Koshiki Kata

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Die klassische Kata als Arbeit mit der inneren Energie

Das Wesen der klassischen Kata liegt jenseits der einfachen Techniken. Dennoch: Ohne diese Techniken zu meistern, ist der Zugang zum „inneren“ Bereich nicht möglich. Auf dieser Ebene besteht der Zweck der Kata darin, das „innere Wesen“ des Praktizierenden zu befreien. Aber diese Technik des Erweckens kann ihre Wirkung nur entfalten, wenn es gelingt, die inneren Triebe, die des Körpers wie die des Geistes, zu kontrollieren. Es ist wohlbekannt, daß zwischen beiden eine Wechselwirkung besteht; alles, was sich auf die Psyche des Menschen auswirkt, findet seinen Widerhall in der Funktion der Organe und umgekehrt. Die Koshiki Kata bilden sowohl das Äußere als auch das Innere und sie bewirken zudem ein wechselseitiges Bilden beider. Sie stellen eine Methode dar, den Körper wie auch den Geist energetisch wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Koshiki Kata tatsächlich nichts anderes als eine Form des Qigong25. Dessen Endzweck besteht darin, das Individuum von allen inneren Hemmnissen zu befreien, die seine Energie, seine Lebenskraft, daran hindern, auf natürliche Weise zu zirkulieren. Dies soll ihm gestatten, sich auf geistiger Ebene weiterentwickeln zu können. Hier kommt die im vorigen Abschnitt erläuterte mögliche Lesart ku („leer“ im Sinne von „leerem Geist“) des Ideogramms, das für gewöhnlich als kara in der Kombination kara te interpretiert wird, ins Spiel. Und damit nähern wir uns, zumindest intellektuell, dem Verständnis jener anderen Dimension der Koshiki Kata.

In einem meiner Bücher26 habe ich ausführlich die Beziehungen zwischen der inneren Energie und den Kampfkünsten erörtert und die in früheren Zeiten angewendeten Trainingsmethoden vorgestellt, die über einen komplexen Zyklus dazu führten, die innere Energie, das Qi, in physische oder geistige Kraftwellen umzuwandeln. Ich möchte an dieser Stelle nur daran erinnern, daß diese Energieform im Körper zirkuliert, vor allem entlang der als Meridiane bezeichneten Linien. Hierbei fließt sie auch durch die sogenannten Vitalpunkte27. Die Spezialisten für Akupunktur unterscheiden 700 derartige Punkte; für die Kampfkünste spielen 108 eine Rolle, davon sind 36 potentiell tödlich. Da diese Punkte empfindlicher als andere Stellen an der Körperoberfläche des Menschen sind, kann ein auf sie ausgeübter Schlag oder heftiger Druck den Energiefluß stören, ihn stimulieren oder unterbrechen, was nicht ohne Wirkung auf die inneren Organe bleibt. Die alte chinesische Technik des Dianxue, aus der sich die japanische Atemi-Technik ableitet, besteht aus mit der Hand oder dem bloßen Fuß ausgeführten Schlägen oder Stößen auf die Vitalpunkte. Für diese Schläge oder Stöße bestehen im Dianxue bzw. Atemi Abstufungen hinsichtlich der Wirkung auf den Körper. Sie können einfachen Schmerz verursachen, Ohnmacht auslösen oder sogar den Tod zur Folge haben. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Techniken um eine komplexe Wissenschaft, die die natürlichen tageszeitlichen wie jahreszeitlichen Schwankungen der Energieströme berücksichtigt. Und die traditionellen Kata sind ein Ergebnis dieser Wissenschaft.

Zunächst berücksichtigen die Kampfbewegungen die Veränderungen der Energieflüsse im menschlichen Körper, um eine maximale Effektivität bei der Anwendung der Techniken zu erzielen. Daraus leitet sich beispielsweise das Embusen28, d. h., das Richtungsschema einer Kata, die Ausrichtungen und die Lage des Anfangs- und des Endpunktes ab. Das gilt auch für den Rhythmus, in der die Techniken einer Kata ausgeführt werden. Dieser Rhythmus ist niemals gleichförmig. Die Verlangsamungen, Beschleunigungen oder Rhythmusbrüche in verschiedenen Abschnitten sind präzise Anweisungen, einen bestimmten Rhythmus zu übernehmen. Damit gehen wiederum Veränderungen der Atmung einher.29 Diese Veränderungen der Intensität beim Erleben der Kata sind Teil der Entschlüsselung des Sinnes, der durch die Techniken vermittelt wird. Das ist der Grund, weshalb vor allem ein Soto deshi größte Mühe darauf verwendete, die äußere Form der Kata, die ihn sein Meister gelehrt hat, genauestens zu imitieren, ohne die geringste Veränderung. Dies war die einzige Möglichkeit für ihn, eines Tages das zu entdecken, was man den „Geist der Techniken“ nennen könnte. Das bedeutete schließlich nichts anderes, als sich mit vollkommenem Vertrauen der „Gußform“ der Bewegungen anheimzugeben, durch die einst der Schöpfer der Kata bestimmte Abfolgen und Zusammenhänge kodiert hatte. Dies wiederum würde eines Tages dazu führen, daß der Praktizierende eine Art körperlichen Widerhall empfindet, eine Vibration an bestimmten Schlüsselstellen, die – durch unvermitteltes, plötzliches, neuartiges Begreifen – das „Erwachen“ bewirken soll.

Man kann dieses Phänomen verstehen, wenn man davon ausgeht, daß dabei bestimmte Zonen der Großhirnrinde aktiviert werden, die dem Menschen jene rund 80 % seines Gehirns zugänglich machen, die er während seiner „normalen“ Existenz niemals nutzt. Dieses geistige Potential ermöglicht es ihm, plötzlich auf andere Weise die Menschen und die Dinge zu begreifen. Trotz allem ist ein solches Ergebnis niemals garantiert, man muß auch „begnadet“ sein. Und es ist gänzlich unmöglich, dorthin zu gelangen, wenn man vom Code der Kata nichts weiß oder ihn durcheinanderbringt. Somit verfolgt die traditionelle Kata, wenn auch auf andere Weise, die gleichen Absichten wie eine Bewegungsfolge des Taijiquan, die im Geiste des Qigong entwickelt wurde. Manche Forscher gehen so weit, die fünf Techniken des Schlages mit der Hand mit dem klassischen „Zyklus der fünf Elemente“ der taoistischen Weltbeschreibung in Beziehung zu setzen. Das Element „Holz“ soll dabei dem Kakete (offene, zum Greifen bereite Hand; Hakenhand) entsprechen, das „Feuer“ dem Seiken (normale Faust), die „Erde“ dem Shotei (Handballen), das „Metall“ dem Shutô (Schwerthand) und das „Wasser“ dem Nukite (Speerhand). Solche Verknüpfungen beruhen allerdings auf sehr subjektiven Interpretationen, und es ist daher nicht möglich, sie zu bestätigen oder zu widerlegen.

Es liegt auf der Hand, daß der Versuch, die tiefere Bedeutung einer Kata zu erfahren, unmöglich zu vereinbaren ist mit der Ausbildung einer Masse Praktizierender. Dergleichen kann ausschließlich durch die traditionelle Übertragungskette vom Meister auf den Schüler vermittelt werden, in einer Atmosphäre der Ruhe und des Vertrauens, ohne Hast und ohne äußere Zwänge, wie z. B. Geldsorgen oder Geltungsbedürfnis.

Die klassische Kata ist eine technische Konstruktion, die auf hervorragender Kenntnis des menschlichen Körpers beruht. Diese Kenntnis kann auf zwei unterschiedliche, einander entgegengesetzte Weisen verwendet werden – womit wieder der Dualismus ins Spiel kommt. Zum einen, wie wir gesehen haben, geht es darum, die innere Energie effektiv zu mobilisieren und sie auf wirkungsvollste Weise in einem Kampf „auf Leben und Tod“ einzusetzen. Ein wesentlich weniger bekannter Aspekt der klassischen Kata sind Bewegungen, die der Wiedererlangung von innerer Energie dienen und die die Störungen, die im Verlauf eines Kampfes aufgetreten sein können, neutralisieren sollen. Während eines Kampfes ist es praktisch unvermeidbar, daß mehr oder weniger heftige Schläge und Stöße auf Vitalpunkte, die mehr oder weniger gut abgefedert werden können, empfangen werden. Das kann starke körperliche Beschwerden hervorrufen, besonders dann, wenn es wiederholt geschieht. Wenn zwei Karateka miteinander kämpfen, erfolgen beispielsweise aufgrund der Blocktechniken selbst dann, wenn die Schläge gegen den Körper abgewehrt werden, systematisch Schläge und Stöße gegen Unterarme und Schienbeine. Die Folgen sind nicht immer sofort nachweisbar, zumal vor allem junge, vitale Kämpfer für gewöhnlich Schmerzen nicht allzu große Aufmerksamkeit schenken, obgleich Schmerzen stets ein Warnsignal sind, das uns der Körper gibt. Manchmal, vor allem, wenn es sich um wiederholte Einwirkungen handelt, können jedoch chronische Körperbeschwerden ungeahnten Ausmaßes die Folge sein, wie z. B. Schlafstörungen, Atem- oder Kreislaufbeschwerden, Gewebezerstörung oder innere Verletzungen.

Die Störungen können auch psychischer Natur sein. Ein Mensch mit schwacher Persönlichkeit kann durch die immer wieder erfolgende Konfrontation mit der Gewalt in den Techniken, die für den Kampf erforderlich sind, verwirrt werden. Das kann gefährliches Verhalten, selbst im Alltagsleben, zur Folge haben. Sein Körper und sein Geist sind aus dem Gleichgewicht, und so wird er nie Ruhe finden. Die klassische Kata stellt hierfür tatsächlich eine Therapie dar. Oft sind in ihr entsprechende verschlüsselte Bewegungen oder Körperpositionen enthalten. Dies kann auf so subtile Weise der Fall sein, daß man es gar nicht bemerkt. Es handelt sich gewissermaßen um Andeutungen von Bewegungen, deren Zweckbestimmung man nicht erfassen kann, ohne das technische Wissen, über das man verfügt, in Frage zu stellen. Sie existieren deshalb, weil ihnen die Fähigkeit zugesprochen wurde, diesem oder jenem Energiezentrum Energie zuzuführen oder Energie von ihm abzuleiten. Ersteres kann vonnöten sein, wenn ein Energiezentrum entleert ist, letzteres, wenn es mit schädlicher Energie gefüllt ist. Diese Wirkung soll sich genau dann entfalten, wenn die Aufeinanderfolge der Techniken genau so ausgeführt wird, wie dies vorgesehen ist. Besonders interessant wird diese Art von Kompensation ab einem bestimmten Alter oder einfach für den Karateka, der ein bestimmtes Maß an Reife erreicht hat und auf sehr natürliche Weise das Bedürfnis verspürt, sein Karatedô „auf andere Weise“ auszuführen.

 

Man begreift nun, daß viele Karateka irgendwann aufhören, ihre Kampfkunst zu praktizieren, da sie keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten sehen. Und dabei handelt es sich oft um noch junge Karateka voller Lebenskraft. In Japan und auf Okinawa stellte das Alter hingegen nie ein Problem dar. Man lernte dort, daß man in jedem Alter effizient bleiben kann, aber jeweils auf andere Art und Weise. Doch um das zu wissen, muß man etwas über die energetische Rolle der traditionellen Kata erfahren haben. Man muß mit ihren subtilen Hinweisen für eine intelligente und den Umständen des jeweiligen Alters angepaßte Haushaltung einer Lebensenergie vertraut sein, die nur Narren freiwillig vergeuden würden. Doch auch hierfür ist der Zugangscode nicht immer offensichtlich, sofern überhaupt noch vorhanden. Viele dieser hinweisenden Bewegungen und Körperhaltungen sind verlorengegangen, als die Übertragungskette vom Meister zum „inneren“ Schüler nicht mehr respektiert wurde. Andere Schüler, die der Meister wissentlich über die Zugangsschlüssel in Unkenntnis gelassen hat, waren davon überzeugt, daß diese Bewegungen und Körperhaltungen schlichtweg unnütz waren. Und so haben sie sie einfach weggelassen.

Betrachtet man den Ablauf einiger heute existierender Kata genauer, fällt auf, daß mitunter eine bestimmte Passage, die sehr kurz sein kann, in keinem Zusammenhang steht mit dem, was vorher war und dem, was folgt. Ein anderer Abschnitt der Kata kann hingegen zu langsam erscheinen, als daß er für die reale Anwendung in einem Kampf geeignet sein könnte. Eine weitere Bewegung kann übertrieben ausgefeilt wirken und auf diese Weise vollständig ungeeignet für die Anwendung. Dies sind Hinweise auf Schlüssel, die noch heute existieren. Es liegt auf der Hand, daß man, wenn man Karate als Sport betreibt, sich solcher Dinge schnell entledigen wird. In der Folge werden die Techniken uniformisiert, damit sie „für jedermann geeignet“ sind, Rhythmen werden verändert. Es werden sogar Teile der Bewegungsfolgen durch neue ersetzt, die als Bindeglied für die beibehaltenen Techniken dienen sollen, einzig zu dem Zweck, daß sie sich besser für den Kampf eignen. Diese Verarmung setzt sich fort in der Massenpraxis.

Die Entschlüsselungsarbeit hinsichtlich der energetischen Aspekte der Kata, sofern diese noch möglich ist, ist äußerst langwierig und voller Fallstricke. Es gibt unzählige falsche Fährten, aber auch zahllose glückliche Funde, die ins Konzept passen und diese oder jene These stützen. Alles in allem geht es darum, durch die Kata den Geist und damit die Botschaft, die ihr Schöpfer in sie eingebracht hat, wiederzuentdecken. Es sollte am Ende möglich sein, genau dies weiterzuvermitteln, damit die traditionelle Kata auch in Zukunft ihre bildende, erzieherische Funktion ausüben kann, deretwegen sie einst geschaffen wurde.

Die klassische Kata als „unendlicher Schatz“

Es ist wichtig zu begreifen, daß eine Kata, die nicht „korrekt“ im oben beschriebenen Sinne ausgeführt wird, gefährlich werden kann für denjenigen, der mit ihr umgeht. Daran ändert nichts, daß die unwissentlich falsche Ausführung dem Zeitgeist geschuldet ist, was nicht in der Verantwortung des Praktizierenden liegt. Die Kata ist gewissermaßen eine Waffe, und es ist immer gefährlich, eine Waffe falsch zu gebrauchen. Es ist nicht so sehr von Bedeutung, wenn eine moderne Kata hinsichtlich ihrer externen Bestimmung unwirksam geworden sein sollte. Um sie wieder für den realen Kampf geeignet zu machen, müßte sie dann vielleicht umstrukturiert werden, zumindest teilweise. Viel wichtiger ist die Unkenntnis der inneren Kräfte, die entfesselt werden. Durch diese kann der „esoterische“ Aspekt der Kata für Körper und Geist des Ausführenden zur Gefahr werden. Ihrem Wesen nach ist die traditionelle Kata ein Mittel, das die körperliche und geistige Unversehrtheit dessen, der sie zu nutzen weiß, bewahrt. Sie ist eine Reise mitten ins Herz des Authentischen. Man muß solch eine Reise voll Vertrauen in das, was die alten Meister in die Kata eingebracht haben, antreten. Man muß bescheiden und geduldig vorgehen, um nicht eines Tages in Versuchung zu geraten, eine Abkürzung zu nehmen, die in Wahrheit eine endgültige Abkehr vom ursprünglichen Pfad bedeutet. Nur so kann die Reise gefahrlos für sich selbst und für andere unternommen werden. Auch muß man bereit sein, die erforderlichen Mühen auf sich zu nehmen, und man muß nach jener selbstlosen Perfektion streben, die alle echten Meister der Kampfkünste charakterisiert und die aus der Technik eine Kunst werden läßt. Das Ideal der Kata, das angestrebt werden sollte, besteht darin, daß man sich auf einen lebenslangen Weg begibt, dessen Ziel im Unendlichen liegt.

Effektiv im Kampf zu sein, ist nur ein geringer Teil des großen Ganzen. Solch eine Effektivität ergibt sich eines Tages auf ganz natürliche Weise, doch hat dies eine eher beiläufige Bedeutung und bedeutet keinesfalls das Ende des Weges. Das ist der Grund, weshalb die Kata in ihrer klassischen Form den ganzen Geist des Karatedô verkörpert.

Die heutigen Probleme bei der Praxis der Kata resultieren aus der fast überall herrschenden Verwirrung hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Bedeutungen und Ausführungsarten. Es gibt Kampf-Kata, Vorführungs-Kata, energetische Kata… Natürlich spielt – wenn man die Interessen verschiedener Gruppierungen berücksichtigt – auch Konkurrenzdenken und damit Opposition und Intoleranz eine Rolle, wenn über solche Fragen diskutiert wird. Um der fruchtlosen Polemik zu entrinnen, muß man sich endlich eingestehen, daß die Wahrheit vielfältig ist und daß keine Schule und kein Verband ein Exklusivrecht darauf hat. Ein bestimmter Teil einer Kata, wie er in einer Schule praktiziert wird, kann beispielsweise besser verstanden werden, wenn man einen Blick darauf wirft, wie die gleiche Passage in einer anderen Schule ausgeführt wird. Man muß schließlich auch akzeptieren, daß jene, die danach streben, eine Kata ästhetisch vollendet nach den Normen einer Wettkampf-Jury auszuführen, ein Recht darauf haben, ebenso, wie man akzeptieren muß, daß auch jene, die eine Abneigung gegen sportliche Wettkämpfe empfinden, ein Recht darauf haben, die Kata auf traditionelle Weise zu praktizieren. Tatsächlich werden letztere, die scheinbar danach streben, etwas Nutzloses zu erobern, die ebenso pragmatische wie verführerische Denkweise unserer Zeit kaum teilen. Dennoch sind sie alles andere als Träumer oder Tänzer. Von ihrer Fähigkeit, dem Zeitgeist zu trotzen, hängt das Überleben eines Weges ab, der von Menschen der Vergangenheit auf vollendete Weise gebahnt worden ist, damit den Menschen der Zukunft der Geschmack am Wahrhaftigen erhalten bleibe.

Unklarheiten ergeben sich vor allem auch daraus, daß man den grundlegenden Unterschied zwischen dem traditionellen Karatedô und dem modernen Sportkarate noch immer nicht richtig verstanden hat. Die Tatsache, daß die Kata Teil der traditionellen Kampfkünste sind, hebt diese aus dem Bereich des Sports heraus, welchem sie noch immer allzu oft zugeordnet werden. Solange die Koshiki Kata existieren, werden die Wurzeln der authentischen Kampfkunst bestehen bleiben. Das Karatedô besitzt durch die klassischen Kata eine Dimension, die das Sportkarate, was auch immer dessen sonstige Verdienste sein mögen, unmöglich erreichen kann.

Die Koshiki Kata sind ein Schlüssel zum Wissen, genauso wie andere Wege, die im Fernen Osten getreuer überliefert wurden als in anderen Weltgegenden. Die Kata beruhen auf der Meisterung von Körperhaltungen und Bewegungen wie auf der von Tönen. Manchmal ist beides zugleich im Spiel, und dies insbesondere im Zusammenhang mit dem Streben nach harmonischem Atmen. Die Koshiki Kata sind mit gewissen heiligen Tänzen alter Zeiten verwandt. Bei diesen Tänzen befand sich der Priester im Zentrum sonderbarer Kraftlinien, was ihn in die Lage versetzte, mit „etwas“ zu kommunizieren. Dies wurde möglich, weil der Priester durch den Rhythmus und die Bewegungsformen Zugang zu einer Art ursprünglicher Intelligenz finden konnte, nachdem alle durch den Verstand bedingten Hemmungen verschwunden waren. Und so finden sich in einigen Haltungen der okinawanischen Kata interessante Ähnlichkeiten mit dem traditionellen Königstanz der Insel, dem Ukansen Odori. Auf diese Weise muß man das alte Konzept der Kata als unendlichem Schatz verstehen – die klassische Kata als unerschöpfliche Quelle des einzig wahren Reichtums, den ein Mensch sich erhoffen kann.

Jedoch sollte man nun nicht den Fehler begehen, dies alles bedenkenlos zu verallgemeinern. Es ist wenig wahrscheinlich, daß sämtliche okinawanische Fischer und Bauern, die mit ihrer Kampfkunst vertraut waren, über ein esoterisches Wissen verfügten, das jeden von ihnen in einen unerschöpflichen Born der Weisheit verwandelt hätte. Die Okinawaner haben sich im Gegenteil als recht unzugänglich gegenüber dem chinesischen und japanischen Gedankengut, dem Taoismus und dem Zen, erwiesen. Daher konnten sich gewisse Konzepte, die die Kampfkünste bereicherten, nur langsam und unter Schwierigkeiten verbreiten.


Fotos 4 und 5: Traditioneller königlicher Tanz „Ukansen Odori“ auf Okinawa. Verschiedene seiner choreographischen Elemente sind auch in die alten Kata der Insel eingeflossen. Diese Kata sind weit mehr als nur mechanische und technische Kampfsequenzen. Tatsächlich vereinen sie auf harmonische Weise Kraft, Schönheit und Eleganz.

Man darf nicht vergessen, daß die Sorgen des Großteils der Meister der Vergangenheit zuallererst sehr pragmatischer Natur waren. Es wäre nicht in ihrem Sinne, dem Wort den Vorrang vor der Tat zu geben. Der echte Meister war ein ausgeglichener Mensch und keine Gottheit nach dem Bilde seiner Mitmenschen. Aber die manchmal übertriebenen Mythen, die sich um die alten Meister ranken, je mehr ihre wirkliche Persönlichkeit sich im Nebel der Zeit verliert, lassen manchen, der zum ersten Mal ein Dôjô des Karatedô betritt, ins Träumen geraten. Die Geschichte hat die Namen der meisten alten Meister, die bereits zu Lebzeiten zur Legende wurden, bewahrt. Leider verloren sie oft an Einfluß auf die weitere Entwicklung ihrer eigenen Kunst, nachdem ihre Schüler sie quasi in Denkmale verwandelt hatten. Für manche, unter ihnen Funakoshi Gichin, stellte der Schritt auf den Sockel des Ruhms die endgültige Falle dar. Nichts eignet sich mehr, einen Meister zu isolieren, als ihn zur lebenden Statue werden zu lassen. Das ist der Preis der Berühmtheit.

Wer von den noch lebenden Kampfkunstexperten kann heute denn noch darauf hoffen, eines Tages der Gruppe der berühmten Wegbereiter, den „Unsterblichen“ der Kunst der „leeren Hand“, zugerechnet zu werden, weil er etwas hinterlassen hat, was in den Herzen derer weiterlebt, die sich dereinst noch an ihn erinnern werden? Die Technik dieser alten Meister der Kampfkunst sei „göttlich“ gewesen, sagt man. Sie wurden als Tatsujin – Experten, außergewöhnliche Menschen – bezeichnet, manche sogar als Meijin – „vollkommene“ Menschen, die das gewöhnliche Menschsein hinter sich gelassen haben. Ihre offiziellen Nachfolger wie auch ihre Nachfolger „im Schatten“ haben uns die Kampfkunst, wie sie heute besteht, übermittelt. Wenn die klassischen Kata teilweise überlebt haben, so ist dies weit mehr den Nachfolgern „im Schatten“ zu verdanken als den offiziellen. Es gibt heute nur noch sehr wenige dieser „Schattenmeister“ (Kage shihan), und es wird sie wohl nicht mehr lange geben. Die künftige Entwicklung der Koshiki Kata wird davon abhängen, ob es morgen noch anonyme Meister, die das Wesen des Karatedô verkörpern, in den von den ahnungslosen Massen gepriesenen Hierarchien geben wird, die sich mit einer undankbaren Rolle im Schatten begnügen und das Los akzeptieren, anderen den Weg zu bereiten und dennoch schon bald vergessen zu sein. Dies ist eine schwer zu beantwortende Frage.

Auf den folgenden Seiten werde ich versuchen, die verlorene Spur dieser „unendlichen Schätze“ zurückzuverfolgen. Das Ergebnis meiner Spurensuche beruht auf langwierigen Forschungen, deren Ergebnisse wieder und wieder mit den Tatsachen verglichen und auf diese Weise verifiziert wurden. Die Geschichte dieser Schätze der Kampfkunst erzählt von bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten. Sie alle waren außergewöhnliche Menschen, und die Koshiki Kata tragen ihre Prägung.

 

Fotos 6 bis 8: Japanische Briefmarken, die die Herausbildung des Okinawa te, der Kampfkunst der Ryûkyû-Inseln, würdigen.

Eine klassische Kata gleicht einem Schatz, denn sie entstammt der Vergangenheit, und ihre Entdeckung vermag ein Leben zu verändern. Sie ist „unendlich“, weil ihr tatsächlicher Gehalt unerschöpflich ist. Man kann jede Kata, sei sie klassisch oder modern, auch mit einer zunächst unverständlichen Aneinanderreihung von Buchstaben, Silben, Worten und Satzfragmenten vergleichen. Ihr wahrer Reichtum – die Fähigkeit, ein bestimmtes Gefühl zu wecken – tritt erst dann zutage, wenn sich eines Tages aus den geduldig erlernten Bruchstücken ein Gedicht herauskristallisiert.

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