Wenn die Seelen Trauer tragen

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„ER … Stéphan stand auf der Bühne. Im Opernhaus herrschte völlige Ruhe, dann sollte sein Einsatz kommen, aber er schwieg. Das Publikum wurde allmählich unruhig. Ich befand mich hinter dem Vorhang und zischte ihm mehrmals zu, doch er reagierte nicht. Auch die Souffleuse wurde aktiv und tippte ihm mit einem kleinen Stöckchen mehrmals an sein Bein – wieder nichts. Das ganze Ensemble rings um ihn herum war wie erstarrt. Er stand nur da … in seiner imposanten Erscheinung stand Stéphan einfach nur regungslos da. Die Bühnenbeleuchtung war komplett ausgeschaltet, nur ein kleiner Lichtstrahl zielte noch auf ihn. Sein Blick verlor sich irgendwo im dunklen Zuschauerraum. Es herrschte eine eigenartige, ja, fast schon respektvolle Stille, denn alle warteten auf seinen großen Einsatz, warteten auf den letzten Satz, den Satz der das ganze Stück beenden sollte. Dann geschah es, Stéphan drehte sich um, und verließ in langsamen wohlbedachten Schritten die Bühne.“

Entsetzt, als ob er es immer noch nicht begreifen konnte, sah er sie mit großen Augen an.

Nora saß bewegungsunfähig, auch ein wenig verängstigt, weil sie ihn nicht einschätzen konnte, neben ihm und folgte aufmerksam seinen Worten.

„… und noch immer sehe ich ihn mit seinem braunen weiten Gewand, mit dem weißen wallenden Haar über die Bühne schreiten“, fuhr er leise fort, „ein Lichtstrahl folgte ihm bis er hinter dem Bühnenvorhang entschwunden war. Er hatte nur noch einen Satz zu sagen … einen einzigen Satz“, echauffierte er sich kopfschüttelnd, „aber es gelang ihm nicht mehr.“

Für einen Moment hielt er inne, bevor es ihm dann wieder möglich war in seiner Geschichte fortzufahren.

„Dann geschah etwas Eigenartiges, ein Mann aus dem Publikum erhob sich – ein Raunen ging zeitgleich durch das Publikum. Voller Ehrerbietung vor dem großen Schauspieler, sprach dann dieser Mann, seinen letzten Satz, laut und deutlich aus. Danach applaudierte das Publikum – zuerst noch verhalten, doch dann standen die Menschen auf, um mit lautem Applaudieren die künstlerische Darstellung, des großen Schauspielers: Stéphan, zu würdigen. Ja, und noch während dieses Applauses ist Stéphan dann in seiner Garderobe, alleine, verstorben.“

Jacob schwieg, sein Blick vertiefte sich in den herankommenden Wellen. In seiner gebeugten Körperhaltung lag unendlich viel Trauer, ja, man hatte das Gefühl, das er sich noch mittendrin in seiner Erzählung befand.

Mit einem tiefen Seufzer, der seinen Körper kurz aufbäumte, redete er weiter: „Als ich etwas später in seine Garderobe kam, saß Stéphan in seinem großen Ohrensessel – ganz so wie immer, als würde er sich nur für den nächsten Akt ausruhen wollen. Beide Arme lagen gestützt auf den Armlehnen, seine Augen waren geschlossen und in seinem Gesicht lag der ganze Frieden eines erfüllten Künstlerlebens ...“

Plötzlich geriet Jacob in Ekstase, er sah Nora direkt an, sein Atem wurde schneller, in seiner Stimme lag Unruhe.

„… ich kniete mich vor Stéphan, umschloss seine starken Hände, ich dachte, wenn ich nur fest genug zudrücke, dann … dann wird er wieder wach“, Jacob wandte sein Blick wieder dem Meer zu, mit bebender Stimme fuhr er zeitverzögert fort, „dann, ja, dann hielt ich seine Hände so lange umschlossen bis die letzte Lebenswärme aus ihm gewichen war. Ein letztes Mal dankte ich ihm dann für alles … ja, für alles was er aus mir gemacht hatte“, der letzte Halbsatz erstickte in Tränen.

Jetzt erst, nachdem Nora die Geschichte gehörte hatte, löste sich ihre erstarrte Körperhaltung. Tröstend strich sie mit der Hand mehrmals über seinen vor Kummer gebeugten Rücken.

Er nickte ihr dankend zu, zog ein Taschentuch hervor, schnäuzte hinein und sagte: „In der Presse hieß es: … auf dem Zenit seines Könnens ist er gestorben. Ja, und ein letztes Mal zierten Stéphans Bilder die Titelseiten einiger Boulevardblätter – diesmal nicht mit seinem Erfolg, sondern mit seinem dramatischen Abgang ... mit seinem Tod!“

Eine ehrfurchtsvolle Stille lag zwischen den beiden.

Mittlerweile hatte die Flut ihren Höchststand erreicht, die Elizabeth Castle war von den Fluten des Meeres völlig eingeschlossen. Beide saßen nebeneinander und beobachteten die Wellen die langsam und kontinuierlich die restlichen Felslücken ausfüllten. Ein beklemmendes Gefühl erwuchs zwischen ihnen, und es schien, dass dieses ganz in schwarz gekleidete und zerbrechlich wirkende Geschöpf noch mehr Seelenlast mit sich trug. Eine Seelenlast die nun bedrohlich nach Nora griff. Unter halbgeöffneten Augenlidern beobachtete sie ihn, und es war, als würde der Tod ihn immer noch fest umschlossen halten. Ihr schauderte bei dem Gedanken! Aber wie konnte sie ihm helfen? Mit was trösten? Alles ist ihr in diesem Moment durch den Kopf gegangen: Sie sah den Toten in ihrem Vorgarten, sah sein totenstarres Gesicht, auch sah sie das schemenhafte Gesicht des Gastes bei ihren letzten Lesungen – beide fügten sich ganz allmählich zu ein und demselben Gesicht zusammen; dann sah sie in das Gesicht ihrer großen Liebe, das immer mehr und mehr zu verblassen schien, stattdessen trat das Gesicht von Clemens in den Vordergrund. Alles wirbelte durcheinander, aber nichts fügte sich zu einem Trost für Jacob zusammen. Sie konnte ihn nicht trösten weil sie selbst eine Trostsuchende war, das wurde ihr in diesem Moment bewusst.

Jacob fühlte Noras verstohlene Blicke, was ihn sogleich wieder zum Reden anspornte: „Stéphan war mein Mentor, mein großes Vorbild“, die Worte sprudelten geradezu aus ihm heraus. „Nein, er war mehr als das“, er nahm tief Luft und mit dem Ausatmen sagte er: „Stéphan war meine große Liebe.“

Mit großen Augen sah sie zu ihm hin, ja, ihre Vermutung hatte sich somit bestätigt: er war homosexuell!

Im nächsten Augenblick stand er, wie an unsichtbaren Fäden emporgezogen, auf. Seine Bewegungen waren ähnlich wie die einer Marionette.

„… bevor ich Stéphan kennenlernte war ich ein Niemand! Ein Nobody! Er hat aus mir erst einen Menschen gemacht, er vermittelte mir das Gefühl geliebt zu werden. Aber jetzt, wo er tot ist, durchkreuzen SIE wieder meine Gedankengänge, immer wieder höre ich IHRE Ermahnungen. Damals, als meine Eltern erste homosexuelle Veranlagungen bei mir entdeckten, steckten sie mich in ein Internat, weit ab von Zuhause – ihr Sohn und schwul – nein, das durfte nicht sein! Diese Gefühle würde man mir im Internat schon austreiben“, für ihn immer noch unverständlich, schüttelte er mehrmals den Kopf. „So waren die Worte meines Vaters. Ja, harte Worte die mich nicht nur innerlich schmerzhaft trafen, sondern gleichzeitig auch einen Keil zwischen meine Eltern und mir trieben.“ – Der letzte Satz kam bebend über seine Lippen.

Im gleichen Augenblick schwang er sich galant auf die Kai-Mauer, er breitete seine Armen aus und balancierte wie ein Seiltänzer über die unebene Oberfläche. Gefährlich nah tänzelte er am Abgrund vorbei, so nahe, als würde er das Unglück geradezu herausfordern wollen, und immer wenn er ins Wanken geriet, und Nora aus Angst um ihn aufschreien wollte, hielt sie schnell die Hand vor ihren Mund, um ihn nicht zu erschrecken. Erst durch den grellen Schrei eines Seevogels, sowie eine emporsteigende Möwenschar, die dicht über seinen Kopf hinwegflog, wurde seine riskante Vorführung gestoppt.

Während er gedankenverloren der Vogelschar nachsah, erzählte er weiter: „Im Internat war dann dieser Arzt der mir Verständnis, Geborgenheit und Liebe entgegenbrachte, eine Liebe die ich aber nicht von ihm wollte, nein, gewiss nicht! Aber er war da – irgendein Gefühl war überhaupt da.“ Mit starren Augen sah er Nora fragend an. Dann strich er mit beiden Händen fest über seinen Kopf, korrigierte dabei seine Haarfrisur und sagte: „Ja, meine ach so lieben Eltern hatten mich – noch bevor ich Schande über die Familie bringen konnte – ins Internat abgeschoben, und mich dort meinem Schicksal überlassen.“ Abrupt sprang er von der Kai-Mauer, er hüpfte Nora auf einem Bein entgegen und setzte sich dann ihr gegenüber.

Während der ganzen Zeit hatte sie ihn beobachtet. Sie konnte sein Verhalten nicht einschätzen, er wirkte verrückt und normal gleichzeitig. Vielleicht hatte er einfach nur zu viel erlebt, sein Bewusstsein keine Zeit gehabt alles zu verarbeiten und jetzt, nach dem Tod seiner großen Liebe brach alles unstrukturiert aus ihm heraus. Aber warum erzählte er ausgerechnet ihr, einer Fremden, diese Geschichte? Warum hatte er gerade sie ausgesucht, um sein Herz auszuschütten? Ja, mit Sicherheit hatte es damit zu tun, dass sie Autorin war, sicherlich hatte Clemens ihm von ihrer Tätigkeit berichtet. Viele fremde Menschen erzählten ihr aufgrund dessen, ihre persönlichen Lebensgeschichten. In Gedanken versunken sah sie zum Meer, dabei stellte sie fest, dass das Meer zurückging. Bald … ja, bald wirst du aus dieser misslichen Lage befreit sein, dachte sie erleichtert.

Am späten Nachmittag kam dann endlich der ersehnte Shuttletransfer. Sie stiegen ein und saßen wie Fremde schweigend nebeneinander, doch ganz tief in ihr fühlte Nora eine Verbundenheit mit Jacob – ein seltsames Gefühl, das sich noch nicht ganz einordnen ließ – erwuchs in ihr.

Später, beim Verlassen des Shuttletransfers, drehte Jacob sich nochmals zu ihr um, in seinen Augen lag ein eigenartiger Glanz, sein Blick traf den ihren, schrankenlos tauchte er in ihre Seele ein, seine schön geformten Lippen bewegten sich kaum, er nuschelte etwas, was sie nicht verstehen konnte.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah sie ihn fragend an.

Dann wiederholte er seine Worte: „Wir Frühlingskinder tragen die gleichen verletzten Seelen in uns!“

Erschrocken und sogleich überrascht von seinen Worten ging sie sofort einen Schritt zurück, um Distanz zu dem Gesagten zu schaffen. Seltsam, in seinem Gesichtsausdruck erkannte sie eine winzige Spur von dem, was in ihr selber vorging. Ein unterschwellig schmerzendes Gefühl, das sie nicht zuordnen konnte, zog von ihm zu ihr. Geschickt schlug er mit seinen schlanken Händen den Kragen seines Mantels hoch, machte eine Kehrtwende und verschwand unter einer Gruppe von Touristen. Kurz sah sie noch das Tuch seines schwarzen Mantels, bevor er sich in der Menschentraube dann verlor.

 

Hilflos stand Nora da. Sie fühlte sich wie ein Taschentuch in das man den ganzen Seelenkummer der Welt hineingeschnäuzt hatte und danach achtlos zurückließ – ja, so war ihr Empfinden.

Seine Geschichte zerrte ihre depressive Stimmung – die sie seit ihrer Ankunft auf Jersey – geschickt zu unterdrücken versuchte, in kürzester Zeit an die Oberfläche. Das Schicksal hatte sie auf einen Weg geschickt, der mit menschlicher Abtrünnigkeit gepflastert war und auf dem ein Todesengel patrouillierte.

Kapitel 2

In der Nacht wälzte sich Nora unruhig im Bett. In einem Traum sieht sie schemenhaft eine weiße Gestalt die sich über sie beugt, sie mit einem wohlwollenden Lächeln bedrängt und ihr mit keuchender Stimme das Wort: Frühlingskind, ins Ohr flüstert. Hilflos ist sie dieser Gestalt ausgeliefert.

Vom Traum innerlich aufgewühlt blinzelte sie orientierungslos in ihre Umgebung – verflucht, wo war sie? Verzweifelt suchte sie nach Erkennungsmerkmalen im Raum, dann erst wurde ihr bewusst, dass sie noch immer auf Jersey war. Erleichtert, dass es nur ein Traum war, atmete sie einmal kräftig durch – aber der Traum ließ sie nicht mehr los. Erneut zog die weiße Gestalt vor ihrem geistigen Auge vorüber, dann plötzlich erscheint das starre Gesicht des Toten – irgendwo im Hintergrund vernahm sie leise das Wort Frühlingskind. Ein undefinierbares Gefühl wanderte durch sie hindurch, irgendetwas Bedrohliches schien in den verborgenen Winkeln ihrer Seele zu lauern, etwas das sie kannte, aber dessen Existenz sie verdrängte. „Lass mich endlich in Ruhe“, kam es zaghaft über ihre Lippen. Nun saß sie aufrecht im Bett. Mit beiden Händen strich sie fest über ihr Gesicht, um die bedrückenden Gedanken wegzustreichen. Irgendwann fiel ihr Blick zum großen Fenster. Vor ihr lag die Bucht von Saint Aubin. Gedankenverloren folgte ihr Blick den hellerleuchteten Straßenlaternen entlang der Kaimauer und den reflektierenden Lichtern die über die Meeresoberfläche hüpften. Doch kaum war sie ins Spiel der Lichter eingetaucht, wurden die Laternen etappenweise abgeschaltet. Eine friedvolle Nacht breitete sich vor ihr aus, nur vereinzelt durchbrachen Autoscheinwerfer die Dunkelheit. Ihr Blick folgte einem Scheinwerferlicht das von Saint Aubin Richtung Saint Helier flimmerte, kurz vor dem Viktoria Park tauchten die Lichter in die Tiefgarage der gegenüberliegenden Wohnanlage ein. Einige Zeit später ging die Beleuchtung in Clemens Wohnung an. Die Neugier trieb sie aus dem Bett und direkt zum Fenster. Sie beobachtete wie er in seiner Wohnung auf und ab ging, und plötzlich hatte sie das dringende Bedürfnis mit ihm zu reden. Ja, ihr Innerstes schrie geradezu nach menschlicher Gesellschaft – nach seiner Nähe. Leider hatte sie keine Telefonnummer von ihm. Was tun? Sie erinnerte sich an seine Zeichensprache mit den Sektgläsern. Und so schaltete sie ihr Licht im Zimmer an, stellte sich demonstrativ ans Fenster, sodass er sie unweigerlich sehen musste. Ja, er blieb auch stehen und sah zu ihr hin, selbst überrascht, dass es funktionierte, hoffte sie nun insgeheim, dass er sie einladen würde zu ihm rüber zu kommen, doch kaum war dieser Wunschgedanke beendet, erhob er seine Hand und winkte ihr zu. Ohne ihm ein Zeichen zu geben schlüpfte sie in ihren Jogginganzug, sie stolperte mehr oder weniger in ihre Schuhe, und während die Zimmertür hinter ihr ins Schloss fiel, fuhr sie noch schnell mit zitternden Fingern durch ihre vom Schlaf zerzausten Haare.

Sie spurtete die Treppenstufen der dritten Etage hinunter, huschte an dem netten österreichischen Kellner vorbei – der offensichtlich auf dem Weg zu seinem Zimmer in der Mansarde war. Verwundert sah er ihr noch nach, denn es war nicht üblich, dass Gäste die Treppe benutzten. „Schön’n Abend, gnäd’ Frau“, hörte sie ihn noch sagen, was sie nur mit einem freundlichen Kopfnicken beantworten konnte, denn gedanklich war sie schon bei Clemens. Kurze Zeit später durchquerte sie die menschenleere aber hellerleuchtete Lobby, danach stürzte sie sich in die dunkle Nacht. Die Angst scheuchte sie im Galopp durch den Viktoria Park, vorbei an den riesigen Rhododendronsträuchern deren dunkle Schatten sich im Wind bewegten und sogleich furchterregende Gedanken aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins emporzogen.

Wenige Augenblicke später stand sie vor seiner Wohnungstür. Doch bevor sie die Türglocke betätigen konnte, hielt sie eine innere Stimme mahnend zurück. Sicherlich würde er ihren nächtlichen Besuch missverstehen – oder was wäre, wenn er ihren Besuch schamlos ausnützen würde? Und er würde aufdringlich werden? Gerade als sie im Begriff war umzukehren, wurde die Tür schwungvoll aufgerissen.

Ein strahlender Clemens stand hoffnungsvoll, ja, schon fast siegessicher vor ihr. Bei seinem Anblick, dachte sie an ihren letzten Besuch: Wie waren noch seine Worte? Ich krieg dich noch, Goldmündchen! Jetzt ärgerte sie sich über ihr dummes Bauchgefühl dem sie blindlinks gefolgt war. Vieles ging ihr in diesem Moment durch den Kopf, nur keine Entschuldigung für ihr nächtliches Erscheinen. Was sollte sie auch sagen? Wie erklären? Und so sah sie ihn nur stumm und verunsichert an.

„Goldmündchen kann nicht schlafen, oder welch bösen Geister treiben dich des Nachts umher?“ dabei musterte er Nora von Kopf bis zu den Zehenspitzen, doch letztendlich hafte sein Blick auf Noras blassem Gesicht, aus dem große Augen ihn hilflos anstarrten. Ein Anblick der sein siegessicheres Lächeln vorerst verdrängte. „Goldmündchen komm herein“, sagte er mit fürsorglicher Stimme und einem milden Lächeln.

Den Kosenamen, den sie anfänglich als Anmache empfunden hatte, legte sich nun wie Balsam über ihre geschundene Seele. Vielleicht war es aber auch nur seine sanfte Stimme die sie beruhigte. Die soeben entstandenen Zweifel entschwanden und sie erwiderte sein Lächeln, doch wenn sie jetzt ihrem Gefühl folgen würde, so müsste sie ihm um den Hals fallen, nur um ein menschliches Wesen fühlen zu können, aber nein, ermahnte sie eine innere Stimme, du darfst ihn keinesfalls auf die Fährte der Begierde locken. Und so ging sie wortlos, den Blick auf ihn gerichtet, ganz nah an ihm vorbei, sodass sie noch einen winzigen Lufthauch seiner Körperwärme verspüren konnte. Das bisschen Wärme musste genügen, dachte sie, mit einem bitteren Lächeln. Vor der Küchentheke blieb sie unschlüssig stehen. Jetzt, in diesem Moment, sie wusste nicht wieso, hatte sie es wieder bereut, dass sie hierhergekommen war. Sie fand ihr Verhalten kindisch, aber nun war es zu spät. Clemens war bereits hinter sie getreten.

„Na, mit was kann ich das Goldmündchen denn aufheitern? Mit einer heißen Schokolade? … Einer heißen Milch mit Honig? … Oder gar mit etwas ganz Verwerflichem, wie einem Cognac?“, dabei zog er den Hocker vor, so dass sie sich draufsetzen konnte.

Geschieht dir ganz recht, dachte sie, er redet mit dir wie mit einer kleinen dummen Göre, und sie fand keine Widerworte … nein, sie folgte auch noch brav seiner Aufforderung und antwortete: „Bitte, Milch mit Honig?“, selbst erschrocken über die Wahl ihres Getränkes, hüstelte sie aus Verlegenheit.

„Wow … das lässt mehr als nur tief blicken, das verrät mir, dass du echte Probleme mit dir trägst. Na, dann will ich dein Seelchen mal mit Milch und Honig trösten.“

Während er sich dem heißen Getränk widmete, schweifte ihr Blick zum Fenster hinüber und direkt zur Elisabeth Castle, sie dachte an Jacob und sogleich kam ihr das Wort: Frühlingskind, wieder in den Sinn. Plötzlich löste dieses Wort Angst, ja, Panik in ihr aus. Hitze stieg in ihr empor, Angstschweiß überzog ihren Körper, im gleichen Augenblick drängten Fluchtgedanken in den Vordergrund – sie wollte nur noch weg, weg von hier, weg von den Gedanken. Abrupt sprang sie auf und prallte voll gegen Clemens, der ihr gerade die heiße Milch servieren wollte. Reflexartig hielt er die Tasse zur Seite, sodass nur ein wenig der heißen Milch überschwappte.

„Hey … hey, was ist denn mit dir, Nora“, vorsichtig stellte er die Tasse auf der Küchentheke ab und nahm sie – das zitternde Wesen, erst einmal behutsam in seine Arme.

„Entschuldigung, aber ich weiß auch nicht was mit mir los ist. Aber … heute Mittag“, druckste sie herum, „da hatte ich eine seltsame Begegnung mit Jacob“, in Gedanken an ihn hielt sie kurz inne. „Seine ganze Erscheinung wirkte so irritierend auf mich“, sagte sie achselzuckend, „er hatte mir so eigenartige Dinge aus seinem Leben erzählt, Dinge die mich nicht mehr loslassen!“ Mit großen Augen sah sie ihn fragend an. „Besonders eine Begebenheit – sie dachte dabei an das Internat – hat mich völlig aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht.“

Clemens nickte wissend. „Jacob! Ah, jetzt verstehe ich“, kam es seufzend über seine Lippen, gleichzeitig gab er sie aus seiner Umarmung frei, „komm setz dich, Nora, ich glaube ich muss dir einiges über Jacob erzählen.“

Mit einem geschickten Griff zog er aus dem Regal über der Küchentheke eine Cognacflasche samt einem Glas hervor, er füllte es zu Hälfte auf, und bevor er zu erzählen begann, nahm er zuerst einmal einen kräftigen Schluck.

„Nun zu Jacob! Du weißt, dass er in Trauer um Stéphan ist!“

Nora nickte.

„Er hat Stéphan sehr geliebt. Die beiden waren wie für einander geschaffen“, lächelte er, „sie waren das Traumpaar schlechthin. Stéphans Tod ist gerade Mal ein halbes Jahr her, und seit dieser Zeit ist Jacob nicht mehr er selbst. Plötzlich fängt er an nach den Schuldigen zu suchen. Tsss … er gräbt in seiner Vergangenheit“, sagte er kopfschüttelnd, „meiner Auffassung nach zu tief. Er sucht die Schuld bei den Eltern und …“, gerade gelang es ihm noch den letzten Halbsatz zu unterdrücken, einen Satz den er mit dem restlichen Cognac hinunterspülte, „dabei gibt es keine Schuldigen.“ – Doch wie er den Nachsatz ausgesprochen hatte, mit dieser Vehemenz im Unterton, wurde ihr bewusst, dass viel mehr dahinter stecken musste.

„Die Schuldigen sind immer dort zu finden, wo man sie nicht vermutet“, fügte Nora sich erinnernd ihres eigenen Lebens an.

Ohne ihr darauf zu antworten sah Clemens sie nur verwundert an, aber dennoch fühlte er sich verpflichtet Jacobs Verhalten zu erklären. „Bei Stéphan war es ein ganz normaler Herztod. Er erlitt einen leichten Infarkt auf der Bühne, weshalb er auch nicht mehr seinen letzten Satz aussprechen konnte, und trotzdem hatte er es noch, erhobenen Hauptes, geschafft die Bühne zu verlassen, um würdevoll und alleine dem Tod ins Antlitz zu sehen. Den zweiten Infarkt hat er dann nicht mehr überlebt.“ Mittlerweile hat sich Clemens einen weiteren Cognac eingegossen. Während er den Cognac im Glas schwenkte, sagte er: „Jacobs Probleme liegen weiter zurück, es muss wohl etwas mit dem Internat zu tun haben – so jedenfalls meine Vermutung. Seine Geschichten fangen entweder mit dem Internat an, oder enden damit, auch kommt ein Internatsarzt bei seinen Erzählungen oft vor. Er muss wohl so eine Art Vertrauensperson gewesen sein, der ihn wohl sehr enttäuscht hatte …“, sagte er achselzuckend. „Manchmal schwafelt er auch etwas über Frühlingskinder …“, erneut nahm er einen kräftigen Schluck.

Nora sah ihn irritiert an. Er sprach das Wort aus, das ihr seit der letzten Begegnung mit Jacob nicht mehr aus dem Kopf ging – es hatte sich genau an der Stelle manifestiert, das Schmerz und Panik auslöste. Mit aller Anstrengung versuchte sie nun die aufsteigenden Gefühle zu verdrängen. „Was meint er mit Frühlingskinder? Hatte er je mit dir darüber gesprochen?“, hakte Nora vorsichtig nach.

Achselzuckend, antwortete Clemens, „nein, und jedes Mal, wenn ich nachhake, sieht er mich nur vorwurfsvoll an – wie so oft in letzter Zeit! Aber lassen wir das traurige Thema. Ich habe einen harten Tag hinter mir.“ Somit war für ihn das Thema beendet. Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und sagte: „Na, wie wäre es mit einem Entspannungsbad im Whirlpool? Kannst es dir ja überlegen. Ich geh dann mal vor …“, auf der Türschwelle zum Schlafzimmer, drehte er sich nochmals zu ihr um, „du wirst sehen Goldmündchen, danach fühlst du dich wie neu geboren!“

In diesem Moment fühlte Nora sich willenlos, die Stunden in denen sie mit Jacob alleine war, ihr Traum, das jetzige Gespräch, und das übermächtige Wort: Frühlingskind, beherrschten, ja, lähmten ihren ganzen Körper, letztendlich schwebte über allem das Bild des Toten in ihrem Vorgarten. Obwohl sie nicht wusste wer der Tote war, sein Gesicht noch immer hinter einer undurchsichtigen Nebelwand im Verborgenen lag, so konnte sie seine Nähe bereits unangenehm spüren. Dann tat sie etwas, was sie selbst nicht verstand. Kommentarlos folgte sie Clemens – ihm, der ihr Kosenamen gab und ein Anmachertyp war. In der Hälfte des Weges sagte sie: „Hey, so schlecht kann es dir doch nicht gehen, dass du jetzt mit ihm in die Wanne steigen willst?“ Doch ihre Beine bewegten sich weiter, ihr Selbstbewusstsein hatte sie irgendwo auf dem Weg ins Badezimmer verloren, was zurückblieb war ein hilfebedürftiges, ja, nach Geborgenheit-Schmachtendes- und nach Liebe-suchendes Etwas.

 

Nach kurzer Zeit saß sie im warmen sprudelnden Wasser. Es war dunkel im Raum. Die Nacht blickte verstohlen durch das große Badezimmerfenster, nur das violett-schimmernde Licht der Wannenbeleuchtung ließ schemenhaft ihr Gegenüber erkennen.

Plötzlich wechselte ihr Gegenüber die Seite, setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Zwischen dem Rauschen der sprudelnden Wasserdüsen vernahm sie seine Worte: „Hast du Angst vor mir?“

Kurz dachte sie über seine Frage nach. Angst? Nein! Gleichgültigkeit? Ja, sie empfand Gleichgültigkeit! Sie beantwortete seine Frage nicht, sondern legte nur ihren Kopf auf seine Schulter. Nach einer Weile spürte sie seinen Kopf auf ihrem. Plötzlich spürte sie seine Hand die langsam über ihren Körper tastete, doch das Empfinden war nur äußerlich, innerlich schien sie abgestumpft, sie fühlte absolut nichts, ihr Körper war wie erstarrt. Was ging mit einem Male in ihr vor? Ihr war, als wäre sie in eine andere Person geschlüpft, eine Person die keine Empfindungen mehr kannte, der jegliches Gefühl abhandengekommen war. Wortlos ließ sie sich von ihm betasten, willenlos folgte sie ihm nach dem Bad ins Schlafzimmer – sie folgte ihm wie ein gehorsames Kind. Dann geschah es! Zwischen seinen Berührungen und seinem schweren Atem zogen blitzartig Bilder vor ihrem geistigen Auge vorüber, Bilder die ihr Unterbewusstsein all die Jahre verschlossen hielt, drangen unaufgefordert und unverblümt, fast schon brutal aufdringlich, in den Vordergrund.

Sie sieht, einen übermächtigen und ganz in weiß gekleideten Mann der durch einen hellen Lichtspalt einer sich öffnenden Tür einen dunklen Raum betritt, sie sieht, wie er die Tür eilig schließt. Für einige Sekunden ist es beängstigend still – ihr Atem stockt! Dann hört sie zwei dumpfe Schritte gefolgt von einem langgezogenen Pssst, zeitgleich wird ihre Bettdecke zurückgeschlagen. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht sie konturenhaft ein Gesicht. Jemand flüstert ihr schweratmend: mein süßes Frühlingskind, zu. Ganz deutlich spürt sie nun seine Gegenwart, sie fühlt die unangenehme Wärme seines Körpers an ihrem, sie spürt, wie er ihre Hand nimmt und sie führtEkel, Abscheu und Angst überkommen sie …

Im selben Augenblick erwuchs eine ungeheure Kraft in ihr, „nein … nein … nein! Bitte nicht!“, schrie sie. Im nächsten Augenblick, und in Erinnerung an diesen Menschen, stieß sie Clemens mit geballten Fäusten von sich, sodass er seitlich vom Bett fiel und mit aller Wucht auf den Boden aufprallte. Nackt und mit offenem Mund, völlig perplex, saß er nun auf dem Boden und stierte sie erschrocken an. Erst als er sich der Situation bewusst geworden war, murmelte er so etwas wie: „Meine Güte, was ist denn los? Was hast du?“ Seine Worte klangen nicht anschuldigend, sondern vielmehr besorgt.

„Nichts! Ich muss weg! Es tut mir leid, ich kann es dir nicht erklären … bitte“, dabei hielt sie ihre Hände abwehrend empor. Und noch bevor er das Geschehene realisieren konnte, hatte sie ihre Kleider eingesammelt und fluchtartig die Wohnung verlassen. Erst nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, konnte sie sich in Sicherheit wiegen. Danach beobachtete sie ihre eigenen Handlungen: Sie sah wie sie in ihre Kleider schlüpfte und anschließend lethargisch die Treppe hinunterstieg. Zuerst nahm sie nur die harten Steinstufen unter ihren Füßen wahr, aber mit jeder weiteren Stufe war es, als würde sie aus einem anderen Leben in die Realität schreiten. Ganz langsam spürte sie wieder pulsierendes Blut in ihren Adern, und erst als sie vor der Eingangstür des Wohnkomplexes stand, und ihr eine kühle Meeresbrise entgegenschlug, war sie wieder in der Gegenwart angelangt. Nein, sie ging jetzt nicht zurück ins Hotel, sondern überquerte schnurstracks die Victoria Avenue Richtung Meer. Nach einigen Minuten war sie an der Kaimauer angelangt, unschlüssig blieb sie zunächst stehen und horchte in die Nacht. Kein Laut störte die Stille. Sie war alleine. Die Straßen waren menschenleer. Ängstlich sah sie nochmals zurück zu Clemens Wohnung. Gut, er ist dir nicht nachgegangen, ging es ihr durch den Kopf, dabei atmete sie erst einmal erleichtert auf. Mit einem tiefen Seufzer wandte sie ihren Blick dem Meer zu, und ganz plötzlich empfand sie Ekel vor dem eben Erlebten – nein, vielmehr war es vor dieser Erinnerung, die irgendwo aus ihrem tiefsten Unterbewusstsein empor gestiegen war! Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter – und an das, woran sie sich erinnerte, das war so lebendig in ihr geworden, als hätte sie es nochmals durchlebt. Wie grausam doch das Leben sein konnte, dachte sie, so war es ihr all die Jahre gelungen dieses Frühlingskind tief in den dunkelsten Kammern ihres Unterbewusstseins zu verstecken, und nun, nun war es hervorgekommen und bat um Aufklärung.

Mit letzter Kraft schwang sie ihren ausgelaugten Körper auf die Kaimauer. Was wohl Clemens nun über sie dachte? Großer Himmel, wie sie sich vor ihm schämte – nein, schlimmer noch, sie schämte sich vor ihr selbst. Wie ein Häuflein Elend kauerte sie mit angezogenen Beinen auf der kalten Steinmauer. Ihr Blick war zum Horizont gerichtet der in der Dunkelheit fast kaum zu erkennen war. Über ihr lag ein dunkler sternenloser Himmel, und sie, sie fühlte sich als ein zerbrechliches Etwas in einem riesigen Universum. Genauso musste sich Jacob heute Mittag gefühlt haben, ging es ihr durch den Kopf, „ja, genauso“, flüsterte sie. Und in diesem Moment fühlte sie wieder diese eigenartige Verbundenheit mit ihm – mit IHM, der ihr doch fremd war, und jetzt, in diesem Augenblick, da dieses Frühlingskind in ihr wieder aufgetaucht war, doch so vertraut.

Gedankenverloren saß sie auf der harten Kaimauer und ganz allmählich traten Erinnerungsfetzen ihrer Jugendjahre in den Vordergrund. Sie musste gerade mal zwölf Jahre gewesen sein, ihr Vater war kurz zuvor verstorben. Ja, und ihre Mutter fühlte sich von der neuen Lebenssituation, sowie mit ihrer Erziehung hoffnungslos überfordert. Kurzerhand hatte sie ihre Tochter in ein Internat gesteckt. Klar und deutlich sieht sie sich mit einem Koffer vor diesem überdimensional großen Gebäude stehen. Das Eingangsportal blickte ihr bedrohlich, wie ein riesiger Schlund entgegen – viel zu groß für eine kleine einsame Seele die gerade erst dabei war in ihre Existenz zu wachsen. Ja, und das wurde ihr heute erst so richtig bewusst, niemals fühlte sie die Einsamkeit so intensiv als in jener Zeit. Krampfhaft hatte sie den Tragegriff ihres Koffers umschlossen – woran sollte sie sich auch sonst klammern. Ihre Mutter hatte sie wie ein überflüssiges Anhängsel hier abgestellt – andere sollten sie jetzt erziehen! Damals hatte Nora bis zum letzten Augenblick gehofft, dass ihre Mutter sie wieder mit nach Hause nehmen würde, doch leider vergebens. Zitternd und nicht-glauben-wollend sah sie damals dem davonrauschenden Wagen ihrer Mutter nach. Deutlich zogen in diesem Augenblick die Bilder an ihr vorüber, geradezu mit einer fotografischen Schärfe hat sie nun das Internats-Gebäude vor Augen. Das Nächste woran sie sich erinnern kann, war der morgendliche Drill! Bei Wind und Wetter wurden die Kinder, noch vor dem Frühstück, durch den benachbarten Wald gestriezt; vor dem Mittagessen wurde gebetet und danach herrschte Mittagsruhe; und in den Nachmittagsstunden wurde für die Schule gepaukt. Ja, und so war es nicht verwunderlich, dass die Kinder sich nach Wärme und Liebe sehnten. Die Erinnerung an damals war so lebendig geworden, dass sie am ganzen Körper zu zittern begann – etwas Schmerzvolles schien herauszuwollen. Sie spürte ein innerliches Flattern, als krabbelte ihr geschundener Körper inwendig herum und suchte nach einem Ausgang. Ihr Kopf dröhnte, und um dem Hämmern in ihrem Kopf entgegenzutreten drückte sie mit beiden Händen ganz fest gegen ihre Schläfen „hör auf, so hör doch endlich auf“, murmelte sie verzweifelt, und erst nach einer ganzen Weile war es vorbei.

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