Koshiki Kata

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Zeit der Reife?

Lange Zeit kamen die Karateka der westlichen Länder nur langsam voran, ihre Kenntnisse im Karate blieben elementar, und ihr Wissen über die Kata stagnierte in den Anfängen. Damals stürzten sich die Kampfkunstenthusiasten auf die Lehrgänge, die durch japanische Experten abgehalten wurden, von denen die meisten jedoch ihr heißbegehrtes Wissen für gewöhnlich recht knausrig weitergaben. Aber die Möglichkeit, eine neue Kata erlernen zu können, in welcher Form auch immer, ließ einen über alle Mängel hinwegsehen. Man nahm es hin, daß die verschiedenen Kampfkunstexperten die gleiche Kata teilweise etwas unterschiedlich ausführten, man akzeptierte die Ungenauigkeiten und Fehler, die unter diesen Umständen unvermeidlich waren, und man arrangierte sich damit, daß selbst ein und derselbe Experte mitunter von einem Jahr zum anderen Bewegungsabläufe veränderte. Man wollte endlich Zugang erlangen zu jenen Kata, die manchmal als „höhere“ bezeichnet werden, weil sie nur den Trägern höherer Dangrade gezeigt wurden. Auf diese Weise glaubte man, das Karatedô besser begreifen, zu seiner wahren Wirkung vordringen zu können. Durch diese jugendliche Ungeduld, den verständlichen Heißhunger der neuen Adepten der Kampfkunst, verankerten sich allerdings auch manche Irrtümer und falsche Vorstellungen.

Indem namhafte Experten ihr Wissen bloß häppchenweise vermittelten, banden sie ihre Anhängerschaft immer fester an sich. Sie prägten den Kata, die sie lehrten, ihre persönliche Note und originelle Variationen auf und modifizierten sie somit. In der Folge kam es dann zu Spaltungen, die selbst Karateka ein und derselben Stilrichtung voneinander trennten. Die „Alten“ werden sich noch lange an die „Kata-Schlacht“ erinnern. Dieser Kampf wurde auf raffinierte Weise mittels eifersüchtig gehüteter Formen, Exklusivitäten, sorgfältig aufrechterhaltener Unklarheiten und künstlicher Erschwernisse hinsichtlich der Bunkai ausgetragen. Mitunter waren die Unterschiede aber auch schlichter Unwissenheit der Experten geschuldet. Solches Nichtwissen verlor allerdings seine Unschuld in dem Augenblick, wo es als angebliches Geheimwissen getarnt wurde. Der Streit der Spezialisten wurde bis heute nicht gänzlich beigelegt. Anhänger und Gegner einer bestimmten Variante verfügen über gleichermaßen gute Argumente, was letzten Endes nur eines beweist: Was immer man über eine Kata sagt, wie immer man sie interpretiert, ab einem bestimmten Niveau des Verständnisses bleibt sie stets sie selbst. Dies setzt natürlich voraus, daß gewisse Grundzüge gewahrt bleiben. Hinter Dogmatismus verbirgt sich oftmals nichts weiter als eine fragmentarische Kenntnis der Dinge. Der durchschnittliche Karateka verlor in diesem Streit allzuoft einfach jede Orientierung, und dies gilt nach wie vor.

Dennoch haben sich die Zeiten geändert. Viele Karateka hohen Niveaus aus Europa und Amerika sind mittlerweile nach Japan, an die Quelle ihrer Kunst, gereist und haben von dort vollkommen klare und gut beherrschte Ausführungsformen der Kata mitgebracht. Auch sind seit damals zahlreiche Veröffentlichungen erschienen, die jene Kata allgemein zugänglich werden ließen, die allzu lange einer Handvoll sich für eine Elite haltender Glückspilze im Umfeld einiger Wissensträger vorbehalten waren. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, eine Befreiung aus der Abhängigkeit. Die Demokratisierung der Kata, aller Kata einer Stilrichtung, bedeutete schließlich, daß ein freier Zugang zur authentischen Kultur des Karatedô möglich wurde. Niemand mußte sich mehr mit frustrierenden Bruchstücken, mit deformierten Häppchen abspeisen lassen. Die ungerechtfertigten und unbegreiflichen Hemmnisse waren beseitigt. Die großartige Entwicklung des Karate in den letzten Jahren hat einige Riegel aufspringen lassen und einige vorgebliche Dogmen revidiert.

Man kann nun einwenden, daß unter diesen Bedingungen die Gefahr, sich von der Tradition zu entfernen, nur noch größer geworden ist. Besagt doch deren Weisheit, daß nur durch langsames Fortschreiten echtes Wissen entsteht. Damit der Schüler das Wissen korrekt aufnehmen kann, muß es ihm der Meister zum rechten Zeitpunkt vorsichtig und mit Fingerspitzengefühl offenbaren. Dieser Einwand ist voll und ganz berechtigt. Aber einerseits hat sich heute das vertrauliche Lehren im Rahmen einer kleinen Gruppe überlebt oder ist zumindest zur Ausnahme geworden, und andererseits, ob man dies wahrhaben will oder nicht, haben der Einfluß der Massenmedien und der modernen Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten einige Regeln des Spiels außer Kraft gesetzt.

Der moderne Karateka kann unmöglich außerhalb seiner Zeit leben, wie es ihm vielleicht vor hundert Jahren noch möglich gewesen wäre. Es ist fruchtlos, auf der Grundlage veralteter Ansichten argumentieren zu wollen. Will der Karateka von heute auf der Höhe seiner Zeit sein, muß er so früh wie möglich die Karten des Spiels kennenlernen, das er beherrschen lernen will, auch wenn er noch nicht weiß, wie sie richtig einzusetzen sind. Warum sollte man denjenigen, die die ersten Stufen im Karate bewältigt haben, nicht die Reife zutrauen, selbst zum richtigen Zeitpunkt das Passende auszuwählen? Dies mag eine Utopie sein. Aber dennoch: Die Zeit der künstlichen Beschränkungen auf dem Gebiet der Kampfkünste ist vorüber. Das Budô unserer Epoche ist doch auch – und möglicherweise vor allem – eine Form, individuelle Freiheit zu erlangen, indem man frei und vollkommen über sich selbst – den Körper und den Geist – zu verfügen lernt. Und Freiheit gibt es nur, wenn man zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen kann. Was – hoffentlich – bleibt, sind freiwillige Beschränkungen, die es ermöglichen, ein wirklich tiefgründiges Verständnis zu erlangen. Jeder muß selbst abschätzen, was sich hinter der alten Weisheit, „sich langsam zu beeilen“, verbirgt. Jeder muß lernen, sein eigenes Richtmaß zu finden, seine Etappen abzustecken, seinen Rhythmus zu finden und Hindernisse zu akzeptieren. Dabei sind Beharrlichkeit wie auch Bescheidenheit gefragt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann es tatsächlich durchaus sinnvoll sein, sich auf die Intelligenz des Schülers bei dessen Auswahl zu verlassen, und dies zu einem früheren Zeitpunkt, als es einst üblich war.

Die neue Begeisterung für die Kata ist eine großartige Sache, an deren Wiederkehr ich immer geglaubt habe, trotz aller Versuchungen, die ein Karate, das auf den Wettkampf oder auf seine spektakulären Aspekte reduziert wurde, darstellte. Ich will jedoch an dieser Stelle nachdrücklich darauf hinweisen, daß ein Buch lediglich die äußere Form vermitteln kann. Kein Wort, kein Bild vermag den wahren Reichtum einer Kata darzustellen. Dieser kann nur durch die Praxis entdeckt und erlebt werden. Eine Kata zwischen die Seiten eines Buches, ja, selbst in ein Video zu zwängen, ist kaum möglich. So etwas ist bereits bei einer isolierten Einzeltechnik nicht einfach. Die Beschreibung der Kata ist nur eine Art „Umkleidung“. Der tatsächliche Inhalt ist eine andere Angelegenheit. Dennoch, eine Umkleidung, die nicht allzu schwer zu „öffnen“ ist, ist bereits ein ermutigender Anfang.

Dieses Buch ist als echtes Praxis-Handbuch konzipiert, das den Praktiker bis an die Grenze dessen zu führen vermag, was überhaupt durch Beschreibungen vermittelbar ist. Ich hoffe, daß jene, die es nutzen werden, genügend Erfahrung im Karate angesammelt haben, und daß sie so vernünftig sind zu wissen, daß jeder übermäßige Heißhunger abträglich für das Verinnerlichen der Formen ist. Daß die Kata für die Entwicklung des Selbst geschaffen wurden und nicht dafür, Wertschätzung in den Augen anderer zu gewinnen, gilt für die Koshiki Kata in besonderem Maße.

Viele von Ihnen werden all dies bereits intuitiv gewußt haben. Lassen Sie sich nicht von den Erscheinungsformen und Versuchungen eines modernen Karate, das mehr und mehr zum Spektakel verkommt, irritieren. Vertrauen Sie darauf, daß nur die Kata, die auf hohem Niveau und in vollkommener Selbstlosigkeit praktiziert wird, Sie begreifen lassen wird, was die „Kunst der leeren Hand“ tatsächlich bedeutet. Sie werden schließlich unterscheiden lernen, was wirklich zu dieser Kunst gehört und was nicht, und Sie werden erkennen, was unbedingt bewahrt bleiben muß, wenn alles andere vergessen sein wird.

I

Die Koshiki Kata des Karate: Grundlage und Gestalt


Die klassische Kata und die traditionelle Kata: zwei Ebenen der Erforschung und des Verständnisses

Ich schrieb in einem meiner Bücher8, daß die Kata sowohl im Karate als auch in sämtlichen fernöstlichen Kampfkünsten das ist, „von dem alles ausgeht und zu dem alles eines Tages zurückkehrt“. Die Kata ist das erste, womit der Anfänger im Karate beginnt, und sie ist die letzte Form der Praxis, die der Karateka im Alter ausübt. Natürlich ist dies nur eine oberflächliche Beschreibung. Es ist richtiger zu sagen, daß der Anfänger damit beginnt, eine Kata zu üben, weil dies eine Aufgabe ist, die in jedem Dôjô, das etwas auf sich hält, gestellt wird. Der Anfänger wird noch nicht versuchen, herauszufinden, was genau eine Kata eigentlich ist. Er lernt die Kata, weil er keine andere Wahl hat, und natürlich auch, weil er jene Kata „beherrschen“ lernen möchte, die er benötigt, um höhere Graduierungen zu erhalten. Der Graduierte hingegen hat die Wahl. Er praktiziert die Kata aus freien Stücken, weil er sie begriffen hat. Der erfahrene, in die Jahre gekommene Karateka übt die Kata weiterhin, weil er mit dem, was er tut und dessen Sinn er begriffen hat, verwachsen ist. Und eines Tages ist dies die einzige Form seiner Kunst geworden, die er übt.

 

Jahre der Praxis, eine lange technische und geistige Entwicklung führen dazu, daß die Wahrnehmung der Dinge, seien sie sichtbar oder unsichtbar, sich wandelt. Ein neues Verständnis der Kata bildet sich heraus. Die Kata ist nun nicht mehr ein symbolischer Kampf mit mehreren Gegnern nach festen Regeln, die vor langer Zeit unverrückbar festgelegt wurden. So erscheint sie lediglich am Beginn des Weges. Gegenstand dieses Buches ist hingegen die veränderte, gereifte Wahrnehmung der Kata, das neue Verständnis, das sich dem Praktiker nach vielen Jahren eröffnet. Solch eine Absicht leuchtet natürlich nicht ohne weiteres ein. Es erscheint zunächst schwer vorstellbar, wie eine „mündliche Tradition“9 durch die Seiten eines Buches vermittelt werden soll. Hinzu kommt, daß nicht wenige Bestandteile dieser mündlich übermittelten Tradition im 20. Jahrhundert verlorengegangen sind. Die modernen Techniken der Ton- und Bildaufzeichnung sind zu spät gekommen.

Es darf nie vergessen werden, daß die Geschichte jeder Kata sich vor dem Hintergrund dreier bedeutender kultureller Umbrüche abspielte. Jeder Umbruch bedeutete einen Verlust an Wissen, sowohl, was die Form der Kata, als auch, was ihre Grundlagen anging. Zunächst, vor etwa zwei Jahrhunderten, teilweise aber auch schon eher, erfolgte die Umwandlung des Tôde10 in das Okinawa te, das heißt, die chinesischen Nahkampftechniken wurden auf die Insel Okinawa übertragen und an das dort bereits Bestehende angepaßt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandelte sich das Okinawa te zum Karatedô. Dies bedeutete eine erneute Übertragung, verbunden mit neuerlicher technischer und kultureller Verarmung, was diesmal den Verschiedenheiten der Gesellschaftssysteme auf Okinawa und in Japan sowie den unterschiedlichen Mentalitäten und Sichtweisen der Okinawaner und der Japaner geschuldet war. Die dritte Wandlung erfolgte schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich das Karatedô zum modernen und sportorientierten Karate entwickelte, was mit einem weitgehenden Schwinden der kriegerischen Zweckbestimmtheit verbunden war. Modifikation, Verlust und Verarmung wurden zum weltweiten Phänomen, das in Japan mit seinem unbändigen Drang nach Modernität und Effizienz seinen Ausgang nahm.

Man zählt rund 60 „klassische“ Kata, die spätestens im 19. Jahrhundert entstanden sind. Manche von ihnen haben noch immer erkennbare Wurzeln, die anscheinend bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Es ist nicht unbedingt notwendig, sie alle zu studieren, um erkennen zu können, was sich unter der Oberfläche der Kata befindet. Bereits das tiefgründige Erforschen einer einzigen Kata mit aller erforderlichen Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit kann ausreichen, das „Erwachen“ zu bewirken. Auf dieser Erkenntnis beruht auch die alte Weisheit „Hito kata san nen“ („drei Jahre für eine Kata“) und gleichermaßen der Begriff der Tokui-Kata, der bevorzugten Kata eines Praktizierenden, die er viele Jahre lang übt und verfeinert. Natürlich kann im Laufe des Lebens eine bevorzugte Kata mehrere Male durch eine neue abgelöst werden. Das hängt davon ab, wie sich die technischen Fertigkeiten des Karateka und seine Fähigkeit, das „Innere“ der Kata zu erfassen, entwickeln, oder es liegt an seiner körperlichen Eignung für diese und jene Technik, welche sich mit dem Alter ändern kann. Aber ein solcher Wechsel ist weder erforderlich noch unabwendbar. Es ist sehr gut möglich, daß eine am Anfang getroffene gute Wahl dem Karateka ermöglicht, sein ganzes Leben einer oder zwei Kata treu zu bleiben. Es gibt nicht wenige Beispiele aus der Vergangenheit, wo ein Meister weitbekannt dafür war, eine bestimmte Kata auf beispielhafte Weise zu beherrschen.

In jüngerer Vergangenheit vervielfältigte sich die Zahl der Kata, die in einer Schule oder innerhalb einer Stilrichtung praktiziert werden, und es entstanden eigene Varianten überlieferter Kata. Das, was wesentlich ist, wurde auf eine Vielzahl von Formen verteilt, die unter dem Aspekt der „inneren Suche“ eher nutzlos sind.11 Das Wahrhaftige ist durch den Schein abgelöst worden; der Wald ist vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Diese Situation besteht nun seit über 80 Jahren, seit Funakoshi Gichin Anfang der 20er Jahre nach Japan ging und dort eine erste Zusammenstellung von Techniken des okinawanischen Karate vorstellte. Diese Entscheidung Funakoshis wurde seitens der Meister, die auf der Insel verblieben waren, keineswegs einhellig begrüßt, und sie ist die Ursache dafür, daß mitunter die Gesamtheit des Werkes jenes Mannes, der oft als Vater des modernen Karate angesehen wird, in Frage gestellt wird. Auf jeden Fall bewirkte sie, daß das Verständnis dessen, was authentisches Karate darstellt, sich weitgehend gewandelt hat.

Der sogenannte „zivilisierte“ oder „fortschrittliche“ Teil der Menschheit im 20. Jahrhundert glaubte daran, daß Reichtum nur aus dem Überfluß kommen könnte. Das führte zum Streben nach immer mehr – und dies so schnell wie möglich. So war man übersättigt und doch auch immer hungrig. Das Gebiet der Kampfkünste bildete hier keine Ausnahme. Einer versuchte den anderen mit seinen Techniken zu übertrumpfen, trügerische Verkürzungen wurden gewählt, Scheinbares zum Wirklichen erklärt, falsche Werte „offiziell“ anerkannt. All dies erweckt den Anschein einer Flucht nach vorn durch dichten Nebel. Doch es hat auch dazu geführt, daß inzwischen zahlreiche Karateka das Gefühl beschlichen hat, daß sich hinter all dem Wirrwarr noch etwas anderes befinden muß. Sie ahnen, daß ein weniger oberflächliches Praktizieren mit der Zeit weit mehr bewirken kann, als das Ego von Zeit zu Zeit zufriedenzustellen, daß auf diese Weise ein Erfahrungsschatz gewonnen werden kann, der von Dauer ist und der letztendlich eine in jeder Hinsicht höhere Lebensqualität zur Folge hat. Die Frage lautet nun, ob ihre Ausdauer, einen solchen Weg zu beschreiten, ausreichend sein wird.

Zahlreich und entmutigend sind die Hindernisse auf dem Weg des Suchenden. Und etliche, die der Entwicklung des Karate zum Sportspektakel überdrüssig sind, folgen diesem „neuen“ Weg auch nur deswegen, weil es derzeit modern erscheint, zu den Quellen zurückzukehren. Das Wissen über den historischen und kulturellen Hintergrund des Karatedô ist bei den daran Interessierten und selbst bei vielen Hochgraduierten oft erschreckend gering, und dies trifft sogar auf manchen hochrangigen Karateka in Japan zu. Das stellt ein ernstes Problem dar, denn letztere verdrehen mitunter die Tatsachen und erzählen leichtfertig den größten Unsinn, wodurch sie große Verwirrung stiften. So werden beispielsweise der einen oder anderen Kata Eigenschaften zugesprochen, die sie schon aufgrund ihrer Konzeption gar nicht haben kann. Auf diese Weise kann es geschehen, daß eine von ihrem Schöpfer für den Kampf bestimmte Kata mit einer Kata verwechselt wird, die ausschließlich der Entwicklung der inneren Energie dienen soll. Oder es wird vom kulturellen oder geistigen Niveau eines historischen Meisters der Kampfkünste geredet, ohne daß der Bezug zum kulturellen Niveau seiner Zeit oder seines Umfelds hergestellt wird.12

Weitere Verwirrung stiftet das häufige Verwechseln von „klassischen“ und „traditionellen“ Kata. Zwischen beiden gibt es einen feinen, aber sehr bedeutsamen Unterschied. Die klassische Kata ist eine Abfolge von Bewegungen und Körperhaltungen, die unwandelbar weitervermittelt wird, aber sie vermittelt nicht immer eine Botschaft (beispielsweise religiöser Natur). Alle Kata, in denen eine bestimmte Tradition fortlebt, sind offenkundig alte, klassische Formen. Der umgekehrte Fall gilt hingegen nicht immer. Man kann nicht über irgendeine Kata mit der Begründung, sie sei alt, beliebige Behauptungen aufstellen. Auch treffen bestimmte Dinge nur auf Teile einer Kata zu. Finden sich beispielsweise mehr oder weniger deutliche kulturelle, religiöse oder energetische Anhaltspunkte in einem bestimmten Abschnitt einer Kata, so wäre es doch vermessen zu behaupten, die gesamte Kata sei hierdurch charakterisiert.

Die alten Kata sind Botschaften einer Tradition, gewiß auch Träger bedeutender Lehren, die dem modernen Menschen helfen können, die Welt besser zu begreifen und ein besseres Leben zu führen. Aber dieses in ihnen verborgene Wissen offenbart sich erst dem, der dazu „bereit“ ist, und dies geschieht dann in Gestalt von flüchtigen Eingebungen, die mehr oder weniger häufig auftreten. Nach und nach stellt sich so eine neue Wirklichkeitssicht ein. Die Bewegungsfolgen und Körperhaltungen einer klassischen Kata so genau wie möglich zu kennen und zu üben, führt jedoch nicht zwangsläufig dazu, die zweite Stufe des Verständnisses zu erreichen, das heißt, die traditionelle Botschaft zu erkennen, die in der Bewegungsfolge enthalten ist. Die erste Stufe des Verständnisses der Kata – das „äußere“ Begreifen – kann die zweite Stufe, das „innere“ Begreifen, zur Folge haben, aber dies geschieht nicht von allein. Die beiden Arten, eine Kata geistig zu erfassen, sind nicht völlig voneinander unabhängig, sondern stellen parallele Prozesse dar. Beide müssen behutsam und ohne Vorurteile angegangen werden. Die Teile des auf diesem Weg erlangten Wissens sind mit den Scherben eines alten Tongefäßes vergleichbar. Fügt man sie voreilig zusammen, kann es geschehen, daß manche Scherbe verkehrt eingesetzt wird. Und beim vorschnellen Versuch, die alten Farben aufzupolieren, ist schnell das ganze Bild verfälscht.

Es ist ein mühseliges Unterfangen, das Studium der klassischen Kata zu beginnen. Es gibt keine wirklich vertrauenswürdigen alten Dokumente über sie, und ihr Weg durch die Zeit stellt einen langen Erosionsprozeß dar. Es lauert die Gefahr falscher Entdeckungen, die neue Irrtümer nach sich ziehen und am Ende den gerade noch sichtbaren Pfad vollkommen vernebeln könnten. Das Risiko, den klassischen Kata irreparablen Schaden zuzufügen ist groß, wenn man versucht, sie übereilt aus zerbrechlichen Fragmenten zu rekonstruieren.

Immerhin: noch existieren diese Fragmente, und dies zu zeigen, werde ich in diesem Buch versuchen. Zunächst war es mir jedoch wichtig, vor den Gefahren zu warnen und anzuregen, die Dinge mit Bedacht zu betrachten. Es wäre nicht im Sinne des Autors, wenn jemand dieses Werk in der Absicht verwendete, eine neue Variante einer bestimmten Kata zu lernen, um dank ihrer exotischen Couleur für einen Moment vor anderen glänzen zu können.