Gesundheit – ein Gut und sein Preis

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2. Moderne Krankheitsursache: die Klassengesellschaft

Belastungen, Strategien des Aushaltens und erst recht die daraus resultierenden Krankheiten treten allemal auf in Form von – mehr oder minder schweren – Einzelschicksalen. Ihr allgemeiner Charakter, ihre gar nicht individuelle, vereinzelte Notwendigkeit ist aber allgemein bekannt; den um ihre Gesundheit besorgten Patienten und Noch-nicht-Patienten so gut wie den Medizinern, die den Menschen beim Aushalten helfen. Eine offene Frage sind sie jedenfalls nicht: die Ursachen dafür, dass die Eingeborenen der zivilisierten Welt so einfallslos an immer den gleichen Gebrechen leiden und sterben.

Krankheitsursache Lohnarbeit

Beim Arzt stellen sich – spätestens als Rentner – die Opfer einer Arbeit ein, die fortwährende Verausgabung der einseitigsten Art erfordert und den Leuten Nerven, Muskel, Gelenke usw. ruiniert. Natürlich weiß jeder Patient für sein Leiden ganz spezielle Arbeitsbelastungen anzugeben – sofern er die nicht als selbstverständlichen Daseinsumstand vergisst –, die ihn treffen wie ein Zufall. Die gleichförmigen Ergebnisse sind jedoch alles andere als eine zufällige Häufung von Zufällen.

So hat die großartige Errungenschaft der modernen Industrie, den Fordismus überwunden zu haben, den Bedarf an schwerer körperlicher Arbeit mehr modifiziert als überflüssig gemacht. Heute sind einseitige, anstrengende Montagearbeiten, Laufdienste und anderes mehr denn je unter maschinell gesteuerte und programmierte Arbeitsprozesse subsumiert; die zu erbringende Leistung wird durch den Takt der Maschinerie vorgegeben und verdichtet:

„Die intelligente Fabrik der Zukunft kennt keine Planungs- und Steuerungsebenen mehr. Ein digital eingehender Auftrag wird sofort in die Produktion eingespeist. Dort wird der Auftrag an einen autonomen, sich selbst digital steuernden Montageassistenten weitergeleitet. Dieser Montageassistent – eine sich selbst bewegende Werkbank – fährt alle Montagestationen an und weist dem dort tätigen Mitarbeiter visuell seine Tätigkeiten zu... Das System plant optimal ein und erstellt eine neue Ablaufplanung für die kommenden Stunden. Das kann dazu führen, dass Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz häufig wechseln, im Gegensatz zur früheren Bandarbeit. Das geht, weil sie auch am neuen Arbeitsplatz ohne Einarbeitung anfangen können. Denn: Was sie tun müssen, sagt ihnen der Montageassistent.“ (FAZ, 16.11.2015)

In vielen Bereichen der modernen Arbeitswelt fallen zunehmend weniger schwere körperliche Arbeiten an; da wird herumgesessen und sich wenig bewegt; aber das heißt überhaupt nicht, dass die Arbeit leicht ist. Körperliche Beschwerden jedenfalls kriegt der arbeitende Mensch nicht durch fehlende Anstrengung, sondern durch das Zusammenspiel von Unter- und einseitiger Überforderung seiner Physis, die an höchst effektiven, rentablen Arbeitsplätzen möglichst intensiv beansprucht wird. Also etwa durch eine Tätigkeit, die stundenlanges Mausklicken während des konzentrierten Starrens in einen Bildschirm erfordert und unweigerlich all die unschönen Konsequenzen wie Nackenverspannungen, Rückenschmerzen, Sehnenscheidenentzündungen, Sehstörungen nach sich zieht.

Was sich angesichts zunehmender Arbeitspensen und bei hohem Zeitdruck an Erschöpfung akkumuliert, merkt der Mensch oftmals erst am Feierabend – sofern er überhaupt noch einen hat. Zumeist bleibt es nicht bei einer 40-Stunden-Woche; nicht nur, weil Überstunden heutzutage ohnehin zum Arbeitsalltag gehören, sondern weil die Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit überhaupt zunehmend verschwimmt, insbesondere bei modernen Arbeitsformen wie Projektarbeiten der Freelancer und Werkverträgen, in denen der Bezug zu geleisteten Arbeitsstunden, also auch deren Umfang, von vornherein nicht enthalten ist. Unter Nacht- und Schichtarbeit leidet ganz grundsätzlich die physische und psychische Konstitution.

Diese Arbeitsbedingungen, unter denen die, die mit ihrer Arbeit sonst nichts weiter zu tun haben, als dass sie sie verrichten, so stereotyp verkümmern und unter Stress leiden, folgen einem Prinzip: Die Gegenseite, die die Arbeitsplätze – eine exakt definierte Summe von Leistungsanforderungen – einrichtet, gestaltet die Arbeitsbedingungen so, dass der Arbeitsaufwand im Verhältnis zum materiellen Arbeitsertrag sehr klein wird und manchmal gegen Null geht; das aber nicht, um die Arbeitskräfte zu entlasten und ihnen Mühe zu ersparen, sondern in der Absicht, möglichst viel von der so ertragreich gemachten Arbeit aus ihnen herauszuholen. Als der eigentliche Aufwand gilt nicht der der Arbeiter, sondern der, den das Unternehmen für sie treibt. An ihnen wird ein Verhältnis zwischen Lohn und Leistung – in der doppelten Gestalt maximaler Produktivität (viel pro Zeiteinheit) und maximaler Verausgabung (möglichst lange und intensiv) – aufgemacht und „optimiert“. Diese Aufwands- und Ertragsrechnung ist das allgemeine Gesetz sämtlicher Formen betrieblicher Leistungsorganisation, die die Arbeitskräfte auf Dauer in so gleichförmiger Weise ruinieren. Und sie ist die Rechnungsart, die das Arbeitsleben der mit modernen Zivilisationskrankheiten gesegneten Gesellschaft allgemein beherrscht. Ihr ökonomischer Name ist in der industriellen Produktion „Lohn-Stück-Kosten“; dass von deren Senkung, und zwar vor allem durch die Steigerung der erbrachten Leistung und ihres Ertrags, die Stärke des „Wirtschaftsstandorts Deutschland“ abhängt, wird von den Zuständigen täglich beschworen. Auf jeden Fall entscheidet sich auch und wesentlich an ihnen, inwieweit das Interesse derer Erfolg hat, die Arbeitskräfte bezahlen, sie als Produktionsmittel anwenden und deswegen nicht bloß Arbeit, sondern Arbeit pro bezahlter Zeit, also Leistung sehen möchten. Und weil in einer modernen Marktwirtschaft alles dem Geschäft – und somit denen, die es machen – unterliegt und dieses Interesse an den Arbeitsplätzen der Nation die Gestalt eines ökonomisch-technischen Sachzwangs zur vorgeschriebenen Leistung angenommen hat, fällt der Einsatz der Beschäftigten notwendig mit ihrem Verschleiß zusammen, muss also Lohnarbeit gesundheitsschädlich sein für die, die sie erbringen.

Gesundheitsschädliche Arbeitsumgebungen, die die Physis der Arbeiter direkt angreifen – wie Hitze, Stäube, Chemikalien, Lärm – sind als Resultat der Kostenkalkulation tarifvertraglich eingepreist. Für das überdurchschnittliche Erdulden dieser Art Belastungen gibt es ein bisschen Geld zusätzlich: ein Tausch von Gesundheit gegen ein Stück Lohn, der den Arbeitern einiges an Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst abverlangt. Gefährdungen der Gesundheit durch den Arbeitsprozess werden durch Schutzvorschriften und -einrichtungen nicht aus der Welt geschafft, sondern oft genug auf eine Weise bewältigt, die den Betroffenen die verlangte Leistung erschwert: eine Zusatzbelastung, die sich mancher erspart. Wenn dann „etwas passiert“, ist aus arbeits- und unfallmedizinischer Sicht erstens der unter Lohnarbeitern verbreitete „Leichtsinn“ schuld und zweitens der Betrieb allenfalls insofern, als er es an Kontrolle hat fehlen lassen.

Krankheitsursache Rentabilität des deutschen Wirtschaftsstandorts

Dem instrumentellen Umgang von Lohnarbeitern mit ihrer Physis liegt eine glücklich aufgehende Kalkulation der anderen Seite zugrunde. Die Unternehmer ordnen sämtliche gesundheitsschädlichen Folgen ihrer Produktion als externe Effekte ein, die sie nichts angehen und die vor allem keinen Einwand gegen ihr Hauptinteresse an Rentabilität hergeben. Das rechnen sie zu ihrer bürgerlichen Handlungsfreiheit. Und darin gibt der moderne Sozialstaat ihnen Recht, und zwar so gründlich, dass er anschließend auch noch selbst darauf achten muss, dass die angerichteten Gesundheitsschäden den Charakter von Nebenwirkungen behalten oder bekommen, die vom Standpunkt des ökonomischen Hauptzwecks aus wirklich unvermeidlich sind. Die Kriterien dafür sind notwendigerweise immer strittig.

– Für die Arbeitswelt macht der Sozialstaat mit Arbeits- und Gesundheitsschutzvorschriften, mit seiner Gewerbeaufsicht usw. den Standpunkt geltend, dass der Durchschnitt aller Schädigungen im Durchschnitt auszuhalten sein muss. Ihm liegt daran, schädliche Arbeitsverhältnisse so zu entschärfen, dass ihre schädigende Wirkung im Einzelfall als bloße Möglichkeit angesehen werden kann: als Gesundheitsgefahr, die unter öffentlicher Kontrolle steht. Ob das reicht, ermittelt der Streit der Interessengruppen, die selbstverständlich alle auf demselben sozialpolitischen Grundsatz stehen müssen.

– Wo das Dienstverhältnis endet und „die Umwelt“ anfängt, kümmert sich die Staatsgewalt um die Begrenzung von Gesundheitsschäden infolge produktiver Nutzung des Eigentums durch einen umfangreichen Katalog von Umweltschutz-Vorschriften – seit 1974 in dem seitdem vielfach erweiterten Bundes-Immissionsschutzgesetz aufgelistet – sowie im Abfallbeseitigungsgesetz und diversen weiteren Einzelvorschriften. So sind die Grenzen abgesteckt, bis zu denen Atemluft, Wasser und Boden erst einmal gebührenfrei und dann zweitens darüber hinaus gebührenpflichtig als Müllkippe benutzt werden dürfen – logischerweise im Interesse eines allseitig munter voranschreitenden Geschäftslebens, denn um dessen Rechte und Pflichten geht es ja dabei. Die Unternehmer bleiben konsequent: Der Vergleich lohnt sich für sie allemal, ob die Einhaltung der Gesetze oder ihre Übertretung sie mehr kostet. Darüber hinaus bahnt der Staat seiner Industrie den Weg, „Risiken“ zu exportieren: Besonders gesundheitsschädliche Arbeitsplätze und die Entsorgung von Giftmüll werden in die Dritte Welt verlagert und damit Krankheitsursachen exportiert, für die dem „entwickelten“ Staat sein eigenes Volk und sein eigenes Territorium zu schade sind.

– Was für die betriebsexternen „Nebenwirkungen“ des Produktionsprozesses gilt, das trifft auch auf die hergestellten Produkte zu. Sie müssen als Geschäftsartikel taugen; das ist das erste Interesse einer Produktion für den Markt und der oberste Sachzwang, den der Staat mit der Inszenierung einer Konkurrenz produzierender Kapitaleigentümer in Kraft setzt. Rücksichtnahme auf die Bekömmlichkeit der Produkte ist da, sofern nicht ein teures Luxusangebot, ein sachfremder Gesichtspunkt; allergene bis krebserregende Chemikalien in Lebensmitteln und „verbrauchernahen Produkten“ wie Spielzeug, Textilien, Kosmetika, Möbeln, ferner Antibiotika einschließlich multirestistenter Keime im Fleisch und ähnliche Schönheiten sind deswegen an der Tagesordnung. Die Staatsgewalt kommt daher um die eine oder andere Beschränkung der unternehmerischen Freiheit nicht herum. Sie handelt da aber wieder nach dem systemgemäßen Grundsatz, dass ein Durchschnittsverbraucher gewisse Beimischungen und Begleiterscheinungen muss aushalten können, wenn er nicht stur immer nur dasselbe kauft. Dass die entsprechenden Verbote nur so wirksam sind wie ihre Überwachung gründlich und wie die angedrohte Buße bedrohlich; dass deswegen manche Strafe und manches Bestechungsgeld leichten Herzens bezahlt und nichts verhindert wird; dass staatliche Verbote im Gegenteil den Erfindungsgeist dazu anstacheln, das Verbotene durch Zeug zu ersetzen, das schwerer zu entdecken ist: dieser Dauerzirkus um Ekelerregendes bis Giftiges ist die notwendige Errungenschaft eines Systems, in dem die Staatsgewalt das Geschäftsinteresse, für das sich außer seinem Erfolg nichts von selbst versteht, zum Prinzip erhebt und sich um die unausbleiblichen Folgen auch gleich kümmert.

 

Mediziner bekommen so in ihren Praxen und Krankenhäusern die Ergebnisse eines alltäglichen biologischen Massenexperiments geboten. Die Versuchsanordnung lautet – klassenneutral, aber mit berufs-, wohnort- und einkommensspezifischen „Expositionsbedingungen“ –: Bis zu welcher Grenze ist die Spezies Mensch gegen Gift und gentechnisch veränderte Organismen durchschnittlich immun und als Müllverarbeiter tauglich? Und siehe da: Die Spezies reagiert mit Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen, Krebs und Allergien, ist aber im Ganzen, nicht zuletzt dank einer fortschrittlichen Medizin, härter im Nehmen als die meiste sonstige Fauna und Flora. 4)

Krankheitsursache Konkurrenz

Die Zeiten, in denen die Belastungssymptome, die heute als Burn-out bekannt sind, im Volksmund „Managerkrankheit“ hießen, sind vorbei. Es hat zwar auch im letzten Jahrhundert nicht gestimmt, dass Krankheiten dieser Art im Wesentlichen die Verantwortungsträger der Gesellschaft befallen hätten, aber im 21. Jahrhundert gelten sie auch im allgemeinen Bewusstsein als Volksleiden, das sämtliche Bevölkerungsschichten erwischt. Dass die Männer und Frauen, die an den „Schalthebeln“ der Wirtschaft ihren Dienst tun, unter gesundheitsschädlichem Stress leiden, ist nicht weiter erstaunlich. Denn auch seinen leitenden Funktionären macht der Kapitalismus das Leben nur einerseits leicht; er macht es andererseits zu einem fortwährenden Konkurrenzkampf um die Karriere in der Firma und um den Geschäftserfolg der Firma. Immerhin winkt ein lohnender Preis für die Ungemütlichkeit des Konkurrierens.

Im Vergleich dazu nimmt es sich geradezu kleinlich und jedenfalls ganz unzweckmäßig aus, was das Fußvolk des Geschäftslebens an Konkurrenzbemühungen an den Tag legt. Das wird nämlich in erster Linie verglichen; seinen Lebensunterhalt verdient es durch seine Brauchbarkeit an Arbeitsplätzen, die kapitalistische Unternehmen ganz nach ihren Kalkulationen einrichten, ausstatten und auch – bei mangelnder Rentabilität – wieder abschaffen. „Abhängig Beschäftigte“ konkurrieren mit ihresgleichen darum, benutzt zu werden. Ihre Lebenschance besteht darin, sich brauchbar zu machen für diejenigen, die Arbeitsplätze „anzubieten haben“, und – falls sie es auf einen solchen Arbeitsplatz geschafft haben – dort dann ihre Brauchbarkeit fürs Unternehmen unter Beweis zu stellen. Keines der Kriterien, die über ihre Benutzung und damit über ihren Lebensunterhalt entscheiden, haben sie selbst in der Hand, weder die geforderten sich ständig ändernden Anforderungen des Arbeitsplatzes noch die Anzahl der konjunkturabhängig geforderten Arbeitsstunden, genauso wenig die Finessen des Tarifsystems mit seinen regelmäßig stattfindenden Neueingruppierungen; geschweige denn die Entscheidungen des Betriebs, in welchen Abteilungen Rationalisierungen anstehen und welche mangels Rentabilität abgebaut gehören... Kein Wunder, dass die Sorge um den Arbeitsplatz hierzulande als einer der Haupt-Stressoren für „abhängig Beschäftigte“ zählt und die Leute sich in ihrem Berufsleben aufarbeiten, bis sie nicht mehr funktionieren und ein kundiger Mediziner die Diagnose „vegetatives Erschöpfungssyndrom“ oder „Burn-out“ stellt.

Als abhängige Variable also, die einem Vergleich unterliegt, dessen Kriterien nicht sie bestimmt, nimmt die abhängig beschäftigte Menschheit ihr Schicksal in die Hand. Man engagiert sich; man bemüht sich, betriebliche Leistungsvorgaben nicht bloß zu erfüllen, sondern zu übertreffen; man stellt selber kundige Vergleiche mit seinesgleichen an. Wenn alle Anstrengungen scheitern, sind Kollegen schuld, die sich auf Kosten anderer – gemeint ist immer man selbst – angenehmere Posten ergattern; die Firma allenfalls insofern, als sie Fähigkeiten und Moral ihrer Dienstkräfte nicht gerecht würdigt; nie die schlichte Tatsache, dass kapitalistische Unternehmen zwar selbstverständlich nur engagierte und leistungswillige, aber eben total auswechselbare Arbeitskräfte brauchen können, und auch die nur solange, wie ihr Einsatz sich lohnt. So kollidieren miteinander die gleichartigen Anstrengungen aller Beteiligten, sich in „ihrem“ Betrieb und an „ihrem“ Arbeitsplatz einzurichten, so als wären die ein passendes Betätigungsfeld der eigenen Individualität; sich mit den Umständen zu identifizieren, unter denen man den Hauptteil seines Lebens verbringt, – und damit schließlich auch noch beruflich Erfolg zu haben. Die Konkurrenzkämpfe, die da geführt werden, spielen sich in Formen ab, die wenig bis gar nichts mit den Gesichtspunkten zu tun haben, nach denen ein modernes Unternehmen seine Personalplanung betreibt, die aber geeignet sind, das Arbeitsleben erst so richtig unangenehm und zum Ausgangspunkt psychovegetativer Leiden zu machen. Gehässigkeiten unter Kollegen sind im kapitalistischen Konkurrenzalltag so üblich, dass sie mittlerweile – nach den Kriterien der WHO – den Rang einer veritablen medizinischen Diagnose erreicht haben: „Mobbing“ heißt das dann. Und am Ende kommt es zu dem Treppenwitz, dass sich in modernen Unternehmen betriebseigene „Mobbing-Beauftragte“ darum kümmern, dass die psycho-moralischen Konkurrenzkämpfe ihrer Mitarbeiter das Zusammenarbeiten zum Wohle des Unternehmens nicht allzu sehr schädigen – eine letzte Klarstellung, dass die maßgeblichen Kriterien des Betriebserfolgs nichts zu tun haben mit den Vorstellungen derjenigen, die sich als abhängige Variable für diesen Betriebserfolg anstrengen sollen und sich außerdem daran abarbeiten, ihren Glauben aufrechtzuerhalten, genau darin läge ihre höchstpersönliche Lebenschance.

Neben dem systemimmanenten Stress, den die wechselnden Anforderungen an einem tendenziell nie sicheren Arbeitsplatz bereiten, ist es dieser ebenso systemkonforme wie verkehrte Glaube, der das „psycho“ ausmacht, das am Anfang eines Großteils der psychischen Belastungssyndrome und psychosomatischen Störungen steht. An diesem Glauben wird mancher Arbeitnehmer erst bei seiner Entlassung irre. Der trauert dann als Arbeitsloser oder Rentner seiner betrieblichen Heimat nach, kriegt seine Depression und hat keine Ahnung, wie sehr er sich damit als Kunstprodukt der kapitalistischen Konkurrenz unter Lohnarbeitern erweist.

Die Verschiebung der Perspektive vom Objekt, das verglichen wird, zum Subjekt, auf dessen Willen und besondere Leistungsfähigkeit es ankommt, eröffnet im Übrigen ganz getrennt vom Arbeitsleben eine eigene Welt des Ringens um Selbstbehauptung. Die eigene Person wird danach durchgemustert, ob sie gute Voraussetzungen für ein erfolgreiches Leben bietet oder dem im Wege steht. Zweifel bleiben da selten aus. Wirkliche und eingebildete Niederlagen aus dem privaten wie beruflichen Alltagsleben werden zum Beleg für mangelnde Erfolgstüchtigkeit, die Selbstbespiegelung zum Dauerprogramm. Kein Wunder, dass mit dieser Perspektive am Ende sehr weitreichende wie vernichtende Urteile der abstraktesten Art herauskommen und an sich selber vollzogen werden – und schon wieder gibt es jede Menge Material für Aufklärungs-Artikel in Fernsehzeitschriften zum Thema „Volkskrankheit Depression“.

Krankheitsursache Freizeit

Angeblich ziehen sich moderne Menschen den Großteil ihrer Malaisen überhaupt ganz unabhängig von ihrem Berufsleben durch ihre privaten Vergnügungen zu. Wenn es denn so wäre, dass die Leute ihre Gesundheit für ihren Genuss verwendeten, dann hätten sie sich wenigstens einmal selber den Zweck gesetzt, für den sie sich verschleißen; wenn sie das lohnend fänden, dann hätte sich wenigstens dieses Stück ihres körperlichen Ruins einmal für sie gelohnt und nicht bloß für ihre Benutzer.

Allerdings ist es so um die Freizeit der meisten Leute nicht bestellt. Erst einmal kommt nach der Arbeit die Befriedigung einer Anzahl notwendiger Bedürfnisse. Dazu würde eigentlich auch, medizinisch gesehen, ein langes Ausruhen und so viel an kompensatorischer Betätigung gehören, dass die strapazierten Organe eine Chance zur Erholung bekämen. Bis die Selbstheilungskräfte des Organismus ihr Werk verrichtet haben, wäre die Freizeit aber schon wieder vorbei und an Lebensgenuss noch gar nichts passiert. Die Notwendigkeiten der Erholung widersprechen der Freiheit, sich sein Leben nach Geschmack einzurichten.

Das fängt in der Regel schon damit an, dass für diejenigen, die einen rentablen Arbeitsplatz ausfüllen müssen, die Sache mit dem „Abschalten“ – auch nach der Erledigung der notwendigen Verrichtungen des Alltagslebens nach einem erfüllten Arbeitstag – gar nicht so einfach ist. Weil nämlich nicht nur die räumliche und zeitliche, sondern auch die geistige Distanz zur Arbeit geschaffen werden muss, so dass Abschalten – einerseits das bloß abstrakt-negative Gegenbild zur Arbeit, andererseits die Voraussetzung für alles Erholen von ihr – oft eine eigene Bemühung wird. Zum „Runterkommen“ vom Alltagsstress hat jeder so seine mehr oder weniger taugliche Strategie entwickelt. Der jährliche Suchtbericht der Nation gibt Auskunft darüber: Die einen greifen eher zum Alkohol, die andern zur Beruhigungspille, eventuell ergänzt um „Upper“-Pillen, die die (Nach-)Wirkungen der „Downer“ am nächsten Morgen wieder ausgleichen. Was an Genussmitteln – neben denen mit eindeutigem Suchtpotential – bleibt, ist auch nicht viel gesünder. Denn Essen und Trinken ist das, was die Nahrungsmittelindustrie zur Verfügung stellt – und was der Mensch sich leisten kann. Die moderne Arbeiterklasse leidet daher nicht mehr Hunger, sie leidet an Adipositas. Der Mensch sollte sich daher mehr bewegen – „Ausgleichssport“ heißt der durchgängige Ratschlag der Experten. Bloß: dem Alltag das nötige Maß an „Bewegung“ abzuringen, ist im Normalfall eine eigene Anstrengung. Die sollte man außerdem, nach demselben Expertenratschlag, auch nicht übertreiben. Dann droht nämlich unter Umständen „Sportsucht“, eventuell sogar in Kombination mit „Magersucht“...

Das alles lässt sich natürlich auch völlig anders auffassen. Nämlich so, dass sich der moderne Mensch um seiner frei gewählten Vergnügung willen, aus lauter Faulheit und Genusssucht oder aus lauter Ehrgeiz und Eitelkeit, selbst ruiniert. So jedenfalls sieht es aus von dem Standpunkt, dass der Mensch erstens fürs Arbeiten und zweitens für die kompensatorischen Notwendigkeiten da ist, die sich daraus ergeben.

Das Bemühen, sich das Leben schön zu machen, ist im Übrigen noch vor allen anderen Entscheidungen eine Geldfrage. Für die Masse der Lohn- und Gehaltsempfänger ist das eine – je nach Familienverhältnissen – sehr eng gezogene Schranke, weil erst einmal das überhaupt Notwendige zu finanzieren ist. Die Freizeit des größten Teils dieser Leute geht daher dafür drauf, sich finanziell ein bisschen Luft zu verschaffen, was schon wieder auf Arbeit statt Erholung hinausläuft; sei es der in den letzten Jahren zunehmend in Mode gekommene Zweit- und sonstige Nebenjob, sei es die private Arbeit am eigenen Haus, das dereinst die Mietausgaben spart und vielleicht ein freieres Leben ermöglicht – wenn man überhaupt noch dazu kommt. So arbeitet sich der Mensch an dem Widerspruch seiner Einkommensquelle ab, was gänzlich in seine Privatsphäre fällt.

 

Dabei wird ein Familienleben abgewickelt, das erst einmal unter lauter Kompensationsansprüchen steht; logischerweise unter solchen, die es gar nicht erfüllen kann. Entgangene Lebenschancen werden nicht dadurch welche, dass man sie mit dem oder der Liebsten und Kindern teilt. Deswegen wird der Genuss des familiären Beisammenseins so stereotyp zum Betätigungsfeld und auch zum Ausgangspunkt weiterer psychovegetativer Syndrome. Der größte Stabilisierungsfaktor der Konkurrenzgesellschaft erscheint nicht umsonst als zusätzlicher „Stressfaktor“. Hausärzte und Psychiater besichtigen die Folgen.

Die große Freiheit nach einem erfüllten Arbeitsleben, das seine körperlichen und geistigen Folgen hinterlassen hat, ist für die meisten auch alles andere als ein reines Vergnügen. Jedenfalls nehmen die Berichte über das „Problem der Abhängigkeitserkrankungen des Alters“ zu – sei es von der „legalen Droge“ Alkohol oder von Schlaf- und Beruhigungspillen, ohne die die älteren, ausgemusterten Mitglieder unserer Leistungsgesellschaft offensichtlich nicht ihre Ruhe finden. Die Verschreibungszahlen solcher Medikamente sind beeindruckend – die Übergänge von „Schlafmittel-Abusus“ und „Medikamenten-Abhängigkeit“ zur ebenfalls beeindruckend zunehmenden Diagnose „Altersdemenz“ sind fließend.

Das Reich der Freiheit fängt im Kapitalismus erst da an, wo Geld keine Rolle spielt. Die Hauptrolle spielen dafür Karrieresorgen der höheren Art verbunden mit eingebildeten und wirklichen gesellschaftlichen Repräsentationspflichten im Privatleben. Die entsprechenden „Stresssymptome“ bestätigen den Volksglauben, dass „Geld allein auch nicht glücklich macht“. Moralisten mögen das als ausgleichende Gerechtigkeit verbuchen.

*

Die modernen „Epidemien“ sind Folgen der modernen Konkurrenzgesellschaft, lassen sogar ziemlich tief blicken, was den ökonomischen Inhalt und bestimmenden Grund des allgemein herrschenden Konkurrenz-„Verhaltens“ angeht: Über die gemeinsamen wie die jeweils besonderen Existenzbedingungen der unterschiedlichen sozialen Charaktere dieser Gesellschaft, über ihre Lebenschancen im allgemeinen und im buchstäblichen medizinischen Sinn entscheidet maßgeblich der unentrinnbare Imperativ des Geldverdienens in Abhängigkeit vom Kapitalwachstum als der alles entscheidenden Bedingung dafür, also des wirklich herrschenden Zwecks – jedenfalls solange die zuständigen Staatsgewalten dem zivilen Leben ihrer Völker seinen Lauf lassen und nicht mit größeren Gewaltaktionen und den entsprechenden zivilisierten Todesarten in die Alterspyramide auch ihrer eigenen Bevölkerung eingreifen.

Dieser offenkundige Zusammenhang lässt sich natürlich ganz unkritisch, weltbejahend auffassen. Es braucht dazu nur den Vergleich mit den Krankheits- und Todesursachen, die in den sogenannten Industrieländern nicht die bestimmenden sind. Dieser Vergleich lässt sich zeitlich nach rückwärts anstellen, mit den überwundenen Epochen des mörderischen Kindbettfiebers oder, noch weiter zurück, der Pestepidemien; ebenso in der Gegenwart mit den Regionen, für die die Bezeichnung „Dritte Welt“ außer Mode gekommen ist, die „Heimsuchung“ durch Hungerkatastrophen und ganz unmoderne – „klassische“ – Seuchen aber gar nicht. Es ist ja auch nicht zu bestreiten: Zwar sind die Bewohner der „entwickelten“ Welt auch für Noro- und Grippe-Viren anfällig, schon gleich, wenn sie altersgerecht, schichtspezifisch und ortsüblich durch die Belastungen ihres Alltags schon „mitgenommen“ sind; ihren alltäglichen Beschäftigungen gehen sie aber unter deutlich „gesünderen“ Bedingungen nach als die Eingeborenen der vielen „failed“ und „failing states“, nämlich in hygienisch besseren Verhältnissen und unter flächendeckender medizinischer Betreuung. Dieser wohltuende Unterschied macht aber erstens nur umso klarer, dass es die speziellen Lebensbedingungen in ihrer Abteilung der globalen Marktwirtschaft und ihre „entwickelten“ Konkurrenzanstrengungen sind, was ihnen gesundheitlich zu schaffen macht. Zweitens enthält der medizinische Fortschritt, der Teile der modernen Menschheit von alten Übeln befreit hat, schon einen ersten Hinweis darauf, was dieser Fortschritt nicht nur bewirkt, sondern wofür er gut ist: Gelitten und gestorben wird eben mehrheitlich an Belastungen, die mit der Ertragskraft des Systems der kapitalistischen Konkurrenz auf dessen jeweils erreichtem Stand notwendig verbunden, also fürs Kapitalwachstum produktiv sind. Drittens schließlich sind die Lebensverhältnisse in den Teilen der „Einen Welt“, von denen die hiesige „Erste“ sich so vorteilhaft unterscheidet, selber nichts anderes als eine moderne zivilisatorische Errungenschaft: Es ist derselbe herrschende Imperativ des Gelderwerbs und des Kapitalwachstums, zu dessen unbekömmlichen bis tödlichen Notwendigkeiten eben auch die gehört: die

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