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XII

Von Paul Bernheim kann man nichts anderes sagen, als daß er der alte geblieben war.

Er begann „abzubauen”, eine Tätigkeit, die zu jener Zeit in Deutschland den „Wiederaufbau” begleitete.

Er baute ab, Paul Bernheim. Er entließ seine beiden Stenotypistinnen und schließlich den Sekretär. Er gab das Büro über seiner Wohnung ab und zuletzt auch diese. Denn es schien ihm unmöglich, als ein durchschnittlicher Mieter in dem Haus zu verbleiben, in dem er ein außergewöhnlicher gewesen war. Verschiedene Gewohnheiten fielen selbst von ihm ab: Blätter von einem Baum im Herbst. Jener beinahe geheimnisvolle Mechanismus, der jeden Nachmittag um ein Uhr den Inhaber des Friseurladens zu Paul Bernheim hinaufgezogen hatte, mit Pinsel, Seife und Rasiermesser, schien jetzt auf eine ebenso geheimnisvolle Weise zu stocken. Das Gesetz, dem zufolge der Portier die Schritte Paul Bernheims noch vom zweiten Stock her vernommen hatte, um rechtzeitig die Haustür öffnen zu können, war außer Kraft gesetzt. Eines Tages verkaufte Paul Bernheim sein Auto und entließ den Chauffeur. Das Auto wanderte zu einem Taxi-Unternehmer. Nie mehr, so schien es Paul Bernheim, würde er wagen, auf der Straße ein Taxi zu nehmen, aus Angst, in seinen eigenen Wagen steigen zu müssen. Mit Hilfe eines Trinkgelds, das weit über seine Kräfte ging und nur einer Verpflichtung zur letzten Geste einer Noblesse entsprach, verabschiedete er sich vom Chauffeur. Auf einmal und als hätte sie eine Elementarkatastrophe hinweggerafft, verschwanden seine Freunde. Man konnte einen Spielklub nach dem andern absuchen, sie waren nicht da.

Die Einsamkeit schien sich stabilisieren zu wollen wie das Geld. Er mietete ein einziges Zimmer in der irrigen Hoffnung, daß der Umfang der Einsamkeit von dem der Wohnung abhänge. Er machte die Erfahrung, daß es zu den besonderen Eigenschaften der Einsamkeit gehört, in einem einzigen Raum größer zu sein als in dreien. Seine Rechnungen waren falsch gewesen wie die seiner Mutter. Sie besaß einen Koffer mit Geldscheinen, und er hatte Aktien, von denen man nicht leben konnte! Warum hatte er nicht das Stoffgeschäft mit Nikolai Brandeis gemacht? Er wäre heute ein reicher Mann gewesen. So nahe schien der Reichtum zu sein! Zweitausend Dollar waren ihm noch verblieben. Die zweitausend Dollar, die er Brandeis schuldete. Das war gerade genug, um einen Zigarrenhandel anzufangen. Der einzige Beruf, zu dem er Lust und Begabung gezeigt hätte, wäre die Diplomatie gewesen. Er konnte immerhin noch eine Anleihe auf das Haus nehmen. Da aber auf dem Teil des Hauses, der ihm testamentarisch vermacht worden war, drei Hypotheken lasteten, war eine neue Anleihe ohne die Zustimmung seiner Mutter unmöglich. Unmöglich würde seine Mutter zustimmen. Die Firma Bernheim und Compagnie mußte ohnehin bald aufgelöst werden. Frau Bernheim wußte noch nichts davon.

Manchmal zählte Paul Bernheim sein Vermögen nach, obwohl er es kannte. Aber es schien ihm, daß ein Irrtum möglich war und daß durch irgendein unerwartetes Wunder die wiederholte Addition eine neue Summe ergeben konnte. Wenn er jetzt noch seine Aktien nach dem heutigen Wert verkaufte, so hatte er mit den zweitausend Dollar zusammen kaum mehr als etwa fünfundzwanzigtausend Mark. Mit diesem Geld wäre ein anderer, Nikolai Brandeis, imstande gewesen, innerhalb zweier Jahre eine Million zu verdienen … Paul Bernheim aber gehörte zu den ehrgeizigen Leuten, denen ein geringes Kapital nicht einmal gut genug erscheint, verzehrt zu werden.

Die Frühlingstage waren klar, der Himmel mit blauer Farbe nachgetüncht, die Straße weiß, mit doppelter Sorgfalt gereinigt, und die Wolken schienen endgültig aus dieser Welt verbannt. Hätte ich noch einen Wagen! dachte Paul. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so schöne Tage erlebt zu haben, in der ganzen Zeit, in der er noch einen Wagen besessen hatte. Er kam sich degradiert vor, wenn er einen Autobus oder die Untergrundbahn bestieg. Er schlief aus Hartnäckigkeit und in einer vagen Hoffnung, daß glückliche Zufälle sich über dem Haupt eines Schläfers zusammenballen können wie Wolken, immer noch täglich bis zum Nachmittag, obwohl die Vernunft gebot, am frühen Vormittag aufzustehen. War er angezogen und in der Straße, so schien der Tag selbst, der sich seinem Ende zuneigte, die Vergeblichkeit jeder Anstrengung zu beweisen.

Ein paarmal entschloß er sich, am Vormittag Besuche zu machen. Er ging zu den Direktoren großer Verlage. Er hatte sich Vorschläge zurechtgelegt. Er war bereit, sein Vermögen zu übertreiben, von seinen Kreditmöglichkeiten zu sprechen, von seinen Verbindungen in England, an die er selbst allmählich zu glauben anfing. Er ging in eines der großen Häuser nach dem andern. Er saß in den Wartezimmern, in denen die Zeitungen und Zeitschriften des Hauses auflagen, den Wartenden gratis dargeboten wurden, damit sie mit der Gesinnung der Firma vertraut würden, ehe sie zu einer Unterredung mit ihr gelangten. Bequem waren die Wartezimmer, ein wenig überheizt und von Botenmeistern in Livreen auf erhöhten Sitzen überwacht. Die Direktoren befanden sich stets in Konferenzen. Es waren nicht mehr „wichtige” Konferenzen, wie sie früher in der Inflation Paul Bernheim selbst vorgetäuscht hatte, es waren schlichte Konferenzen ohne besondere Eigenschaften und also noch viel wichtiger – den großen Persönlichkeiten vergleichbar, die ihren Titel zwar besitzen, aber nicht führen. Er saß und wartete. So ähnlich hatte man einst auf ihn gewartet. Jetzt verstand er, daß die Institution der Wartezimmer das Fegefeuer der kapitalistischen Himmel war. Nichts Grausameres als der Zwang zu einer Geduld, die fortwährend unterbrochen wird von Glockensignalen für die Boten, von der Ankunft neuer Gäste, von der zerstreuten Betrachtung der Zeitschriften, deren Absicht es ist, Trost zu verbreiten, und die dennoch die tiefste Hoffnungslosigkeit erzeugen. Es kam vor, daß Bernheim das Wartezimmer verließ, noch ehe er seinen Besuch gemacht hatte. Und einer Unterredung entronnen zu sein, die ihren Sinn schon im Wartezimmer verloren hatte, verschaffte ihm ein Gefühl der Befreiung, als wäre er aus einem Irrenhaus entlassen worden. Sooft er das Tor verließ, sah er sich um, wie man sich nach einem Hindernis umsieht, über das man gestolpert ist.

Nie mehr gehe ich in dieses Haus!

Er fuhr wieder zu seiner Mutter.

Die Frau Militär-Oberrechnungsrat hatte sich so gut eingelebt, als wenn sie im Haus Bernheim zur Welt gekommen wäre. Nun begrüßte sie Paul wie eine Tante. Immer noch ging Frau Bernheim ihrer Mieterin leise nach, um zu kontrollieren, ob ein überflüssiges Licht vergessen worden war, ob ein Schlüssel vom Schrank nicht so lose im Schloß steckte, daß Gefahr für seinen Verlust bestand, ob ein Fenster in der Abendstunde nicht offenblieb, das alle Motten einladen konnte, sich vom Teppich zu nähren, und ob das Waschbecken im Zimmer der Frau Oberrechnungsrat nicht endlich den Sprung bekommen hatte, den Frau Bernheim schon zitternd seit Jahr und Tag erwartete.

„Wir sind jetzt übereingekommen”, erzählte sie Paul, „das Abonnement für die Zeitung übernimmt die Frau Oberrechnungsrat. Genau heut vor einem Monat hat es in ihr Zimmer geregnet, das Dach war beschädigt. Sie hat behauptet, ich müsse es richten. Aber ich habe ihr klargemacht, daß die Wirtin nicht verantwortlich sein kann für Löcher im Dach. Sie hat es auch eingesehn, das Dach wurde verlötet, aber seit damals regnet es nicht mehr, und ich weiß nicht, ob der Klempner uns nicht beschwindelt hat. Möchtest du nachsehn?”

Paul stieg aufs Dach, um nachzusehn.

Von der Höhe übersah er den Garten, der jetzt, da der Frühling begann, noch trauriger war als im Herbst – wie ein ärmlich Gekleideter trauriger ist in der Sonne als im Nebel. Paul sah den leeren Schuppen, in dem keine Wagen mehr standen, die Ställe, in denen die fremden Pferde wieherten, und den alten Hund, der jetzt schmutzig vor seinem Häuschen lag, träge, als wüßte auch er, daß es nichts mehr zu bewachen galt außer dem Koffer mit dem ungültigen Papiergeld der Frau Bernheim.

Eines Abends legte die Mutter die Zeitung weg – seitdem die Mieterin das Abonnement bezahlte, fühlte sich Frau Bernheim frei von der Verpflichtung, alle Inserate zu lesen – und sagte unvermittelt:

„Weißt du, Paul, ich lese jetzt in der Zeitung so viele Heiratsanzeigen!”

„Ja”, sagte Paul gleichgültig, „eine Folge des Krieges.”

„Die jungen Leute sind gescheit”, fuhr Frau Bernheim fort, „sie heiraten schnell, das ist gesund und garantiert ein langes Leben.”

Sie schwieg und erwartete eine Äußerung von ihrem Sohn.

Aber Paul schien nachzudenken, er hörte die Uhr ticken, die einzige, die noch in diesem Hause ging, und den zarten Wind, der in dem vorjährigen, liegengebliebenen Laub des Gartens raschelte. Frau Bernheim ergriff das Lorgnon, und erst das Geräusch, mit dem es aufklappte, rief Paul wieder in diese Stunde.

Frau Bernheim sah ein paar Minuten lang durch das Lorgnon auf Paul. Er wußte, daß es die Vorbereitung seiner Mutter zu einem „ernsten Thema” war, und wartete.

„Nun bist du dreißig Jahre alt, Paul”, sagte Frau Bernheim.

Die Erwähnung seiner dreißig Jahre berührte ihn schmerzlich, als wären sie ein körperliches Gebrechen. Da waren nun freilich diese dreißig Jahre, und er hatte es zu nichts gebracht. Es war, als wenn sich die drei Jahrzehnte, Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag, neben ihm aufgehäuft hätten, ein Berg aus Zeit, und er selbst wäre tatenlos, klein und ohne Alter danebengestanden.

„Hast du nie ans Heiraten gedacht?” fragte die Mutter, etwas strenge, das Lorgnon immer noch vor den Augen.

„Wo gibt es Frauen?” sagte Paul.

„Es gibt genug Frauen, mein Kind – du sollst dich umsehn!”

Sie nahm das Lorgnon wieder ab und ließ es an die Hüfte gleiten, wie man ein Schwert in die Scheide steckt.

Es war keine Rede mehr vom Heiraten. Immerhin, im Zug nach Berlin dachte Paul an den Vorschlag seiner Mutter. Ja, es war vielleicht Zeit zu heiraten. Ja, es war ziemlich einfach zu heiraten. Vorsicht und schneller Entschluß waren die wichtigsten Vorbedingungen. Eine Heirat war ein Weg zur Größe. Er wollte anfangen, Gesellschaften aufzusuchen.

 

Er kannte aus seiner früheren Zeit, aus seiner Gönnerzeit, einen jungen Mann aus Temesvar, der sich für einen Budapester ausgab und Sandor Tekely hieß. Als Journalist und Zeichner war er nach Berlin gekommen. Er hätte ebensogut als Herrenreiter, Schwarzkünstler und politischer Agent kommen können: Das Schicksal, das mit einer gewissen Holdseligkeit über manchen jungen Leuten aus Temesvar wacht, führte Sandor Tekely zuerst in die Spielklubs, dann in die Kabaretts, hierauf in die Theater, nach zwei Jahren zum Film und schließlich wieder zurück zur Zeitung. Einmal hatte er als Mitglied der Presse – und Propaganda-Abteilung die Rote Armee des ungarischen Diktators Bela Kun auf ihrem Feldzug gegen die Rumänen begleitet. Er hatte diese Zeit und seine Tätigkeit längst vergessen. Er wäre imstande gewesen, einen Mord zu vergessen, jahrelanges Gefängnis und einen Typhus. Dieser seiner Fähigkeit entsprach seine Begabung, die Gegenwart auszunützen. Es war, als hinge die Hurtigkeit, mit der er jede günstige Gelegenheit aus jeder Situation herauszuklauben verstand, unmittelbar mit der Vergeßlichkeit zusammen, ähnlich wie die Eigenschaft einer gesunden Konstitution, sich an winterlichen Frösten wie an sommerlichen Hitzen zu stärken, mit ihrer andern Eigenschaft zusammenhängt, Krankheiten schnell und gründlich zu überstehen. Es wäre unrecht gewesen, Sandor Tekely etwa für „charakterlos” zu halten. Er war vergeßlich – genauso, wie er aufmerksam war. Und wie ein Schmetterling Süßigkeit aus jeder Blume saugt, so konnte Sandor Tekely aus jeder Gesellschaft, in die er geriet, eine Beziehung, eine Verbindung und eine Freundschaft mitnehmen. Er war einer der sichersten Beweise für den Wandel der Gesellschaften, die Unsicherheit der alten Klassen und ihrer neuen Angehörigen, der Schwankungen gesellschaftlicher Werte und die unbegrenzte Ratlosigkeit der neuen Häuser, in denen die Architektur moderne „Empfangsräume” geschaffen hatte. Sorglos und nur auf Beziehungen bedacht, flatterte Tekely von einer Hausfrau zur andern, ohne Unterschiede zu merken, besuchte er die Maskenbälle, die in jenem Jahr den Karneval noch lange überdauerten, stets in der gleichen Tracht eines Rokoko-Prinzen, sonstige Abende im Smoking, mit einer Weste, die ihre eigenen Rockklappen trug, immer mit einem Lächeln, das aus vollen, dunkelroten Lippen und tadellosen, blanken Zähnen gebildet wurde, immer mit der Bereitschaft, jedem zum erstenmal eine Freundlichkeit zu sagen und zum zweitenmal eine Vertraulichkeit.

Nicht mit Unrecht dachte Paul Bernheim jetzt an Sandor Tekely. Bernheim wußte von Tekelys Gewohnheit: zweimal in der Woche in einem ungarischen Restaurant zu essen, um den Zusammenhang mit dem mütterlichen Boden nicht zu verlieren. Er traf ihn einmal. Tekely war erfreut. Er liebte es, wenn ihn gutgekleidete Männer in diesem Restaurant aufsuchten, in dem er einmal lange auf Kredit gegessen hatte. In diesem Restaurant übertrieb er seine gewohnte Vertraulichkeit. Er vermengte sie mit einer herzlichen Freude, der zu entnehmen sein sollte, daß der Gast eine Persönlichkeit von außergewöhnlicher Bedeutung sei.

Wo Paul Bernheim („lieber, lieber Freund”) so lange verborgen gewesen sei?

Und er selbst?

Oh, kein Geheimnis! Seine Beschäftigungen zahlreich. Erstens war er an jenem Inseratenunternehmen beteiligt, das die neue Reklameform der Poststempel am Kopf der Zeitungen verbreitet hatte. Zweitens half er in der Propaganda-Abteilung der großen amerikanischen Filmgesellschaft, die seit einem halben Jahr in Deutschland arbeitete. Drittens machte er mit einem Freund zusammen eine Weltkorrespondenz in allen europäischen Sprachen für Tagesneuigkeiten und feuilletonistische Mitteilungen. Viertens besorgte er die Übersetzungsrechte fremder Autoren für Deutschland und deutscher Autoren für das Ausland. Schließlich ließ er sich aktuelle Lustspielstoffe einfallen und verkaufte sie an bekannte Dramatiker. Es winkte außerdem etwas Neues, nämlich die Gründung, die ein Mann namens Nikolai Brandeis plane.

„Wer? – der Russe Brandeis?” wiederholte Paul.

„Sie kennen ihn?” rief Tekely und ergriff Bernheims Arm, „Sie kennen Brandeis persönlich?”

„Ja”, sagte Paul, „warum ist das so merkwürdig?”

„Oh, nicht merkwürdig, aber eine glänzende Beziehung!”

Und Tekelys vorgetäuschte Wertschätzung verwandelte sich in eine echte Bewunderung. „Brandeis, Brandeis! —” wiederholte er in dem Ton, in dem ein Läufer in antiken Zeiten einen Sieg ausgerufen haben mochte. „Wissen Sie nicht? Brandeis ist der große Mann von morgen. Einer der Männer, die aus dem Osten kommen und hier ihr Glück machen. Seit einem halben Jahr gehören ihm hier zwölf Häuserblocks am Kurfürstendamm. Er fängt an, Stoffläden und Gemischtwarenhandlungen in der ganzen Provinz anzulegen. Man sagt, daß er das Land mit Warenhäusern zu überschwemmen gedenkt. In jeder kleinen Stadt ein Warenhaus. Sein Motto: Für den Mittelstand. Er verbreitet Aufrufe zur Rettung des Mittelstandes, hat eine Bank gegründet und soll eine außergewöhnlich reiche und schöne Frau aus Serbien mitgebracht haben. Sie könnte seine Tochter sein. Man sieht sie beide bei jeder Premiere. Sie soll eine russische Fürstin sein, die nach Belgrad geflüchtet war, mit einem sagenhaften Schmuck. Sie war schon bereit, ihn zu verkaufen, da traf sie Brandeis. Wie lang haben Sie ihn nicht gesehn? Rufen Sie ihn doch an, wenn Sie ihn kennen? Oder warten Sie: Vielleicht ist er morgen bei ,Schwarz und Weiß'.”

„Was ist ,Schwarz und Weiß'?”

„Der Maskenball des Neuen Hockeyklubs, wissen Sie nicht? Wollen Sie eine Einladung? Hier! Haben Sie eine Feder? Ich will gleich Ihren Namen ausfüllen. Doktor Paul Bernheim, nicht?”

Es war ein frischer, heiterer Abend, der Himmel hell wie am frühen Morgen und der Mond so nahe und irdisch, daß er wie ein Bruder der großen, silbernen Bogenlampen aussah. Paul segnete diesen Tekely. „So eine Begegnung sollte man ein paarmal in der Woche machen. Dieser Junge weiß alles und beschert Glück. Alles hängt von diesem ,Schwarz und Weiß' ab. Ich werde dort etwas Entscheidendes erleben oder nirgends mehr. Auf zu ,Schwarz und Weiß'. Hockey ist ein sympathischer Sport!”

XIII

Der große Saal des Kasinos, in dem das Fest stattfand, war in ein Labyrinth verwandelt. Unerwartete Winkel zwischen vorgetäuschten Mauern, Logen und Verstecke hatten den Zweck, die Gäste, die sich geheimen Genüssen hingeben wollten, nicht nur unsichtbar zu machen, sondern auch in der ständigen Furcht vor Überraschungen zu erhalten. Denn es gab keine Ecke, die nicht tückisch genug war, abgeschlossen zu scheinen und dennoch einen verborgenen Zugang zu besitzen. Es war die Innenarchitektur eines Sadisten.

Paul Bernheim stellte sich endlich in der Nähe des Eingangs auf, um die Ankommenden sehen zu können. Aber Brandeis kam nicht. „Ich habe es mir denken können”, sagte Paul. „Als ob dieser Sandor Tekely mir nicht schon oft falsche Sachen erzählt hätte.” Traurig war er und bitter. In dieser Gesellschaft des Hockeyklubs kannte einer den andern auch in der Verkleidung. Ja, es war anzunehmen, daß jeder vom andern vorher gewußt hatte, in welchem Kostüm sein Bekannter kommen würde. Alle Anwesenden hatten so sehr das Gefühl, zu einer Familie zu gehören, daß sie die paar verlorenen Fremden, die wahrscheinlich alle nur der Tekely mitgebracht hatte, mit dem erstaunten, etwas erzürnten Blick ansahen, den man für Eindringlinge übrig hat. Auf zwei einander gegenüberliegenden Estraden lebten sich die Musiker aus. Sie ließen keine Pause aufkommen. Wenn eine schüchterne Stille aufzublühen begann, nachdem eine Kapelle einen Tango beendet hatte, fiel die andere Kapelle mit einem Jazz über die lautlose Minute her und zermalmte sie zwischen Trommel und Saxophon. Unermüdlich tanzten die Paare. Paul Bernheim sah keine Möglichkeit, in dieser geschlossenen, wenn auch sehr verkleideten Gesellschaft einem entscheidenden Schicksal zu begegnen, wie er es heute noch den ganzen Abend gehofft hatte. Er trug einen dunklen Domino, ein Kostüm, das, wie ihm schien, der Begegnung mit einem entscheidenden Schicksal entsprach. Aber es meldete sich kein Schicksal.

Sagen wir lieber: Es meldete sich scheinbar kein Schicksal. Denn ein Mädchen in einer Art Haremskostüm, mit goldenen Schuppenbrüsten und einem türkisblauen, breiten Band um die Stirn, in wehenden, weißen Pumphosen und blauen Sandalen mit goldenen Spangen zog Paul Bernheim in einen der Winkel, mit sanfter Gewalt, wie sie Frauen anwenden, die ein ehrsames Leben führen, und die den Eindruck erweckt, daß sie nichts anderes wollten als die Bewegung eines Freudenmädchens aus einer Hafenstadt nachahmen. Es war schon gegen zwei Uhr morgens, und Bernheim hatte nichts mehr Entscheidendes zu erwarten. Also ergab er sich dem wortkargen Genuß, den Körper des Mädchens an sich zu ziehen. Die Frau verlangte zu trinken, und er erhob sich, um ihr ein Glas Champagner zu bringen – denn man verteilte Champagner in Gläsern am Büfett. Er fühlte ihre Bemühungen, die leichte Erregung, in der sie sich bereits befand, noch zu verstärken. Wozu war ein Kostümfest gut? Ich langweile mich, dachte sie. Alle kennen mich und wagen nicht einmal einen Scherz. Dieser junge Mann ist fremd. Er ist vielleicht nicht klüger als die anderen, aber er hat den Vorzug, mich nicht zu kennen.

Sie sagte ihm also kurz entschlossen, daß sie sich langweile. Sie klagte über die scheuen Männer, die sie alle beim Rufnamen und sogar beim Spitznamen kannte. Sie entfachte Pauls Ehrgeiz und erinnerte ihn an die glückliche Zeit seiner ersten Jugend, in der er sorglos und mit der Aussicht auf Oxford die Mädchen seiner Heimat gerade noch bis zu dem Grad verführt hatte, der ihre Heiratsfähigkeit nicht verminderte. Es war immerhin noch eine verhältnismäßig keusche Zeit gewesen, dachte er. Damals hätte mich kein Mädchen so aufrichtig behandelt, auch nicht auf Kostümbällen. Die stete Neigung, die er von seiner Mutter ererbt haben mochte, jeden Fremden ohne Unterschied des Geschlechts sofort in eine der sozialen Schichten einzureihen, ließ ihn aus dem Betragen des Mädchens den Schluß ziehen, daß es nicht zu jener Gesellschaft gehörte, die er die „allerbeste” zu nennen pflegte. Und nach der Art der Männer, welche die Widerstandsfähigkeit einer Frau nach den Einnahmen ihres Vaters berechnen, entschloß er sich, so weit, das heißt: so nah zu gehn, wie es die Abgeschiedenheit und die Dunkelheit des Ortes erlaubten.

Er erfuhr einladende Zurückweisungen. Der Schuppenpanzer lockerte sich. Seine Versuche waren bereits so kühn geworden, daß er in das Stadium geriet, in dem er das Gesicht, also die Individualität der Frau vergaß und nur noch die Nähe des anderen Geschlechts kannte. Da erschrak er vor einem Geräusch. Ein Rokokoprinz war vorübergegangen und hatte halblaut seinen Namen gerufen. Er bat das Mädchen, auf ihn zu warten, und ging dem Prinzen nach. Es war Sandor Tekely.

„Ich gratuliere zu Ihrer Eroberung!” sagte Tekely.

„Mir scheint auch, daß sie hübsch ist”, meinte Bernheim. Er war ein wenig unfreundlich, der Störung wegen und weil Tekely ihm gestern ganz anderes und Wichtigeres versprochen zu haben schien.

„Hübsch ist sie natürlich auch”, sagte Tekely. „Aber das ist nicht die Hauptsache. Sie wissen doch, wer sie ist.”

„Keine Ahnung!”

„Es hat keinen Sinn zu leugnen, lieber, lieber Freund! Sie wissen ganz gut, daß es Fräulein Irmgard Enders ist.”

„Enders – chemische Werke?”

„Ja, kehren Sie schnell zurück.”

Paul Bernheim beeilte sich zurückzukehren.

Fräulein Enders hatte ihn erwartet. Aber sie konnte die Veränderung nicht verstehen, die offenbar mit diesem Mann vorgegangen war. Denn es war Paul nun, da er den Namen seiner Partnerin kannte, unmöglich, eine Hand zu rühren. Und während ihm früher ihr Gesicht vollkommen gleichgültig gewesen war, glaubte er jetzt, es sei am wichtigsten zu wissen, wie sie aussehe.

„Ach, du bist langweilig geworden”, sagte Fräulein Enders mit Recht. Und sie wollte sich erheben.

Er hielt sie mit Anstrengung zurück. Noch einmal segnete er den Sandor Tekely. Er begann zu erzählen. Es war immer noch das beste, wenigstens die Zunge zu bewegen, da die Hände schon gelähmt waren. Er fühlte, daß sein Leben von diesem Fräulein abhing und daß er um keinen Preis langweilig erscheinen durfte. Mit dem Respekt vor der chemischen Industrie, der in den Männern vom Schlage Paul Bernheims alle Fähigkeiten der Achtung und der Schätzung ersetzt und alle Wertungen und Maßstäbe bestimmt, mit dem Respekt vor der Chemie, zauberhaft wie ihre Formeln, groß wie die Gläubigkeit der Frommen, die Ergebenheit treuer Monarchisten für Kaiser und Könige und die Verehrung mancher Völker für Tote: mit diesem Respekt begann jetzt Paul Bernheim, Fräulein Enders zu beobachten, zu unterhalten und zu umwerben. Er fürchtete unaufhörlich, die Aufgabe konnte mißlingen. Es war ihm unmöglich, seine frühere Unbefangenheit wiederzufinden. Er sehnte sie herbei. Sie hatte Fräulein Enders gefallen. Aber er bewegte sich zitternd zwischen der Angst, das Bild von der Majestät der Chemie, das er tief in seinem Herzen trug, zu beleidigen, und dem Wunsch, es so geringzuschätzen, daß er die notwendige Freiheit der Tochter großer Männer gegenüber wiederfände.

 

Er warf sich aufs Erzählen, wie es seine Art war (denn er besaß die literarische Fähigkeit zu lügen), und also berichtete er durcheinander fremde und eigene Erlebnisse, eigene und entlehnte Scherze und Anekdoten, und innerhalb einer Viertelstunde war der alte Paul Bernheim wiederauferstanden, der Charmeur, der Dilettant und der Kenner der Kunstgeschichte. Das Blau seines alten Augenaufschlags aus der Jünglingszeit, das sich mitten zwischen den Inflationsgeschäften ein wenig abgenützt zu haben schien, wurde wieder so leuchtend, daß Fräulein Enders es trotz der Dämmerung bemerken mußte. Er pointierte die Geschichten derart, daß sie wie die echten mythologischen Liebespfeile wenn nicht das Herz, so doch die Phantasie dieses Mädchens treffen mußten. Und er verstand es so gut, ganz zufällig der Held seiner Geschichten zu werden, daß sogar seine Prahlerei die Physiognomie der Bescheidenheit bekam. Er war im besten Zug. Er vergaß nicht, Geschichten, die seinen Mut bewiesen hatten, andere folgen zu lassen, in denen seine furchtsame Menschlichkeit zum Vorschein kam, so daß Fräulein Enders, die schon den unmittelbaren Mut der Tatkraft bewunderte, nun auch den der Aufrichtigkeit zu schätzen begann. Sie unterhielt sich gut in Pauls Gesellschaft. Da sie seinen Erzählungen entnahm, daß er in Oxford erzogen worden war, vermutete sie sofort und automatisch eine Verwandtschaft mit englischer Aristokratie – der einzigen, die noch gelegentlich den Rittern der Chemie imponiert. Als sie den simplen Namen Paul Bernheim erfuhr, denn er hielt darauf, ihn ihr zu sagen, wurde ihr der junge Mann ein wenig rätselhaft, was jungen Mädchen noch mehr gilt als englisch und aristokratisch. Sie sollte von einem guten Freund ihres Hauses abgeholt werden, aber sie zog es vor, Bernheims Begleitung anzunehmen. Ihr Wagen, der an der Straßenecke wartete, und der Chauffeur mit dem durch Technik verschärften Profil eines Lakaien aus alter Rasse versetzten Paul in ein Entzücken, das den Liebhabern vergangener Jahrhunderte nur der Anblick eines Strumpfbands zu entlocken vermocht hatte. Und er geriet in einen Taumel, als er einen englischen Windhund, in wollene Decken verpackt, im Wagen vorfand, einen Hund, der nach Oxford roch und englischem Rasen. Mit einer Anstrengung, die ihm den Atem nahm, überwand er noch im letzten Moment die Pietät für die Gesellschaftsklasse des Fräuleins, und er fand glücklicherweise noch Kraft und Geistesgegenwart genug, knapp drei Minuten vor dem Hotel Adlon den Arm um die Schulter des Mädchens zu legen. Er hatte rechtzeitig daran gedacht, daß körperliche Berührungen am wenigsten vergessen werden.

So war es in der Tat. Paul Bernheim war der erste Mann, der auf das Fräulein Irmgard Enders Eindruck machte. Zwei Hauslehrer, die einmal – sie war damals achtzehn Jahre alt – im Garten ihres Hauses, an schwülen und erregenden Sommernachmittagen die Gewohnheit angenommen hatten, die Lektionen zu unterbrechen und Liebesbeziehungen zu ihr herzustellen, konnten überhaupt nicht zählen. Es waren Domestiken, deren Berührungen, losgelöst von ihren Persönlichkeiten, sich selbständig vollzogen hatten und eine entfernte Ähnlichkeit mit bezahlten Diensten aufwiesen. Sonst gab es nur harmlose Kameraden, Tennisspieler und Sommerschwimmer, Arosa-Rodler und Charlestontänzer. Dieser junge Paul Bernheim aber hatte die Welt gesehn, mußte Erlebnisse haben, einen merkwürdigen Beruf, nach dem sie zu fragen für unpassend gefunden hatte, kannte merkwürdige Leute und auch gute Gesellschaft, sprach über Pferde, auch über Automobile, und sein Gesicht war sympathisch – Irmgard fand es sympathisch.

Sie stellte sich noch einmal im Kostüm vor den Spiegel. Sie gefiel sich. Sie war gewohnt, sich zu gefallen. Ihre Beine waren keineswegs schlecht! Schlecht konnte man nicht sagen! Die Knöchel waren zu stark, wenn man sie mit dem Umfang der Waden verglich, und erschienen zart, weil sie jetzt Hosen trug. Sonst alles tadellos. Die Brust etwas zu hoch angesetzt. Aber dafür die Schultern stark genug, weiß und aufregend, so daß sie, enthüllt, im Abendkleid, die Brüste fast vergessen ließen. Von Bauch keine Spur. Die Hüften ausladend – kam vielleicht von zuviel Reiten? Die Hände stark vom Tennisrakett, aber lang und die Finger wohl proportioniert. Das blonde Gesicht unscheinbar, der Mund für ihren Geschmack zu klein, besonders da die Zähne zu groß waren. Eine verräterische Falte parallel unter dem Kinn – was war das? Doch erst einundzwanzig Jahre? Kam vielleicht von ihrer ekelhaften Gewohnheit, den Kopf so tief zu senken, wenn sie las. Überhaupt brauchte man nicht zu lesen.

Sie wollte übermorgen – wenn Onkel Carl sie abholen kam – eine Andeutung machen. Vielleicht kannte er den Namen? Gott sei Dank hatte sie keine Eltern mehr. Ihre Kameradinnen Lisa, Inge und Hertha hatten viel weniger Freiheit. Derart konnten sie nicht über Auto, Chauffeur, Hund und Kostümfeste verfügen. Waren allerdings keine Persönlichkeiten. Während Irmgard – wie haßte sie diesen Namen, Geschmack einer Vorkriegsgeneration! —, sie, Irmgard, trotzdem Irmgard, eine Persönlichkeit war! Einen Mann konnte sie selbst finden. Sie hatte einen ausgezeichneten Geschmack. Sie konnte hart sein, verachtete Sentiments, und wenn sie auch die noch fast intakte Jungfernschaft ein wenig störte, so wußte Irmgard doch, daß dieser Fehler mehr die Feigheit der Männer bezeugte als ihre eigene.

Sie legte sich befriedigt schlafen und träumte einen der Träume ihrer Generation: in einem grauen, schmalen Sportwagen guter Rasse und so weiter. Knapp vor den ersten Häusern eines Dorfes verschwand der Traum, und ein Schlaf ohne Bilder und ohne Störung begann und dauerte bis elf Uhr vormittags.