Seewölfe - Piraten der Weltmeere 212

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 212
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-548-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Der große Regen hatte während der Nacht eingesetzt und ergoß sich rauschend in den Golf von Bengalen und auf die Ostküste Indiens. Er breitete dichte Dunstschleier über, den Kämmen der Wogen aus, die vom Wind aus Nordosten auf Legerwall gedrückt wurden, und trommelte auf die schweren, ledrigen Blätter der Urwaldbäume und Sträucher. Er verwandelte die Bäche an der Koromandelküste in reißende Flüsse und die Flüsse in Ströme und ließ auf den terrassenförmigen Stufen des Dekkans, die „Ghats“ genannt wurden, Schlammfelder und Seen entstehen.

Der Monsunregen beherrschte die Szene und ließ den jungen Morgen zu einer Sphäre des Halbdunkels und der Undurchdringlichkeit werden. Sein Rauschen und Plätschern schien überall zu sein, und es schien nie mehr aussetzen zu wollen, heute nicht, auch nicht morgen, übermorgen oder in einer Woche.

Die „Isabella VIII.“ segelte auf Backbordbug liegend durch die bewegte See auf False Divi vor dem Mündungsdelta des Flusses Krishna zu. Die dschungelbewachsene Küste der Insel tauchte wie aus Nebeln des Jenseits vor ihrem Bugsprit auf.

Yasin, der Pirat, den Hasard aus der Bucht von Kadiri gerettet hatte, stand neben dem Seewolf auf der Kuhl, als dieser seine Befehle an die Crew gab. Der Regen näßte ihre Gestalten nicht, denn auf Hasards Anordnung hin waren über der Back, dem Haupt- und dem Achterdeck Schutzdächer aus Persenning gespannt worden.

Yasin hatte Hasard soeben erklärt, daß die Ankerbucht der Piratenschiffe an der Westseite der Insel wie üblich bewacht sein würde, aber er hatte ihm auch gesagt, wie er die Posten Raghubirs überlisten konnte.

So steuerte die „Isabella“ nun die Leeseite der Insel an und schlich sich im dichten Regen an der Bucht vorbei, deren Posten von den Baumgruppen am Strand aus, unter die sie sich gekauert hatten, die Galeone beim besten Willen nicht erkennen konnten. Die Entfernung war zu groß, und der wolkenbruchartig niederprasselnde Regen hüllte schon die beiden in der Bucht ankernden Zweimaster Raghubirs derart dicht ein, daß ihre Umrisse nur als schwache Schemen zu erkennen waren.

Keine halbe Meile nördlich der geschützten Bucht öffnete sich wie eine Bresche im Dschungel die Mündung eines Flusses, die breit genug war, um ein Segelschiff von der Größe der „Isabella“ aufzunehmen.

„Von dort aus führen zwei geheime Pfade durch den Urwald“, sagte Yasin, der Pirat. „Raghubir hat sie anlegen lassen, um im Falle eines Angriffs auf die Bucht eine Ausweichmöglichkeit zum Fluß hin zu haben.“

„Ich hoffe immer noch, du sagst die Wahrheit.“ Der Seewolf blickte dem Inder forschend ins Gesicht. Durfte er ihm vertrauen? Gewiß, Yasin hatte sich dazu entschlossen, zu sprechen, und alles zu verraten, was er über Raghubir und dessen Freibeuterbande wußte. Aber sein Verhalten erschien Hasard fast ein wenig zu unterwürfig und bereitwillig.

Yasin beeilte sich zu versichern: „Es ist die Wahrheit, ich schwöre es. Der eine Pfad führt hinauf zu den acht Hütten, die gut eine Meile von dem Ufer der Bucht entfernt auf der kleinen Lichtung eines flachen Hügels stehen. Der andere verläuft durch den Dschungel bis zur Bucht.“

Hasard nickte. Er mußte sich auf die Aussagen des Mannes verlassen, eine andere Wahl hatte er nicht.

Er wandte sich Ben Brighton zu, der das Achterdeck verlassen hatte und zu ihnen getreten war, und sagte: „Ben, wir bilden zwei Landtrupps von je acht Mann. Die anderen bleiben an Bord der ‚Isabella‘. Willst du mich dieses Mal begleiten?“

„Unbedingt, Sir“, antwortete sein erster Offizier und Bootsmann.

„Gut, dann übernimmt Ferris für die Zeit unserer Abwesenheit das Kommando über die ‚Isabella‘.“

„Aye, Sir“, sagte Ferris Tucker, der sich inzwischen ebenfalls genähert hatte.

Hasard war entschlossen, sein Vorhaben so schnell und konsequent wie möglich durchzuführen. Raghubir war es gelungen, bei seinem nächtlichen Überfall auf Kadiri zwei Dutzend Mädchen aus dem Fischerdorf zu entführen und auf die Insel zu verschleppen. Hasard wollte sie retten. Er hatte es Narayan, Kankar und Chakra versprochen, die sich an Bord der „Isabella“ befanden.

Auch Shandra und Ginesh, die Töchter von Narayan und Kankar, befanden sich in der Gewalt von Raghubir.

Die „Isabella“ hatte die Ankerbucht der Piratenschiffe Steuerbord achteraus gelassen, und Bill, der Moses, meldete jetzt durch einen Ruf aus dem Großmars, daß er die Mündung des Flusses entdeckt habe.

Hasard und seine Männer bereiteten sich auf die bevorstehende Landung vor. Sie ahnten nicht, daß im Versteck der Piraten das Drama bereits seinen Lauf genommen hatte.

Raghubir lag auf dem Boden seiner Wohnhütte und stöhnte. Er war von dem Stuhl gesunken, auf dem er eben noch gesessen hatte, krümmte sich und preßte die Hände gegen den Leib. Nur seine Beine zuckten noch ein wenig, sein übriger Körper war durch das Gift gelähmt. Sein Gesicht hatte eine weißliche Färbung angenommen und wirkte im Licht des Feuers fratzenhaft.

„Tanjoghe heißt der Busch, der im Dschungel wächst“, erklärte Shandra ihm noch einmal, während sie sich neben ihn kniete. „Auf dem Weg hierher stürzte ich. Erinnerst du dich, Raghubir? Dabei gelang es mir, ein paar Blätter in meinen Besitz zu bringen. Ich steckte sie hinter den Leibgurt, den ich unter meinem Kleid trage. Dann, als du mir befahlst, den roten Wein in dem kleinen Kessel zu erhitzen, nahm ich die Gelegenheit wahr und tat die Blätter hinein.“

Sie schwieg und tupfte sich die Lippen mit einem Tuch ab, das Ginesh ihr reichte. Shandra lächelte ihrer Schwester zu.

„Danke, Ginesh. Ich habe auch von dem Schierlingstrunk gekostet, aber ich habe keinen Tropfen heruntergeschluckt. Ich werde nicht einmal Magenschmerzen kriegen, du kannst ganz beruhigt sein.“

Die Angst wich aus Gineshs Augen, sie lächelte plötzlich auch.

Raghubir gab einen röchelnden Laut von sich.

„Du – Satan“, stöhnte er.

„Stirb“, sagte Shandra. „Die Lähmung hindert dich daran, um Hilfe zu schreien, sie nimmt auch von deiner Zunge Besitz. Du bist uns ausgeliefert, Raghubir, und weder Ginesh noch ich werden auch nur einen Finger für dich rühren. So räche ich den Tod der Meinen. Narayan, mein lieber Vater, Kankar, meine gütige Mutter, und Chakra, mein mutiger Bruder, sind auf ihrem Boot geradewegs ins Nirwana hinübergesegelt, ins alles auflösende Nichts.“

Gineshs Lächeln zerfiel. Sie gab ein trockenes Schluchzen von sich.

„Also doch“, flüsterte sie entsetzt. „Ich habe es geahnt, Shandra.“

Shandra legte den Finger gegen die Lippen ihrer zwölfjährigen Schwester und raunte: „Ruhig, ganz ruhig, weine jetzt nicht. Sie werden die paradiesische Glückseligkeit finden und nie mehr zu leiden haben.“ Sie wies auf den Anführer der Piraten und zischte: „Aber er wird ihnen dorthin nicht folgen. Mulayaka und die anderen Dämonen der Finsternis werden ihn bis in die Ewigkeit hinein quälen, denn genau das hat er verdient.“

Ginesh preßte die Hände vors Gesicht, doch über ihre Lippen drang kein Laut.

Shandra ließ sie gewähren. Den Schmerz über den Verlust ihrer Eltern und ihres Bruders konnte sie ihr nicht nehmen; es war gut, wenn Ginesh allein damit fertig wurde.

Raghubir stöhnte nicht mehr. Er lag auf der linken Seite seines Körpers und war zu keiner Bewegung fähig. Nur in seinen Augen schien noch Leben zu sein. Sein Blick richtete sich auf den Krug, den er leergetrunken und anschließend auf dem Boden abgestellt hatte, dann wanderte er weiter, und der Ausdruck von Entsetzen und Unglauben verwandelte sich in lodernden Haß, als er Shandras Gesicht erreichte.

Shandra erwiderte den Blick ungerührt.

Die Luft im einzigen großen Raum der Hütte war von dem starken Duft des Weinpunsches geschwängert, aber auch von dem herben Geruch der Tanjoghe-Blätter, der sich jetzt mehr und mehr ausbreitete. Der Regen trommelte mit ungehemmter Kraft auf das Dach der Behausung, und manchmal geriet ein Tropfen durch den Rauchabzug in das Feuer. Es zischte, aber der Regen konnte die Flammen nicht löschen.

„Heißer Wein“, sagte Shandra. „Du wolltest dich damit gegen die Fieberkrankheiten schützen, die der große Regen bringt, doch du hast das Gegenteil erreicht, Mörder. Die Spanier, denen dieser Wein dereinst gehörte, wären froh, heute zu erfahren, welchen Zweck er erfüllt hat. Aber sie werden es nie mehr vernehmen, denn du hast auch sie getötet. Wie viele Menschen hast du umgebracht, Raghubir?“

Er starrte sie aus unnatürlich geweiteten Augen an, doch der Haß schien langsam zu erlöschen. Sein Blick trübte sich.

 

„Es müssen Hunderte sein“, sagte Shandra, dann erhob sie sich und schlich zur Tür der Hütte. Sie lauschte eine Weile dem Grölen und Singen der Männer und dem Kreischen der Mädchen in den Nachbarhütten, wandte sich darauf wieder ihrer Schwester zu und wisperte: „Sie sind beschäftigt, diese elenden Hunde. Sie ahnen nichts, schöpfen noch keinen Verdacht, daß etwas nicht stimmen könnte. Aber bald wird Koppal, der Narbige, auftauchen und nach dem Rechten sehen. Er mißtraut uns, weil wir Jammur, seinen Kumpan, getötet haben, und er wird sofort versuchen, uns totzuschießen, wenn er uns hier neben der Leiche Raghubirs antrifft.“

„Wir müssen fort“, flüsterte Ginesh. „Aber wohin?“

„Zur Bucht. Dort liegen ihre Boote.“

„Du willst – auf das Wasser hinaus?“

„Ja. Zum Festland ist es nicht weit. False Divi liegt vor der Mündung des Krishna-Flusses“, sagte Shandra. „Wir müssen die Sümpfe des Deltas durchqueren und nach einem Dorf suchen. Dort sind wir sicher, vorläufig jedenfalls.“

Sie wollte weitersprechen, schwieg jetzt aber, weil sie festgestellt hatte, daß Raghubirs Augen sich nicht mehr in ihren Höhlen bewegten. Blicklos waren sie auf die Hüttenwand gerichtet.

Shandra ging zu ihm, beugte sich über ihn, richtete sich wieder auf und sagte: „Er ist tot. Los jetzt, Ginesh. Ich nehme seine Waffen. Ich glaube, ich kann damit umgehen, ich habe gesehen, wie man die Feuerrohre bedienen muß. Lauf du als erste los, Schwester, und nimm den Pfad zur Bucht hinunter.“

Ginesh sah sie entgeistert an. „Du kommst nicht mit? Aber …“

„Ich passe auf, daß dir keiner folgt“, unterbrach Shandra sie mit sanftem Lächeln. „Dann versuche ich, wenigstens noch einige unserer armen Stammesschwestern zu befreien. Wir müssen uns trennen, Ginesh, anders geht es nicht. Willst du die anderen etwa ihrem Schicksal überlassen? Willst du das wirklich?“

Ginesh senkte ihren Blick zum Hüttenboden. „Nein.“

„Dann lauf, so schnell du kannst“, sagte ihre Schwester. „Wir sind frei und werden leben, denn Vishnu, der Erhalter, ist unser Verbündeter.“

Sie bückte sich noch einmal zu Raghubir hinunter und zog diesem die Steinschloßpistole aus dem Waffengurt. Dann schaute sie sich nach seiner Muskete um und entdeckte sie jenseits des Feuers an der gegenüberliegenden Hüttenwand.

Der Pirat war groß und kräftig gebaut. Er trug nur einen Lendenschurz und eine turbanähnliche Kopfbedeckung. Er hockte unter dem riesigen Seidenbaum, der ihm und seinem Begleiter nur unzulänglichen Schutz vor den niederprasselnden Regentropfen bot. Das Wasser lief an seiner muskulösen braunen Gestalt hinunter und formte Pfützen neben seinen nackten Füßen.

Mißmutig blickte er zu dem Kumpan, einem hageren Bengalen, hinüber.

„Baudh soll verdammt sein“, sagte er. „Er hat uns als Wachtposten eingeteilt – ausgerechnet uns.“

„Raghubir hat es ihm gesagt.“

„Aber die Wahl blieb Baudh überlassen. Der Hund kann uns nicht leiden, ich schwöre es dir. Deshalb hat er uns zu diesem verfluchten Sträflingsdienst verdonnert.“

„Baudh ist Raghubirs bester Vertrauter“, sagte der Bengale. „Keiner kann ihm seinen Platz als die rechte Hand unseres Führers streitig machen. Deswegen hat es keinen Sinn, gegen ihn aufzumucken.“

Der Große verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Du hältst zu ihm, wie? Ihr stammt ja aus derselben Gegend, nicht wahr, und deswegen seid ihr ein Herz und eine Seele, oder?“

„Das redest du dir nur ein. Ich sage, es hat keinen Zweck, gegen ihn aufzumucken.“

„Wer will denn meutern?“ stieß der Große wütend hervor. „Verdreh mir bloß nicht das Wort im Mund.“ Er wischte sich mit seiner groben, schwieligen Hand das Regenwasser aus dem Gesicht. „Ich meine nur – wir hätten jetzt oben im Lager sein können, um mit den anderen zu feiern, um zu trinken und uns darüber zu freuen, daß wir dem Gefecht gegen diese fremden Teufel mit heiler Haut entronnen sind. Ja, wir hätten unseren Spaß mit den Weibern haben können, sie sind jung und hübsch und wahrscheinlich alle noch unberührt, aber statt dessen sitzen wir hier in Dreck und Schlamm und müssen uns bis auf die Knochen durchnässen lassen.“

„Wir können uns doch ein kleines Schutzdach aus Zweigen und Blättern bauen“, schlug der Bengale vor.

Der Große lachte höhnisch auf. „Damit die Wachablösung sich nachher hübsch gemütlich ins Trockene setzen kann, was? Ohne auch nur einen Finger zu rühren – das könnte den Höllenbraten so passen. Nein, für die tue ich keinen Handstreich.“

„Du bist so zornig, daß du überhaupt nichts mehr begreifst“, sagte der andere.

„Ja, ich bin wütend! Warum passen wir eigentlich auf die Schiffe auf? Es ist überflüssig. Keiner holt sie aus der Bucht weg, und keiner läuft False Divi bei diesem Regen an.“

Der Bengale erhob sich. „Es ist mir egal, was du denkst. Ich gehe jetzt Reisig holen und baue mir das Dach allein. Der Regen bringt auch die schlimmen Krankheiten, vergiß das nicht. Und ich will nicht am Fieber sterben, jetzt, da wir wieder hier sind und uns erholen können.“

Er stapfte über den schlüpfrigen Strand auf das Dickicht zu, drang zwei Schritte ein und begann, große und kleine Zweige loszubrechen.

Der Dschungel atmete seinen stikkigen Dunst aus, der jeden Atemzug zu lähmen drohte. Die Hitze und die Feuchtigkeit ließen den Wald zu einer wahren Brutstätte all der Krankheiten werden, die jeder Eingeborene fürchtete: Malaria, Schlafkrankheit, Gelbfieber, Ruhr, Cholera und Pest. Der Bengale schüttelte sich unwillkürlich, als er daran dachte.

Der Große kauerte in unveränderter Haltung unter dem Seidenbaum und grübelte mit finsterer Miene darüber nach, wer wohl die fremden Männer an Bord der dreimastigen Galeone gewesen sein mochten, die ihnen in der vergangenen Nacht so arg zugesetzt hatten. Spanier? Portugiesen? Engländer?

Sie hatten mit teuflischen Mitteln gekämpft, mit Flaschen, die in hohem Bogen durch die Luft flogen und dann explodierten. Ein Schiff des Piratenverbandes hatten sie auf diese Weise in die Luft gejagt, und auch Raghubirs Zweimaster und der dritte Segler waren ramponiert worden.

Raghubir hatte die Flucht ergriffen – zum erstenmal, seit er an der Ostküste Indiens seine Beutezüge unternahm.

Er hat die Schlacht falsch begonnen, dachte der Pirat, sonst hätten wir siegen müssen, denn wir waren in der Übermacht. Raghubir hat bewiesen, daß auch er seine schwachen Seiten hat. Einige von uns sind verreckt, aber wir hätten auch alle sterben können.

Der Bengale hatte unterdessen so viele Zweige und Blätter abgebrochen, daß er meinte, sie müßten genügen, um einen provisorischen Unterschlupf herzustellen. Er wollte zu seinem Kumpan zurückkehren, glaubte aber plötzlich, hinter sich ein Geräusch wahrzunehmen, das sich vom Rauschen des Regens und den sonst üblichen Lauten des Dschungels deutlich unterschied. Ein Knakken, als habe jemand auf einen Zweig oder auf eine Wurzel getreten.

Er fuhr herum.

Er sah eine Bewegung und erkannte zu seinem Entsetzen die Umrisse einer Gestalt, die aus Dunst und Wasser hervorzuwachsen schien. Er ließ das Reisig fallen und griff nach dem Säbel, der in seinem Gurt steckte.

Doch es war bereits zu spät für eine Reaktion. Der Fremde riß eine große Faust hoch, und die eisenharten Knöchel trafen das Kinn des Freibeuters mit voller Wucht. Er brach zusammen, aber ehe er das Bewußtsein verlor, stellte er noch fest, daß der Fremde hochgewachsen und breitschultrig war und schwarze Haare hatte – ein weißer Mann mit einem markant geschnittenen und verwegenen Gesicht, das von einem Paar eisblauer Augen beherrscht wurde.

2.

Hasard beugte sich über den hageren Bengalen und vergewisserte sich, daß dieser auch wirklich besinnungslos war. Dann wandte er sich um und gab seinen wartenden Männern ein Zeichen.

Sie schlüpften aus dem dichten Gestrüpp hervor und zu ihm: Carberry, Big Old Shane, Blacky, Batuti, Dan O’Flynn, Smoky und Matt Davies. Blacky und Batuti legten dem überwältigten Gegner Hand- und Fußfesseln an. Sie verschnürten ihn so, daß er sich nicht mehr rühren konnte, und steckten ihm dann einen Stofffetzen als Knebel zwischen die Zähne.

Hasard teilte die Zweige des Gebüschs, das zwischen ihm und dem Strand war, mit den Händen und spähte durch den Regen zu der Gestalt des zweiten Wachtpostens hinüber.

„Es ist nicht so leicht, sich an ihn heranzuschleichen“, teilte er seinen Begleitern dann flüsternd mit. „Er sitzt ziemlich weit vom dichten Gebüsch entfernt und könnte sich umdrehen, ehe wir ihn zu fassen kriegen. Wenn er Krach schlägt, vereitelt er womöglich unseren Überraschungsangriff auf das Hüttenlager.“

„Es liegt eine Meile entfernt, hat Yasin gesagt“, raunte Shane. „Und wenn der Kerl dort unter dem Baum auch noch so brüllt, seine Spießgesellen oben auf dem Hügel können ihn bei dem Lärm, den der Regen verursacht, doch nicht hören.“

„Es sei denn, er feuert seine Pistole oder seine Muskete ab“, meinte Matt Davies leise.

Carberry warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. „Manchmal frage ich mich, ob du mit dem Kopf denkst oder mit einem anderen Körperteil, Mister Davies. Bei diesem Guß ist keine Schußwaffe mehr zu gebrauchen, du Stint, denn das Zündkraut wird naß.“

„Es sei denn, man bewahrt sein Schießeisen im Trockenen auf“, zischte Matt. „Könnte doch immerhin sein, oder, Mister Carberry?“

Der Seewolf brachte sie durch eine Gebärde zum Schweigen, ehe sich ihre Gemüter zu sehr erhitzten.

„Ob er nun eine schußbereite Waffe hat oder nicht, wir gehen kein Risiko ein“, raunte er. „Warten wir eine Weile ab, vielleicht fängt er an, seinen Genossen zu vermissen.“

Tatsächlich stand der Große wenige Augenblicke später auf und setzte sich in Richtung auf das Dickicht in Bewegung.

„Satan von einem Bengalen“, sagte er ärgerlich. „Wo steckst du? He, was ist das für eine Art, seinen Posten zu verlassen und so lange wegzubleiben? Bei Shiva, ich pfeife auf dein elendes Regendach.“

Eine Antwort erhielt er nicht.

Verwundert trat er noch einen Schritt näher an das Gestrüpp heran. Der Regen flutete auf ihn nieder und troff an seiner Gestalt hinunter.

„Bist du hier?“ fragte er dann noch einmal, diesmal lauter, um sich gegen das Rauschen des Wassers zu behaupten: „He, du Galgenstrick, bist du noch da?“

Ein lautes Rascheln ertönte plötzlich aus den Büschen. Der Pirat stieß einen Fluch aus. Er glaubte, seinen Begleiter entdeckt zu haben und hielt schon eine neue, noch üblere Verwünschung zu seiner Begrüßung bereit, aber da brach etwas ungestüm aus den Sträuchern hervor und flog auf ihn zu. Es war eine wuchtige, bullige menschliche Gestalt, die den Freibeuter mit ihrem Gewicht unter sich begrub, ehe er ihr ausweichen konnte. Beide Männer landeten im Schlamm.

Carberry hielt die Arme des Inders mit seinen Knien fest, so daß dieser sie nicht mehr bewegen konnte. Er hieb nur einmal mit seiner Faust zu, und der Mann unter ihm erschlaffte und blieb mit geschlossenen Augen reglos liegen.

Hasard, Shane und die anderen traten aus dem Gebüsch. Sie suchten die nähere Umgebung nach weiteren Wachtposten ab, konnten aber niemanden entdecken.

„Zwei Wächter an der Bucht, hat Yasin gesagt“, brummte Big Old Shane. „Und zwei waren es auch nur. Der Bursche scheint also wirklich die Wahrheit zu sprechen.“

Hasard sagte: „Es hat den Anschein. Aber ich bin immer noch nicht ganz davon überzeugt, daß er aufrichtig ist.“

„Warum haben wir ihn dann nicht bei uns behalten?“ fragte der graubärtige Riese.

Hasard blickte ihn an. „Weil es mir lieber ist, wenn er Bens Gruppe zum Lager hinaufführt. Der Pfad von der Flußmündung bis zum Versteck ist schwerer zu verfolgen als der, der von hier aus zur Lichtung verläuft. Jedenfalls behauptet Yasin das. Ich habe Ben aber eingeschärft, er soll ihn im Auge behalten.“

Matt Davies hatte sich über den bewußtlosen Piraten gebeugt.

Carberry richtete sich soeben wieder auf und sagte unfreundlich: „Sieh ihn dir ruhig ganz genau an. Er trägt eine Pistole, aber sie ist klatschnaß. So schlau, die Waffe in einen ölgetränkten Lappen zu wikkeln, wie wir es getan haben, war er nicht. Meiner Meinung nach ist er ein Idiot.“

„Mister Carberry, Sir“, sagte Matt in gespielter Ehrfurcht. „Ich bewundere deinen Scharfsinn.“

Hasard näherte sich ihnen, deshalb verkniff sich der Profos eine geharnischte Antwort.

„Smoky und Matt“, sagte der Seewolf. „Ihr fesselt auch diesen Kerl, und dann bleibt ihr als Wachtposten hier am Strand zurück. Versucht, jeden zurückzuhalten, der sich möglicherweise den Booten nähert. Wir sechs anderen versuchen jetzt, so schnell wie möglich das Hüttenlager zu erreichen.“

 

Kurze Zeit später hatte er mit dem Profos, Shane, Blacky, Batuti und Dan den Pfad entdeckt, der sich durch den Busch zum Hügel hinaufwand. Yasin, der früher bei den Spaniern in Madras als Lakai gedient hatte und die spanische Sprache ziemlich gut beherrschte, hatte eine ausgezeichnete Beschreibung von den Ortsverhältnissen gegeben.

Hasard und sein Trupp mußten also von Südwesten her auf das Lager stoßen. Ben und seine Gruppe hatten es inzwischen zweifellos vor sich, ihr Weg traf von Westen her auf die Lichtung.

Gemeinsam wollten sie in das Lager eindringen und versuchen, die Mädchen zu befreien.

Außer Yasin befanden sich bei Ben Brighton Old O’Flynn, Luke Morgan, Bob Grey, Jeff Bowie, Stenmark und Sam Roskill.

An Bord der „Isabella“ waren somit nur noch Ferris Tucker, der Kutscher, Pete Ballie, Gary Andrews, Al Conroy, Will Thorne, Bill und Philip junior und Hasard junior, die Söhne des Seewolfs – ein kleiner Haufe nur, aber immer noch stark genug, um im Bedarfsfall die Geschütze zu zünden, die unter den Regendächern aus Persenning gefechtsbereit standen.

Narayan und Chakra hatten den Seewolf unbedingt begleiten wollen, doch er hatte ihre Unterstützung energisch abgelehnt. Chakra konnte sich gewiß nicht auf den Beinen halten, und auch Narayan war von Raghubir so schwer verwundet worden, daß er in einem neuen Kampf gegen die Piraten keine Hilfe, sondern eher eine Last dargestellt hätte.

So harrten Narayan, Chakra und Kankar bangen Herzens in der Achterdeckskammer der „Isabella“ aus, in der der Seewolf sie untergebracht hatte. Sie flehten in ihren stummen Gebeten Brahma, Vishnu, Krishna, Shiva, Indra und die anderen Gottheiten der Hindus an, sie mögen den weißen Männern bei ihrem tollkühnen Unternehmen beistehen – damit Shandra, Ginesh und die anderen Mädchen von Kadiri nicht sterben mußten.

Ginesh hatte das Lager der Piraten verlassen und hastete auf dem Pfad zur Bucht hinunter. Ihr Herz schlug schnell und heftig, und die Angst vor etwaigen Verfolgern saß ihr wie eine Faust im Nacken. Immer wieder drehte sie sich um und blickte zurück in den grünen, dampfenden Wald. Aber niemand erschien hinter ihr, um sie festzuhalten und zurück zu den Hütten zu schleppen.

Sie rutschte auf dem morastigen Untergrund aus und stieß sich beinah den Kopf an einem der mächtigen Baumstämme. Fast hätte sie aufgeschrien, aber sie konnte sich im letzten Augenblick noch beherrschen. Sie zwang sich zu eiserner Disziplin, rappelte sich wieder auf und lief weiter.

„Du mußt stark sein und hart gegen dich selbst werden.“ Diese Worte hatte Shandra ihr mit auf den Weg gegeben. Jetzt, da sie ganz auf sich allein angewiesen war, wollte Ginesh um jeden Preis zeigen, daß sie nicht mehr das törichte Kind war, das bei jedem Anlaß zu weinen anfing.

Shandra, ich will so wie du werden, dachte sie, und sie eilte weiter durch den Regen, der sie bis auf die Haut durchnäßte, aber auch den gröbsten Schmutz von ihrem dünnen Gewand wusch.

Sie glaubte, das Herz würde ihr stehenbleiben, als sie mit einemmal eine dicke Schlange gewahrte, die keine fünf Schritte vor ihr behäbig von links nach rechts über den Pfad wechselte. Sie fürchtete sich davor, durch einen Sprung über das Reptil hinwegzusetzen, deswegen drückte sie sich nach links ins Dickicht und wartete ab, bis es verschwunden war.

Riesenschlangen wie diese bissen ihre Opfer nicht tot, sie fingen sie mit ihren Leibeswindungen ein und erwürgten sie. Ginesh hatte schon von Männern vernommen, die über eine Python gestolpert, gestürzt und dann von ihr gepackt worden waren, ehe sie wieder hatten aufspringen können. Wie wahr solche Geschichten, die in den Fischerdörfern erzählt wurden, tatsächlich waren, vermochte sie nicht abzuschätzen. Sie konnte aber nicht Herr über ihre Angst werden und versteckte sich zitternd im Gestrüpp.

Plötzlich drangen Stimmen an ihr Ohr.

Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Täuschte sie sich – oder näherte sich da jemand?

Ihre Knie begannen immer heftiger zu beben, so stark, daß sie nachzugeben drohten. Nur mühsam hielt Ginesh sich aufrecht und spähte im prasselnden Regen nach den Männern, die jetzt ganz dicht vor ihr waren und sich offenbar in einer fremden Sprache unterhielten.

Es waren sechs Männer. Sie schritten an ihr vorbei, ohne sie zu entdekken. Soweit das Mädchen erkennen konnte, handelte es sich um einen großen Schwarzhaarigen, einen bulligen Mann mit Narben im Gesicht, einen Bärtigen, einen schlanken Dunkelhaarigen und einen noch etwas schmaleren, jungen Mann mit hellblondem Haar. Diese fünf waren Weiße, aber der sechste, ein wahrer Herkules an Gestalt, war pechschwarz. Menschen solcher Hautfarbe hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie erschrak zutiefst. Wer waren sie?

Wie gelähmt wartete sie ab, bis sie in Richtung auf das Piratenversteck verschwunden waren. Dann kehrte sie auf den Pfad zurück.

Auch die Riesenschlange war fort. Der Weg war frei. Ginesh lief weiter, so schnell sie konnte. Immer wieder blickte sie über die Schulter zurück.

Für sie gab es nur eine Erklärung für das unvermittelte Auftauchen der sechs Männer: Sie gehörten der Bande der Freibeuter an, hatten vorher unten an der Ankerbucht Wache gehalten und begaben sich jetzt ins Lager, um an der Feier teilzunehmen, die dort begonnen hatte.

Warum sollte Raghubir keine Männer in seine Meute aufgenommen haben, die anderer Herkunft als er und die übrigen Kerle waren? Möglich war alles, und die weißen Männer, von denen ihr Vater ihr manchmal erzählt hatte, waren dem Vernehmen nach auch nicht besser als die, die in Indien zu Hause waren. Sie hatten Madras besetzt und die Macht über die Stadt an sich gerissen; sie töteten, raubten und brandschatzten und wollten das ganze Land ihrem Einfluß unterwerfen. So jedenfalls stellten es die Pandas, die Schriftgelehrten, die Brahmanen und die Dorfältesten dar.

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