Amakusa Shiro - Gottes Samurai

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»Auf Moritake stehen weniger als tausend Krieger für die Verteidigung bereit, aber sechsmal so viele Leute sind dort, die ernährt werden müssen.« Tausende der Stadtbewohner waren Hals über Kopf in die Festung geflohen, verängstigt von den Gewalttaten der Aufständischen. – Über die Samurai, die sich den Rebellen hatten anschließen wollen, aber Moritake- nicht rechtzeitig hatten verlassen können, schwieg Ashizuka. Er wusste, dass mehrere Dutzend abgeschlagene Köpfe auf den Burgmauern aufgepflanzt worden waren. Mit den Worten »Moritake- wird fallen!« beendete er seine kurze Ansprache. Und wieder brach die Menge in Jubel aus.

Die Stadt Shimabara brannte, alle Waffenlager waren geplündert, aber die Burg hielt stand. Alles, was derzeit auf der Halbinsel geschah, zeigte Ashizuka, dass die Handlungen der Aufständischen unbedingt koordiniert werden mussten, damit sie nicht an Schwung verloren. Die ersten gänzlich unverhofften Erfolge sagten nichts über den Fortgang der Ereignisse aus. Alles hing von zu vielen Faktoren ab. War es die richtige Entscheidung gewesen, den Jüngling aus Nagasaki herbeiholen zu lassen, würde er sich bewähren? Wie würden die Bauern reagieren, wenn die kampferprobten Truppen des daimyō Matsukura herbeimarschierten, um die unerhörte Beleidigung zu rächen? Wenn sie feststellen würden, dass niemand da war, der die Frauen, die Kinder und die Alten schützen konnte? Sie brauchten Männer, noch viel mehr Männer, und sie brauchten Waffen. Außerdem musste Mori Sōiken, ihr erfahrenster Kämpfer, unbedingt nach Amakusa kommen, damit er selbst eine Lageeinschätzung geben konnte. Zudem konnte er unmöglich allein den Aufstand auf der Halbinsel Shimabara leiten, der unverhofft zeitig ausgebrochen war.

Eines wussten die Rōnin wie auch die anderen Anführer der Rebellen mit Gewissheit: In einer Situation wie dieser kam es darauf an, rasch und entschlossen zu handeln. Immer nach vorn gerichtet, ohne einen Gedanken an eine mögliche Umkehr zu verschwenden. Die Kräfte mussten so schnell wie möglich vereinigt werden. Ein harter Winter stand bevor.

Die Rōnin hatten beschlossen, nichts über den Angriff aus dem Hinterhalt verlauten lassen, der Shirō beinahe das Leben gekostet hätte. Shigenobu hatte sie unverzüglich davon unterrichtet; niemand konnte sich erklären, wie es zu dieser Falle hatte kommen können. Ashizuka durchforschte sein Gedächtnis nach den wenigen Personen, die von der Flucht aus Nagasaki gewusst hatten. Wer konnte der Verräter sein? Und warum war der Anschlag fehlgeschlagen? War es wirklich nichts als Glück gewesen, dass Shirō und zwei seiner Begleiter überlebt hatten? Er musste darüber mit Mori Sōiken sprechen. Aber anderes war zunächst wichtiger.

Shirō wirkte geistesabwesend. Offenbar stand er im Begriff, das ganze Ausmaß der Rolle zu erfassen, die er für diese lärmende Menge spielen sollte, die darauf wartete, die ersten Wundertaten ihres Himmelsgesandten feiern zu können …

»Segnet sie, Tendō. Ich bitte Euch, segnet sie, im Namen Gottes.«

Einer Frau war es gelungen, sich Shirō zu nähern, der sich ausruhte, und sie schubste ein kleines verängstigtes Wesen in seine Richtung. Das Mädchen mit unordentlichem langen schwarzen Haar trug abgewetzte, dünne Kleidung, die es unmöglich wärmen konnte, und es stand wie versteinert vor dem Jüngling und starrte ihn mit seinen großen Augen an.

Shirō fragte das Mädchen: »Wie heißt du?«

»Yuki«, hauchte sie nach einer Weile. Das hieß »Schnee«.

Shirō erhob sich und hockte sich vor dem Kind nieder. Er lächelte es an und strich ihm nach einem Augenblick des Zauderns über die Wange. »Schnee« erinnerte ihn an seine kleine Schwester. Die Kleine wandte sich um und warf sich ihrer Mutter in die Arme, aber sie drehte dabei den Kopf und ließ Shirō nicht aus den Augen.

Ashizuka Chūemon hatte die behutsame Geste Shirōs beobachtet und deutete lächelnd eine kleine Verneigung an, bevor er sich mit seinen Kameraden erneut zum Kriegsrat zurückzog. Die Aufständischen dürsteten nach Taten. Sie wollten ihrem Hass auf die Schreckensherrschaft der Unterdrücker, der beinahe fühlbar war in dieser gewaltgeschwängerten Atmosphäre, endlich Luft machen.

Die jüngste Geschichte, die sich auf der Insel verbreitete, war die der schwangeren Frau eines Dorfvorstehers, die sechs Tage und sechs Nächte in eisigem Wasser gefangen gehalten wurde und starb, als ihr Kind zur Welt kam. Und man zählte schon nicht mehr die Berichte über mino-odori, den Mino-Tanz, dessen bloße Erwähnung den Christen namenlosen Schrecken einflößte. Wer bei einer Razzia als Christ überführt wurde, wurde fest mit einem Mantel aus Stroh umwickelt, der daraufhin angezündet wurde. Unter den grässlichen Schmerzen verfielen die am lebendigen Leibe Brennenden in unkontrollierte Zuckungen, vergeblich versuchend, den Flammen zu entkommen. Manchmal schlugen die unglücklichen Opfer mit äußerster Kraft ihre Köpfe auf den Boden oder gegen einen Baum, um endlich das Bewusstsein zu verlieren und sterben zu können. Ihr schreckliches Gebrüll ließ das Blut der Tapfersten gefrieren. Dieses düstere Schauspiel wurde vorwiegend in der Abenddämmerung durchgeführt, und alle Dorfbewohner wurden gezwungen, dabei zuzusehen.

Matsukura Shigeharu, der Tyrann von Shimabara, hatte ebenfalls eine teuflische Methode ersonnen. Diese bestand darin, zum Tode verurteilte Christen zum »Höllenschlund« zu führen oder zu einem der zahlreichen anderen Krater, mit denen die Hänge des Unzen-Gebirges übersät waren. Dort wurden sie langsam in das kochend heiße Schwefelwasser getaucht, oder die Folterknechte übergossen ihre Körper damit, wobei ihnen zuvor oft tiefe Schnittwunden zugefügt wurden, um auf diese Weise die Qualen zu steigern. Ganze Schiffe voller Christen, die sich geweigert hatten, abzuschwören, wurden zum Hafen vom Obama gebracht und mussten dort einen wahren Kreuzweg bis zu diesen Kratern gehen. Selbst Frauen, selbst kleine Kinder … Die Folterknechte kannten keine Grenzen. Unter den Samurai, die diese Leidenszüge begleiten mussten, war mancher, der den Anblick all dieses Leids nicht ertrug und sich heimlich abwandte, um nicht bis an sein Lebensende von den alptraumhaften Bildern gequält zu werden.

All dies schrie nach Rache; im Namen all der geliebten Wesen, die unbarmherzig zerstört worden waren. Selbst, wenn die padres alles in ihrer Macht Stehende taten, um die Wogen zu glätten, indem sie daran erinnerten, dass Gott Liebe und Verzeihen sei …

5

Shimabara, Mitte Dezember 1637

Tanaka Sodayou schritt wütend auf und ab. – Er hatte rasch gehandelt. Noch bevor sich der Ring der Belagerer um seine Burg geschlossen hatte, hatte er Boten in mehrere Richtungen ausgesandt. Man hatte ihm versichert, dass keiner von ihnen abgefangen worden sei. Mehr konnte er nicht tun. Höchstens seine Wut hinunterschlucken. Unvorstellbares war geschehen. Wie hatte dieses Bauerngesindel es wagen können, den daimyō von Shimabara, seinen Meister, herauszufordern? Sie hatten Hayashi Hyōemon getötet! – Im Einverständnis mit Okamoto Jinbei, seinem Stellvertreter, hatte er sich dazu entschlossen, im Schutz der Mauern von Moritake- auf Hilfe von außen zu warten. Er hatte seine besten Reiter ausgesandt, nach dem im Osten gelegenen Kumamoto, wo der daimyō Hosokawa Tadatoshi residierte, nach Norden, in die Stadt Saga, die von Nabeshima Katsushige beherrscht wurde, und auch nach Kagoshima am südlichen Ende von Kyūshū. Aber es war ihm auch bekannt, dass diese beiden daimyō sich zur Stunde in der Hauptstadt Edo aufhielten, gemäß dem Gesetz des sankin-kōtai, das der Shōgun Tokugawa eingeführt hatte, um die Mächtigen seines Reiches unter Kontrolle halten zu können. Wären sie allzu lange Zeit von ihm entfernt, könnten sie auf den Gedanken verfallen, sich von seiner Herrschaft befreien zu wollen. Ihre Statthalter sorgten in der Zeit ihrer Abwesenheit für die Erledigung der üblichen Angelegenheiten. Entscheidungen von bedeutender Tragweite waren von diesen nicht zu erwarten.

Tanaka seufzte. Unter diesen Bedingungen konnte die Belagerung der Burg von Shimabara sehr lange dauern. Sie konnten nur hoffen, dass die Festung dieser Brandung standhielt. Was er sah und hörte, ließ nichts Gutes ahnen.

Warum hatten diese Stümper bloß Shirō und seine Männer nicht abfangen können? Er hatte rechtzeitig von dem, was sich in Nagasaki vorbereitete, erfahren und sofort einen Boten zu Takenaka Uneme, dem Repräsentanten des Shōguns, geschickt. Was war geschehen? Es konnte nicht mehr lange dauern, und die Christenhunde würden diesen Tendō, nach dem sie lauthals verlangten, in Shimabara empfangen.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, wandte Okamoto Jinbei, der in Gesellschaft einiger auf Befehle wartender Wächter auf einem tatami kniete, sich plötzlich an ihn: »Tanaka-san, wir haben genug, um uns halten zu können. Jede Menge Pfeile und Schießpulver, Wasser- und Nahrungsvorräte.«

»Und für wie viele Tage?« unterbrach Tanaka ihn abrupt. Er blieb stehen und wandte sich Okamoto zu, die Hände auf dem Rücken verschränkt, das Gesicht angespannt.

Okamoto machte eine beruhigende Geste. Sein Vorgesetzter ignorierte sie und setzte seinen fieberhaften Marsch von einem Ende des Zimmers zum anderen wieder fort. Plötzlich hielt er inne, senkte kurz den Kopf, dann schritt er rasch zum Fenster. Er sah eine wimmelnde Menschenmenge, wie gespickt mit Lanzen und Spießen, die um den Raum vor den äußeren Mauern kämpfte. Die Männer der Garnison versuchten hier, eine neue Verteidigungslinie hinter behelfsmäßigen Palisaden zu errichten, achtzig Fuß vor dem Wassergraben, in dem schon etliche Leichen schwammen. Der Lärm, der zu ihm drang, ließ keinen Zweifel an der Härte des Gefechts. Pfeile flogen hin und her. Auch Schüsse fielen von beiden Seiten, was vielleicht am beunruhigendsten war, denn es bewies, dass die Rebellen über eine größere Zahl an Musketen verfügten. In den letzten Stunden hatten seine Männer bereits mehrere Angriffswellen von den Türmen aus zurückwerfen können. Aber es wurde zunehmend schwieriger. Es schien, als ob die Wildheit der unkoordinierten Angriffe der Rebellen sich immer mehr steigerte. Das Gebrüll, die Gesänge und die Gebete von Tausenden Männern, Frauen und Kindern, die aus den umliegenden Dörfern herbeigeeilt waren, beflügelte die Angreifer.

 

Dichte Rauchschwaden standen über den Stadtvierteln, in denen noch immer Kämpfe tobten und Brände wüteten. Nacht für Nacht färbte der Widerschein der Flammen die Wolken mit düsterem Rot.

Die halbe Bevölkerung der Halbinsel, die sich von Saigō bis Kuchinotsu und von Chi Chiwa bis Shimabara erstreckte, schien bereits versammelt. Bauern, ob sie nun Christen waren oder nicht, Krieger, denen man wegen ihrer Treue zu Yaso ihre Vorrechte genommen hatte, streitsüchtige Rōnin, aber auch übergelaufene echte Samurai, die niemals Gefallen an der Gewaltherrschaft des örtlichen daimyō gefunden hatten.

Ganze Dörfer waren von ihren Bewohnern in nur wenigen Stunden verlassen worden. Alles war in Bewegung gekommen. Es war, als ob die Burg von Shimabara sich plötzlich in den Augen all dieser Menschen in ein widerwärtiges Geschwür verwandelt hätte, das es auszubrennen galt.

Die Boten, die aus Shimabara ausgesandt worden waren, um Beistand herbeizurufen, erreichten am folgenden Tag Saga. Die Söhne des daimyō Nabeshima Katsushige, Motoshige und Naozumi, fällten unverzüglich die Entscheidung, Isahaya Buzen, ihren Truppenkommandanten, mit dreitausend Kriegern an die Grenze zwischen ihrem Lehen von Hizen und dem Lehen von Shimabara zu entsenden.

Auch in Kumamoto waren die Boten Tanaka Sodayous inzwischen eingetroffen. Der dortige Kommandant, Shimizu Hōki, gab Befehl, viertausend Männer nach Kawajiri, das an der Küste gegenüber Shimabara lag, zu verlegen. Seinen Leuten war es zudem gelungen, ein Boot abzufangen, das nach Amakusa unterwegs gewesen war. An Bord waren die Mutter und die kleine Schwester Shirōs, sein Onkel Gensatsu und ein kleiner Neffe von ihm. Diese wertvollen Geiseln waren nun in Udo, Shimizus Lehen, eingekerkert. Des weiteren waren ihm christliche Boten in die Hände gefallen, die in der Provinz Higo nach der Familie Shirōs gesucht hatten. Sie wurden vor den Mauern der Stadtfestung gekreuzigt. Drei Tage dauerte es, bis die Unglückseligen den Tod fanden.

Doch die Hilfstruppen überschritten nicht die Grenzen ihrer jeweiligen Provinzen. Das eherne Gesetz des Shōguns besagte: Kein daimyō hatte das Recht, mit seinen Truppen die Grenzen seines Gebietes zu überschreiten, ohne dass hierfür eine ausdrückliche Genehmigung aus der Hauptstadt vorlag. Somit musste der entsprechende Befehl aus Edo abgewartet werden, selbst wenn es darum ging, die Ordnung im Reich wiederherzustellen.

Unterdessen wurde das Hilfeersuchen aus Shimabara langsam durch die Hierarchie des Landes weitergeleitet. Zunächst erreichte es die Stadt Funai in der weit entfernt im Norden von Kyūshū gelegenen Provinz Bungo. Hier residierten Hayashi Tamba und Makino Denzō, die Statthalter des Shōguns für sämtliche Inseln von Kyūshū. Von dort gelangte es nach Ōsaka und endlich nach Edo, wo es für großes Erstaunen sorgte.

6

Amakusa, Mitte Dezember 1637

Als die Bewohner der Dörfer Ōyano und Kozura auf der Insel Kamishima von dem Aufstand von Shimabara erfuhren, griffen sie ohne zu zögern zu den Waffen und stellten einen Trupp aus mehreren hundert Männern auf, unter denen sich nicht wenige ausgebildete Krieger befanden, die im Besitz von Musketen waren. Sie zählten damit zu den ersten, die sich für die Teilnahme am Kampf entschieden. Es dauerte nicht lange, und mehr und mehr Dörfer schlossen sich ihrem Beispiel an. Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie, wie eine unaufhaltsame Flut, zu Hunderten, schließlich zu Tausenden. Sie zu zählen wäre unmöglich gewesen. Eine lärmende Menschenmasse, Männer und Frauen, Kinder und Alte, wälzte sich herbei. Sie hatten mitgenommen, was sie tragen konnten, als sie ihre Dörfer verließen. Auf ihren Rücken und auf Karren, die unter der Last ächzten, transportierten sie Lebensmittel, Werkzeuge, Kleidung. Die Wohlhabenderen unter ihnen führten ihr Geflügel, ihre Schafe, Kühe und Wasserbüffel mit sich. Andere hatten die Gelegenheit genutzt und gewildert, so dass sie Wasservögel und Waldtiere als Proviant besaßen. Aber viele hatten sich angeschlossen, die gar nichts bei sich hatten, weil sie völlig verarmt waren.

Neuigkeiten wurden ausgetauscht, wahre und falsche, und man ermutigte einander. Furcht und Hoffnung standen den Menschen ins Gesicht geschrieben. Ihre Körper waren erschöpft und ausgezehrt, und doch empfanden sie weder Müdigkeit noch Hunger. Priester begleiteten sie, die meisten von ihnen ordinierte Japaner, aber auch einige padres aus Manila und Macao waren bei ihnen, die die Zeit der Verfolgung zurückgezogen in entlegenen Gebieten der Inseln überlebt hatten. Trotz der tödlichen Bedrohung hatten sie in den wenigen Kirchen, die der Zerstörung bis dahin entgangen waren, weiter gepredigt und Messen abgehalten.

Die Nachricht von der Anwesenheit Shirōs im Norden von Amakusa wurde von den Boten Ashizuka Chūemons in alle Himmelsrichtungen verbreitet. Dies führte dazu, dass ein Dorf nach dem andern seiner Bewohner ledig wurde. Es war wie eine einstimmige Antwort auf den lauten Ruf, sich nicht mehr in die herrschenden Umstände zu fügen. Alle wollten den Tendō sehen, diesen Sohn des Himmels, von dem die Priester seit dem Sommer immer wieder gesprochen hatten. Man erzählte sich auch, dass er, wie einst Franz von Assisi, mit den Vögeln sprechen konnte, dass er sich gleich ihnen in die Lüfte schwingen konnte, dass Vögel und Hirsche zu ihm kamen, um ihm aus der Hand zu fressen, dass er wie Yaso über das Wasser zu gehen vermochte …

Und nicht nur die Getauften verließen ihre Dörfer. Auch zahllose derer, die nichts mit der von der Obrigkeit verfolgten Gemeinschaft der Christen zu tun hatten, schlossen sich an. Auch sie fühlten, dass etwas Endgültiges geschehen war, das sie alle auf die eine oder andere Weise betraf und dem sie sich nicht entziehen konnten.

Die Nacht brach herein. Soweit das Auge blickte, flammten Lagerfeuer auf in den weiten Kiefernwäldern. Ein kalter Wind wehte. Die Gespräche waren verstummt. Was würde aus all dem erwachsen? Die einen gaben sich hoffnungsvollen Träumereien hin, andere fühlten sich beklommen.

Liturgische Gesänge erhoben sich hier und da, erst verhalten, dann zusehends an Kraft gewinnend. Sie schienen zum Himmel aufzusteigen, der manch einem der Gläubigen plötzlich greifbar nah erschien mit all seinen Sternen. Die Lieder vertrieben die Geister des Zweifels, der Mutlosigkeit. Sie waren gesungene Gebete an ihren Gott, der nicht mehr wollte, dass sie schweigend litten.

Ashizuka Chūemon und die Brüder Ōye hatten Matsura Shigenobu damit beauftragt, eine Schutzgarde aufzustellen. Die Wächter bildeten einen Ring um den Hügel, der das Hauptquartier darstellte und den niemand ohne Erlaubnis betreten durfte. Im Innern dieses Bereichs standen einige Zelte. Hier schliefen Shirō und die Männer, die als Anführer des Aufstands berufen worden waren.

Die Anführer der Rebellen saßen um ein Feuer herum. Niemand sprach ein Wort. Keiner von ihnen wünschte in diesem Augenblick, dass die Ungewissheit, die ihnen wie ein Zustand der Gnade erschien, so bald aufhören möge. Ihnen war bewusst, dass alles sehr rasch in einem Blutbad enden könnte.

Matsura Shigenobu brach den Bann. Er sagte: »Iijima Heizaemon ist den ganzen Tag zu Pferd unterwegs gewesen, um die echten Krieger in der Menge ausfindig zu machen. Insgesamt sind es mehrere Hundert bushi. Sie haben Waffen, auch viele Feuerwaffen, die sie in den Lagern der Polizei des Shōguns erbeutet haben. Und sie werden ihr Wissen und ihr Können den im Kampf noch unerfahrenen Männern nun rasch vermitteln.«

Zufriedenes Gemurmel war zu vernehmen.

»Aber es sind Musketen kleinen Kalibers, nicht wahr?« bemerkte Hakuodo Yusai, ein Krieger, der einst in den Diensten des christlichen Klans der Otomo gestanden hatte.

»Sou desu – so ist es, ich weiß. Um eine Rüstung sicher zu durchschlagen, braucht es größere Kugeln. Aber es wird reichen, um anstürmende Reiter durch Salven davon abzuhalten, allzu nahe zu kommen. Unsere Bogenschützen werden den Rest erledigen.«

»Ich wünschte, es wäre so, Shigenobu-san, wir alle wünschten es. Aber eine intensive Ausbildung wird erforderlich sein. Die Krieger von Shimabara sind in Fukaiemura überrumpelt worden, aber nun wird niemand mehr überrascht sein. Die Burg ist durch ihre Mauern gut geschützt, und solange sie uns nicht in die Hände gefallen ist, können wir nicht von dort abziehen«, sagte Hakuodo Yusai. Er zählte zu jenen, die der Ansicht waren, dass man so schnell wie möglich den Süden von Kyūshū verlassen musste, um auf Edo zu marschieren. Er hoffte darauf, das ihre Streitmacht immer größer würde, damit der Shōgun ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen musste. Oder um wenigstens zu erreichen, dass die Christen im Süden des Landes nicht mehr verfolgt würden. Das war ein Traum, den viele mit ihm teilten.

Lange Zeit sprach niemand, und nichts als das Knacken der Äste im Feuer war zu vernehmen. Alle hingen ihren Gedanken nach.

Schließlich ergriff Ashizuka das Wort. »Sōi ist noch in Shimabara. Er ist nicht nur gut im Schwertkampf, sondern auch ein ausgezeichneter Stratege. Er wird wissen, was zu tun ist.«

Niemand war durch diese Worte sonderlich beruhigt.

»Was wir bisher erfahren haben, bedeutet nichts Gutes. Der Ortskommandant, Tanaka Sodayou, hat sich bestens hinter seinen Steinmauern verschanzt. Was nötig wäre, sind Kanonen, und die hat Mori Sōi nicht.«

»Es nutzt nichts, von Kanonen zu träumen. Mori Sōi hat zweifelsohne einen Plan. Wie es scheint, sind viele Männer bei ihm. Viele echte, erfahrene bushi

Von neuem legte sich Schweigen über die Runde. Unausgesprochene Zweifel schienen in der Luft zu schweben.

Aus weitem Umkreis drangen christliche Gesänge zu ihnen. Niemand schlief in dieser magischen Nacht. Shirō vermutlich auch nicht, aber man hatte ihn genötigt, sich ins Zelt zu begeben, um sich auszuruhen.

»Mori sollte jetzt bei uns sein.«

»Wir sollten bei ihm sein, dort, denn dort hat alles angefangen.«

»Das ist wahr«, sagte Ashizuka, der Anführer der Rōnin, mit fester Stimme. »Du hast recht, Hanshiro. Wir müssen diese Insel verlassen und aufs Festland übersetzen, um uns denen anzuschließen, die bei Mori Sōi sind. Und das so schnell wie möglich.«

»Und was soll mit all diesen Leuten geschehen, die nicht wissen, wie man kämpft, aber die ernährt werden müssen?«

»Auch sie haben hier nichts mehr verloren. Wir nehmen sie mit uns. Aber zuerst müssen wir die Festung von Tomioka einnehmen. Dort gibt es Waffen und Lebensmittelvorräte.«

Endlich begann sich eine konkrete Vorstellung von den nächsten Schritten abzuzeichnen. Plötzlich näherte sich der kleinen Versammlung ein schmaler Schatten. Etliche von ihnen erhoben sich, als sie im Licht der letzten Flammen des Feuers erkannten, um wen es sich handelte. Das unerwartete Erscheinen Masuda Shirōs war wie ein Zeichen, ein Versprechen für den nächsten Tag.

»Ich schlafe nicht mehr als ihr, Kameraden. – Ashizuka hat recht. Wir alle brauchen einander. Ich werde mit euch nach Shimabara aufbrechen, sobald wir hier fertig sind. Gott ist mit uns. Ich habe Vertrauen.«

Es war, als wäre eine neue Kraft direkt aus der schlummernden Erde aufgestiegen. Der Gesandte hatte ihre Sorgen und Befürchtungen zerstreuen können. Nur er hatte das vermocht. Die rauhen Krieger, von denen einige den Jüngling bisher nur aus der Ferne gesehen hatten, näherten sich ihm ehrfürchtig, manche setzten sogar ein Knie auf den Boden. »Tendō«, hörte man sie murmeln.

Shirō hatte sich auf diese Begegnung nicht vorbereitet. Er hatte gedacht, dass ihm noch ein wenig Zeit vor seinem großen Auftritt als offizieller Anführer der Rebellen bleiben würde. Er hatte den Moment, in dem er sein Selbstbild mit dem, was die anderen von ihm erwarteten, eins werden lassen musste, noch hinauszögern wollen. Mein Gott, dachte er, ich bin noch nicht bereit.

Einen Moment lang wirkte er unentschlossen. Shigenobu hatte sich unauffällig an seine Seite geschoben, und Shirō fühlte sich durch seine Gegenwart etwas beruhigt. Er erwiderte die Grüße. Plötzlich nahm er wahr, dass sich außerhalb des Kreises der Krieger, die in der Nähe seines Zeltes gewacht hatten, eine Mauer aus Schatten gebildet hatte, die sich in vollkommener Stille näherte.

 

Stimmen begannen zu murmeln: »TendōYaso Kirishito …« Es war wie ein Gebet, das der Menge derer entstieg, denen es gelungen war, im Schutz der Dunkelheit in den verbotenen Bereich um die Zelte herum einzudringen. Bewaffnete Männer, Bauern, Frauen, Kinder, Alte, sie alle teilten dieselbe Hoffnung, denselben Mut. Shirō bekreuzigte sich, und alle taten es ihm gleich, selbst jene, denen die genaue Bedeutung der Geste nicht bekannt war. Ein Lied erhob sich, ein Gesang, der weithin durch die Nacht schallte.

Mit der linken Hand am Griff seines Schwertes trat Ashizuka Chūemon nach vorn, aufrecht in seiner Kriegerkleidung: ein violetter hakama, verschnürt über einem gefütterten Waffenrock, und über diesem ein brauner jimbaori. Er wartete lange, dass der Gesang abflaute. Dann ergriff er mit lauter, weittragender und befehlsgewohnter Stimme das Wort. »Morgen werden wir vor den Mauern der Festung von Tomioka stehen! Der Kampf, unser Kampf, beginnt. – Für unseren Glauben! Für unseren Gott und seinen gekreuzigten Sohn!« Mit einer theatralischen Geste wies er auf Shirō. »Und hier steht der neue Messias!«

Immer lauter werdende Rufe unterbrachen seine Rede. Überall im großen Kiefernwald wurden die Rufe aufgenommen, wurden immer durchdringender, bis sie fast an Schmerzensschreie erinnerten.

»Jesus! Maria! Tendō

Noch einmal gelang es Ashizuka, sich Gehör zu verschaffen. »Hier steht Masuda Shirō, Sohn des Samurai Masuda Jinbei, gekommen, um uns zu retten. Shirō ist mit euch, hier auf Amakusa!«

Und wie mit einer einzigen Stimme aus Hunderten Kehlen, rief die Menge wieder und wieder den Kriegernamen, den der alte Samurai dem Jüngling verliehen hatte, welchen er aus Nagasaki hatte holen lassen und dessen Vater bis zu seinem Tod unter dem Namen Amakusa Jinbei im Herzen des Widerstands gestanden hatte: »Shirō! – Amakusa! Amakusa Shirō!«

Wer Waffen hatte, hob sie in die Luft, schwenkte sie, als sollte auf diese Weise der Himmel als Zeuge angerufen werden.

Ashizuka war mit sich zufrieden. Es hätte nicht besser kommen können. Die Zukunft war voll Verheißungen. Sein Herz schlug schnell in der Brust, und er überließ sich einen Augenblick lang ganz dem Gefühl des Glücklichseins. Schließlich warf er ein Stück trockenes Holz in die Glut des Feuers, von dem sogleich unter lautem Prasseln Funken hoch aufstiegen. Sollte das Feuer doch wieder brennen. Niemand war mehr müde, und der morgige Tag konnte warten.

Am Ende war es aber Shigenobu, der als letzter einschlief in dieser langen Nacht. Nahe seinem Shirōdayou, den, wie er fühlte, der Zwischenfall nach dem Aufbruch aus Nagasaki noch immer bewegte. Es war seine erste Begegnung mit einer tödlichen Gefahr gewesen, und ein Mensch hatte sich für ihn geopfert. Man hatte Boten ausgesandt, die seine Mutter und seine Schwester herbeiholen sollten, aber sie waren noch immer nicht nach Ōyano zurückgekehrt. Er betete aus tiefstem Herzen zu Gott, dass dieser endlich diese wühlende Unruhe von ihm nehmen würde.

Shirōs Tagebuch

Amakusa, am 28. Tag des 10. Monats des 14. Jahres der Ära Kan’ei

(14. Dezember 1637)

Ich war nicht da, als das Feuer ausbrach …

Ich bin hier, auf Amakusashima, während so viele Menschen schon in Shimabara gefallen sind, wie man mir sagte. Bin ich hier an meinem Platz? All diese tapferen Menschen zählen auf mich, als könnte ich sie mit einer einzigen Geste von allem, was sie seit so langer Zeit bedrückt, befreien.

Wird die Kraft meines Glaubens reichen? Wer bin ich denn, bei all dem, was hier im Werden ist?

Der Gesandte, sagen sie. Ich sei der Gesandte und müsse diese Soldaten Christi führen. Das hat Pater Jakob mir gesagt. Viele von diesen Menschen werden sterben. Auch Frauen, auch Kinder. All diese armen Menschen.

Ich habe von Blut geträumt, und siehe, jetzt ist es nicht mehr nur ein Traum. Mein Wissen und meine Jugend, hast du gesagt, Shigenobu … Wird das ausreichen in diesem Sturm, der sich erheben wird? Keine Zeit mehr für Zweifel. Ich bin der Sohn des Samurai Masuda Yoshitsugu Jinbei, eines Getreuen des Yaso Kirishito. Vater, gib mir die Kraft …

Doch Gott, der Herr, wollte das Leben bringen und nicht den Tod. Aber es ist verboten, Sein Wort zu verkünden, also muss gekämpft werden. Damit wieder gepredigt werden darf.

Oh, all diese Gesänge in der Nacht. Wisst ihr denn, was uns morgen erwartet?

Ich bin sehr müde. Mögen die Heiligen des Paradieses mir endlich Schlaf schenken.

O-negai itashimasu! – Ich bitte euch demütig!

Ich werde stark sein.

Ich weiß um das Vertrauen, das ihr in mich gelegt habt.

7

Amakusa, Mitte Dezember 1637

Yamada Emonsaku kehrte einige Stunden später zurück. Die Nacht war noch kaum der Dämmerung gewichen. Sein Haar, das er nach Art der Rōnin offen trug, war von Schweiß und Staub verklebt. Der jüngste der fünf Rōnin war ein schöner Mann mit breiten Schultern. Eine große innere Kraft ging von ihm aus, die seinen Ruf als Krieger unterstrich. Er sprang von seinem Pferd und eilte zu Ashizuka und Shigenobu, die, als sie den Hufschlag vernommen hatten, aus dem Zelt getreten waren.

»Ich komme nicht allein. Von überall her sind Männer unterwegs, die zum Kampf bereit sind. Sie haben Musketen und Pferde. Auch die padres Thomas und Simeon sind auf dem Weg.« Er lächelte. »Und Aoyagi kommt bald mit den Kindern. – Welch großer Tag, Kameraden!«

Obwohl er müde sein musste nach einer Nacht auf dem Pferderücken, die ihn über die ganze Insel geführt hatte, leuchteten seine Augen vor freudiger Aufregung. Sein kleiner Schnurrbart unterstrich die Bewegungen seiner Lippen, die von der Feuchtigkeit des Morgennebels glänzten. Jedermann wusste, dass die Yamadas eine Familie waren, die stets zusammenhielt. Die Nähe seiner Frau Aoyagi und seiner Kinder würde Emonsaku in den kommenden Prüfungen zu einem unerschütterlichen Fels werden lassen.

Ashizuka ergriff ihn bei den Schultern. Auch seine Augen blitzten vor Freude: »Sou desu! Ja, ein großer Tag! Ich freue mich, dich hier zu sehen, Emonsaku. Nur Mori Sōi fehlt noch, er hat alle Hände voll zu tun in Shimabara. So tapfer er auch ist, er ist ganz allein in einer Situation, die wir nicht vorhergesehen haben. Wir dürfen hier nicht länger verharren.«

Ōye Matsuemon, der sich zusammen mit seinem Bruder den beiden zugesellt hatte, sagte: »Sobald wir Tomioka genommen haben, rudern wir nach Shimabara!«

»Matsuemon! Genuemon!« rief Yamada. »Und … der Tendō?« Er brannte darauf, Masuda Shirō endlich mit eigenen Augen sehen zu können. Er hatte Ashizuka sein volles Vertrauen geschenkt bei dessen Wahl des Bannerträgers in diesem Abenteuer. Ashizuka hatte für sich allein entschieden, dass Shirō die Inkarnation des Messias sei, den alle Welt auf diesen Inseln erwartete. Er war zu dem Schluss gekommen, dass dieser Jüngling, der Sohn seines Freundes Jinbei, tatsächlich der in der Hankan-Prophezeiung Angekündigte war. Die anderen Rōnin hatten dies akzeptiert.

»Da bist du also, Yamada Emonsaku. Ich habe schon viel von dir gehört«, sagte auf einmal eine sanfte Stimme.

Yamada, überrascht vom plötzlichen Erscheinen Shirōs, verneigte sich und machte das Zeichen des Kreuzes. Der Rōnin hatte sofort begriffen, wer dieser charismatische Jüngling war.