang. Vier Reiter verließen in schnellem Ritt die Stadt und galoppierten in Richtung Aeyetsu davon, vorbei an der Wache am östlichen Stadtrand. Weicher Morgennebel lag über den Hügeln und Tälern in dieser Stunde des Hasen. Hauptmann Totarō, der diensthabende Offizier, nahm seine Lanze zu Hilfe, um sich von seinem Lager zu erheben. Durch den Nebel und die langsam zu Boden sinkende Staubwolke hindurch, die die Hufe aufgewirbelt hatten, sah er, einem Traumgebilde gleich, einen kleinen Reitertrupp im nahegelegenen Wald entschwinden. Einer seiner Männer erwachte, richtete sich auf und blickte verwirrt um sich. Der Hauptmann erinnerte sich plötzlich an den Befehl zu erhöhter Wachsamkeit, den man ihm am Vorabend erteilt hatte, und beschloss kurzerhand, dass er nichts gesehen und nichts gehört hatte. Ohne ein Wort legte er sich wieder hin und schloss die Augen.

Der Jüngste der Reiter ritt an der Spitze. Er trug keine Waffe. Ein weißer hachimaki, den er sich um die Stirn gebunden hatte, hielt seine Haare davon ab, ihm ins Gesicht zu fallen. Doch die drei anderen Berittenen trugen an ihrer linken Seite ihre daishō, und der letzte im Trupp war mit einem vier Fuß langen Bogen bewaffnet und führte einen Köcher voll langer, mit Gänsefedern befiederter Pfeile mit sich. Ihre Haare flatterten frei im Wind, wie die von wilden Rōnin, aber ihre stolze Haltung und ihr gerader Blick verrieten, dass die Männer im Herzen Samurai geblieben waren.

 

Im Galopp durchquerten sie das Dorf Tomogi. Erst, als sie die Berghänge, die zum Pass von Himi führten, erreichten, hielten sie und saßen ab, um die Tücher von den Hufen ihrer Reittiere zu entfernen. Ohne Rast zu machen, setzten sie den Ritt im Trab fort. Der Weg führte auf Serpentinen zu dem kleinen Pass hinauf. Die Reiter trieben ihre schnaubenden Pferde an, denen weißer Schaum von den Lefzen flog.

Ein schöner Spätherbsttag kündigte sich an. Das erste Licht des Tages färbte bereits die Wipfel der riesigen Kamelien goldrot und spielte auf den letzten purpurnen Blättern der Ahornbäume. Es war noch warm für die Jahreszeit.

Die Sonne ging direkt über dem Pass auf. Sie blendete die Reiter mit ihrem gleißenden Licht und ließ sie lange Schatten werfen. Der erste der Männer hob die Hand vor die Augen. Er wandte sich halb in seinem Sattel um und rief dem Hochgewachsenen, der ihm folgte, zu: »Das tut gut, Shigenobu! Es ist so lange her, dass ich auf dem Rücken eines Pferdes dahingaloppiert bin … Und all diese Wohlgerüche! Ja, das tut gut, Shigenobu.«

Er war noch jung. Die Sonne ließ sein schwarzes Haar wie Seide erglänzen. Sein Gesicht war feingeschnitten und glatt, mit hohen Wangenknochen. Masuda Shirō Tokisada sog gierig die frische Luft ein. Seine Brust wölbte sich, er streckte die Arme aus, als wollte er die Luft umarmen.

Shigenobu, der auf seinem Pferd, mit dem er verwachsen zu sein schien, einem Hünen glich, blinzelte im grellen Licht. Sein Herz schlug freudig, als er die Worte seines jungen Meisters vernahm, doch er schwieg. Es wollte ihm an diesem Morgen kaum gelingen, seine Gefühle zu beherrschen, beim Gedanken daran, dass das Schicksal Shirōs nunmehr eine unumkehrbare Wendung genommen hatte. Lächelnd betrachtete er den Jüngling, der sich gerade damit vergnügte, sein Pferd auf dem sonnenbeschienenen Pfad auf der Stelle wenden zu lassen. Sein Vater hatte aus ihm schon früh einen exzellenten Reiter gemacht. Ja, Shirō glänzte in allem, was er tat …

Shigenobu versuchte sich vorzustellen, was der morgige Tag dem Heranwachsenden bringen würde, den er aus dem Haus des christlichen Händlers in Nagasaki geholt hatte, in dem Shirō die letzten vier Jahre verbracht hatte. Das Haus stand in einem Stadtviertel, in dem die Anhänger der fremden Religion, die die unablässigen Verfolgungen während der letzten zwanzig Jahre überlebt hatten, in aller Heimlichkeit ihrem Glauben treu geblieben waren. Es war auch sein Glaube, wie der so vieler Menschen auf den südlichen Inseln. Die Gefahr, entdeckt und vor die Wahl gestellt zu werden, abzuschwören oder grässliche Foltern über sich ergehen zu lassen, hatte sie nur immer enger zusammenrücken lassen. Seit dem Martyrium von Pater Marcello Maltrilli war es nur noch eine Frage von Wochen, dass das gleiche Schicksal auch die letzten standhaften japanischen Christen, die kirishitan, ereilen würde, von denen es im ganzen Land noch einige Zehntausend gab. Sie glaubten unerschütterlich an diese Religion des Verzeihens und der Erlösung, die über die Meere zu ihnen gekommen war und ihnen ein besseres Leben nach dem Tod versprach, so, wie es ihnen die bateren mit Liebe und Geduld erklärt hatten. Noch immer gab es einige von diesen fremdländischen Patern, Portugiesen zumeist, die bereits seit Jahren im Lande weilten und diejenigen, die sie einst bekehrt hatten, nicht im Stich lassen wollten. Sie hatten auch nicht wenige Japaner zu Priestern ausgebildet. Shigenobu war davon überzeugt, dass ihr aller Schicksal in Kürze besiegelt sein würde, wenn sie nichts unternahmen.

Der Auftrag, den er und seine beiden Kriegergefährten übernommen hatten, musste rasch erfüllt werden. Shirōs Mission erlaubte keinen weiteren Verzug. Er hatte sie ihm ausführlich erläutert, als er nun, ein Jahr nach seinem letzten Besuch in Nagasaki, wiedergekommen war. Shirō wusste von der Hankan-Prophezeiung und schien nicht im mindesten überrascht, dass die Wahl auf ihn gefallen war. Offensichtlich hatten ihn bereits andere auf seine Rolle in den Ereignissen, die kurz vor ihrem Ausbruch standen, vorbereitet. Er war bereit gewesen, dem Ruf zu folgen.

Shirō hatte gewissenhaft und mit Leichtigkeit alles gelernt, was die Freunde seines Vaters Jinbei und die wenigen Pater, die sich noch in Nagasaki verbargen, ihn über die christliche Religion gelehrt hatten. Er konnte die religiösen Texte auf Lateinisch lesen. Darüber hinaus hatte er eine erstaunliche Begabung für die Kunst der Kalligraphie gezeigt. In allem, was man von einem Wesen erwarten konnte, das vom Siegel Gottes geprägt war, zeigte er sich bestens bewandert. Und ohne Zweifel war Shirō, der Nachkomme eines Samurai-Geschlechts, im Grunde seines Herzens ein Krieger. Shigenobu kannte ihn seit seiner Geburt, und bereits in seiner Kindheit war seine Wirkung auf die Menschen erstaunlich gewesen. Er würde die charismatische Rolle verkörpern können, die die Anführer des Aufstands auf den südlichen Inseln ihm zugedacht hatten. Er würde das Symbol sein für das Ende der Zeiten des Schreckens für ein Volk im Elend, das schon so lange ein Zeichen vom Himmel herbeigesehnt hatte. Denn es ging nicht mehr nur darum, das Evangelium zu verkünden. Worte allein waren nicht mehr genug für die bis aufs Blut gepeinigten Bauern der Amakusa-Inseln und auf der gesamten Halbinsel Shimabara. Es bedurfte der Tat, des entschlossenen Kampfes.

Shigenobu betrachtete mit einer Zärtlichkeit, die der rauhe Krieger, welcher er war, vor sich selbst nicht zugeben wollte, die schlanke Silhouette des schönen Jünglings, den er dank seiner Freundschaft zu dessen Vater Jinbei hatte aufwachsen sehen und den er einst in aller Heimlichkeit in der Kunst des Schwertkampfes unterwiesen hatte. Aber konnte es wirklich wahr sein, dass dieser Junge …? Wie auch immer … Sobald Shirō in den Dörfern von Amakusa erscheinen würde, würde man sich ihm zu Füßen werfen, und all die armen Teufel würden ihm bis ans Ende der Welt folgen. In den Himmel oder in die Hölle. Die Christen brauchten einen Anführer, der ihnen von ihrem Gott gesandt wurde, der doch voll Mitleid mit ihren endlosen Leiden sein musste. Die Alten aus Ōyano erzählten seit siebzehn Jahren, dass Shirō niemand anders als der Verheißene der Hankan-Prophezeiung sein konnte, denn seine Geburt war von den erwarteten Zeichen begleitet gewesen. An jenem Abend schien der Himmel in Flammen gestanden zu haben, und die Kirschbäume hatten erst spät im Herbst geblüht. Ja, all dessen erinnerte sich Matsura Shigenobu sehr wohl. Und auch daran, dass die Erde gebebt hatte, viel stärker als üblich und ohne dass der Vulkan Aso sein tödliches Feuer spie.

Die Alten aus Amakusa und Arima würden sich der Prophezeiung ebenso erinnern. Die Zeit war jetzt reif, fünf mal fünf Jahre waren seit dem Hankan verstrichen, und von neuem hatte sich der Himmel purpurrot gefärbt in diesem Jahr der Dürre. Vor allem aber waren auf toten Baumstümpfen Blauregenblüten erschienen – wie bei Shirōs Geburt! Wenn doch nur Shashi Kizaemon, der älteste unter den bushi des beklagenswerten Herrn Konishi Yukinaga, auch daran glauben mochte … Shigenobu zählte auf Mori Sōiken. Er wusste von dessen eifrigem Wirken auf Shimabara.

Ja, die Zeit des Hankan war gekommen, und damit hatte die Stunde geschlagen für diese Usurpatoren, die hochmütigen daimyō, die Kyūshū an sich gerissen hatten. Dies zu sehen, bevor er starb … Dafür wollte er sogar in Kauf nehmen, sich auf die Hilfe der Bauernschaft zu verlassen, die in gewöhnlichen Zeiten in den Augen eines Kriegers nichts galt. Es würde nicht leicht werden, sie auf effektive Weise einzusetzen. Von den christlichen Samurai, die in der Lage waren, die Bauern auf den Kampf vorzubereiten, waren nur noch wenige übrig geblieben. Aber noch gab es sie, und Matsura Shigenobu war einer der ihren. Sie alle hatten eine Rechnung zu begleichen mit Terasawa Katataka, dem mächtigen daimyō von Karatsu und Herrscher über das Gebiet von Amakusa, dessen Untaten den machthabenden Tokugawa im fernen Edo gleichgültig waren. All die alten Samurai, die ihres Ranges verlustig gegangen waren, weil sie sich geweigert hatten, von ihrem Glauben abzuschwören, warteten nur auf eine Gelegenheit, gemeinsam mit den ausgebeuteten und gepeinigten Bauern gegen die Obrigkeit das Haupt zu erheben.