Seewölfe - Piraten der Weltmeere 138

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 138
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-462-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

1.

Schwarze Wolken ballten sich am Nachmittag erschreckend rasch über den endlos wirkenden Weiten des Atlantiks zusammen. Der böige Wind aus Westen drückte sie auf die Meerenge von Gibraltar zu und schien die bizarren Giganten mit aller Macht hineinpressen zu wollen in den „Canal estrecho“, der Spanien von Nordafrika und Europa vom Schwarzen Kontinent trennte.

Der Seewolf stand ganz vorn auf dem Achterdeck der „Isabella VIII.“. Der Wind hatte seine schwarzen Haare zerzaust, und er mußte sich mit beiden Händen an der Schmuckbalustrade festhalten, um auf dem schräg nach Steuerbord abfallenden Deck nicht die Balance zu verlieren.

Seine Männer sicherten sich ebenfalls. Ben Brighton und Ferris Tukker griffen nach der Five-Rail, der Nagelbank, Old O’Flynn und Big Old Shane schoben ihre Arme zwischen die Webeleinen der Besanwanten auf der Luvseite und lehnten sich mit dem Rücken gegen das Backbordschanzkleid.

Aus dem Ruderhaus hörte man Pete Ballie fluchen, und auf der Kuhl tobte Edwin Carberry, der Profos, herum. Die Crew versuchte, die Brassen und Schoten noch dichter zu holen, aber weder guter Wille noch seemännisches Können fruchteten etwas. Es war unmöglich.

„Sir!“ schrie Pete Ballie. „Wir laufen immer weiter aus dem Kurs!“

„Der Teufel soll diesen Scheiß-Westwind holen!“ brüllte Carberry. „Er drückt uns in die Straße hinein, verdammt und zugenäht!“

„Und wir kriegen hübsch was auf die Mütze!“ schrie Old Donegal Daniel O’Flynn. „Die See tut ihren Rachen auf und will uns alle verschlingen.“

Shane warf ihm einen wilden Blick zu. „Sie wird dich schlucken und verdauen, wenn du wieder mit deinen dämlichen Hellsehereien anfängst, Donegal.“

„Hör mal, willst du bestreiten, daß ich recht habe?“ Der Alte begegnete dem Blick des graubärtigen Riesen mit kampflustiger Miene. „Du Barsch, ich wette mein Holzbein gegen deine Stinkstiefel, daß wir mächtigen Ärger kriegen – und daß wir es nicht mehr schaffen, bis in den Golf von Cadiz ’raufzusegeln.“

„Geschweige denn, Cabo de Sao Vicente spätestens übermorgen zu runden“, sagte Ferris Tucker im zunehmenden Heulen des Windes von der Five-Rail her.

„Was?“ Shanes Augenbrauen hatten sich dicht zusammengezogen, seine Stirn schien düster umwölkt zu sein – fast so finster wie der Himmel im Westen. „Du auch, Ferris? Hast du auch die Hosen voll?“

„Das hat doch damit nichts zu tun!“ rief der rothaarige Schiffszimmermann erbost zurück. „Ich spreche bloß von den Tatsachen. So schnell, wie wir gedacht haben, kommen wir um Spanien und Portugal nicht herum.“

„Dabei hast du selbst so große Töne gespuckt, daß wir mit einer generalüberholten ‚Isabella‘ im Eiltempo nach England rauschen würden. Daß die Lady wieder voll manövrierfähig sei und keine halbe Stunde mehr brauche, um von einem Bug auf den anderen zu gehen.“

„Das fällt hier aber kaum ins Gewicht.“

„Du bist mir ein schöner Klamphauer, Ferris!“

„Und weißt du, was du bist, Shane?“

„Hört doch auf!“ rief jetzt Ben Brighton. „Mit eurer Zankerei ändert ihr auch nichts. Wenn der Wind nicht wieder etwas nach Süden dreht, sind wir dazu gezwungen, uns unserem Schicksal zu fügen.“

„Du bist also der gleichen Meinung“, grollte der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack Castle. „Was seid ihr bloß für ein Haufen …“

„Wir müssen in den sauren Apfel beißen und durch die Straße von Gibraltar segeln“, sagte Ferris Tucker. „Wir suchen uns irgendwo eine geschützte Bucht, falls der Sturm uns zu arg zusetzt, und dort warten wir, bis das Schlimmste vorbei ist.“

„Die Meerenge ist verflucht“, stieß der alte O’Flynn mit seltsam verzerrter Miene aus. Fast verdrehte er auch noch die Augen. „Wir haben dort schon ein paarmal größten Verdruß gekriegt – und auch diesmal wird es nicht anders sein. Hoffentlich geht keiner von uns über Bord.“

„Hör auf!“ brüllte Shane ihn an. „Ich sage, wir müssen kreuzen, wie die Besessenen kreuzen, um weiter auf den Atlantik ’rauszukommen. Dann können wir den Sturm immer noch abreiten, bleiben aber wenigstens auf dem Ozean.“

„Unmöglich!“ rief Ben Brighton.

„Wir sollten es wenigstens versuchen“, konterte Shane.

Old Donegal grinste wie der Teufel höchstpersönlich. „Da sieht man, daß du von der Seefahrt keine Ahnung hast. Ich hab’s ja schon immer gesagt, es wäre besser gewesen, wenn wir dich krummbeinigen Eisenbieger daheim in England gelassen hätten. Mann o Mann, was habe ich bloß verbrochen, daß ich so was wie dich dauernd in meiner Nähe ertragen muß?“

Shane rückte drohend auf den Alten los und traf echte Anstalten, ihm den Mund zu stopfen. Aber in diesem Augenblick drehte sich der Seewolf zu den vier Männern um. Bislang hatte er den Stand der Segel geprüft, die Bestrebungen seiner Crew verfolgt, das Schiff hoch am Wind zu halten, und nach Westen gespäht.

„Shane“, sagte er jetzt. „Ben, Ferris und Donegal haben tatsächlich recht. Kreuzen hat keinen Sinn. Der Wind ist zu stark geworden. Er würde uns in jedem Fall nur zurückwerfen.“

„Wir müssen also so oder so in die Meerenge hinein?“

„Ja.“

„Das haut dem Faß den Boden aus“, wetterte Shane. „Aber es bleibt uns ja nichts anderes übrig, Sir.“ Damit hatte auch er zum Ausdruck gebracht, daß er die Gegebenheiten hinnahm. Vor allen Dingen: Hasards Worte hatten Gewicht und waren unumstößliches Gesetz an Bord der „Isabella“. Wenn der Kapitän eine Feststellung traf, vergaß auch ein Shane jeden Einwand.

Die „Isabella“ krängte schwer nach Steuerbord und fiel Strich um Strich ab. Der Wind pfiff und heulte in den Wanten und Pardunen, die schwarzen Wolken schlossen sich wie ein Vorhang über den Köpfen der Männer und deckten auch das letzte Stück blauen Himmels zu. Kabbelig war die See geworden. Von Westen rollten jetzt immer größere Wogen heran und türmten sich zu Brechern auf.

„Pete!“ schrie Hasard. „Wir fallen ab, bis wir platt vorm Wind liegen!“

„Abfallen – aye, aye, Sir!“ tönte es aus dem Ruderhaus zurück.

„Ed!“

„Sir?“

„Wir reiten vor dem Sturm her durch die Straße von Gibraltar, ehe wir zu nah an Punta de Tarifa heran sind!“

„Aye, aye!“ Der Profos fuhr zu den Männern auf der Kuhl herum und ließ eine Sammlung seiner schönsten Sprüche vom Stapel. „Habt ihr nicht gehört, ihr triefäugigen Kakerlaken? Muß ich erst dolmetschen, damit ihr kapiert, ihr Herde von Hornochsen und Waldameisen, die der Esel im Linksgalopp verloren hat? Schrickt weg die Schoten, dalli, dalli, hopphopp, willig, oder ich ziehe euch die Hammelbeine lang, daß ihr nach England waten könnt. O ihr Rübenschweine, was seid ihr doch für Lahmärsche geworden. Matt Davies, glotz keine Löcher in die Wolken! Beweg dich, Mann, oder ich mache dir Dampf!“

So ging das fast pausenlos weiter, während die „Isabella“ ihren Vorsteven nach Osten richtete und mit prall geblähtem Vollzeug vor den Wind ging.

Ferris Tucker grinste. „Wenn Ed so weiterbrüllt, hören ihn die Dons in Algeciras und Gibraltar.“

„Mal nicht den Teufel an die Wand“, entgegnete der Seewolf. „Mit den Spaniern will ich hier nicht aneinandergeraten. Wir versuchen, uns so dicht wie möglich unter der afrikanischen Küste zu halten.“

Er wandte sich um. Das Wetter war jetzt eine pechschwarze Wand, die hinter der „Isabella“ herfegte und sie einzuholen versuchte. Der Tag wurde zur Nacht. Die Galeone begann, schlingernde Bewegungen in der aufgewühlten See zu vollführen. Der Seewolf begann sich ernsthaft zu fragen, ob sie es noch schafften, in eine geschützt liegende Bucht zu verholen.

„Ben!“ rief er. „Laß die Manntaue spannen und die Luken verschalken. Der Kutscher soll die Kombüsenfeuer löschen und auf Deck mit anpakken. Ferris und Donegal, ihr begleitet Sam. Shane, sorge du bitte dafür, daß Philip und Hasard im Vordeck bleiben. Sie sollen sich auf keinen Fall von dort fortrühren.“

„Aye, Sir“, antworteten die Männer fast gleichzeitig.

Nur Big Old Shane fragte noch mit einem schiefen Grinsen: „Hasard, hast du eine Ahnung, wie ich das den Bengeln am besten beibiegen kann?“

„Nein. Aber bei deinem Geschick, mit Kindern umzugehen, schaffst du das schon“, sagte Hasard.

Ben, Ferris, Shane und Old O’Flynn hasteten den Backbordniedergang hinunter, der vom Achterdeck aufs Quarterdeck führte.

„Ja, du schaffst das schon“, wiederholte der Alte in Shanes Rücken – und der graubärtige Riese verspürte den unbändigen Drang, Donegal ein Bein zu stellen.

Natürlich war der Seewolf überglücklich, Philip und Hasard, die siebenjährigen Zwillinge, wiedergefunden zu haben. Samuel Stark hatte die Kinder damals, an der Levantinischen Küste, nicht umgebracht und in die See geworfen, wie Isaac Henry Burton in seiner Todesstunde behauptet hatte – es war alles eine Lüge gewesen, und Hasard hatte den Schmerz darüber jahrelang mit sich herumgetragen.

 

Jetzt durfte er aufatmen, weil er wenigstens die Kinder wiederhatte. Das Wiederaufleben der Erinnerung an Gwendolyn, seine junge Frau, wurde durch den Vaterstolz überlagert, der heftig in Hasards Herz mitschlug.

Aber er hatte auch gewußt, daß er Philip und Hasard an Bord der „Isabella“ auf keinen Fall bevorzugen durfte – aus Gründen der Disziplin und auch aus anderen Erwägungen heraus. Sie wurden wie die Mitglieder der Crew behandelt und schliefen im Vordeck. Es gab keinerlei Bevorzugung für sie, keine Extrawurst, denn das hätte allen ungeschriebenen Gesetzen des Bordlebens widersprochen.

Und überhaupt, sie waren auch so schon frech genug. Sie hatten Old O’Flynn wegen seines Holzbeines geärgert, hatten versucht, es ihm wegzunehmen und anderes mehr. Sie hatten Jagd auf Arwenack und Sir John gemacht, ohne Erfolg zwar, aber zum größten Entsetzen des Schimpansen und des karmesinroten Aracangas. Bill, der Moses, war ein bißchen eifersüchtig auf die beiden, aber er hütete sich, das preiszugeben – wenn sie auch manchmal danach trachteten, ihm einen Streich zu spielen.

Das größte Problem jedoch war: Sie sprachen weder Englisch noch Spanisch. Man konnte sich nur durch Gesten und Grimassen mit ihnen verständigen, denn sie waren nur des Türkischen mächtig und taten sich ziemlich schwer damit, andere Wörter in ihren kindlichen Sprachschatz aufzunehmen.

Nur dem Profos lauschten sie interessiert, wenn er seine Flüche und Wortkanonaden losließ. Irgendwie schienen die Zwillinge zu begreifen, daß es sich da um Vokabeln ganz besonderer Prägung handelte – und die übelsten Wörter einer fremden Sprache lernt man ja bekanntlich als erstes.

Hin und wieder übten Philip und Hasard sich also darin, ein akzentgeladenes „Himmel, Arsch“ oder „Rübenschweine“ oder „Stinkstiefel“ zu formulieren. Aber so recht wollte das noch nicht gelingen. Meistens endete das Ganze in einem anhaltenden Gekicher und Gegluckse. Carberry, der von dem Benehmen der Jungen gar nicht angetan war, hatte schon verlangt, man solle die Burschen zum leichten Decksdienst antreten lassen.

„Aber wie, zum Teufel, willst du ihnen Befehle geben?“ hatte Smoky, der Decksälteste, daraufhin gefragt.

„Tja, das weiß ich auch nicht“, hatte der Profos mit verdrossener Miene geantwortet. Und er hatte sich das Rammkinn gekratzt. Was mal wieder so geklungen hatte, als marschiere eine Kolonie Kombüsenschaben über chinesisches Reispapier. Und die Zwillinge hatten gegrinst und gelacht, als sie das gehört hatten.

Im Moment lachten sie nicht. Sie schauten Big Old Shane, der zu ihnen ins Mannschaftslogis hinabgestiegen war, ganz ernst an. Sie respektierten ihn wie den Seewolf und fühlten, daß er nicht nur eine große Autoritätsperson, sondern mehr als das war. Eine Art „Ersatzvater-Figur“, wie der Kutscher das auszudrücken pflegte.

Dan O’Flynn hatte daraus prompt den Begriff „Ersatzfigur“ geformt, aber er mußte aufpassen, daß Shane dieses Wort nicht zu hören kriegte. Mit dem graubärtigen Mann war nicht gut Kirschen essen, wenn man ihn in irgendeiner Weise aufzog.

„Jungs“, begann Shane zum zweitenmal. Er stand breitbeinig im Logis und mußte den Kopf etwas einziehen, um ihn sich nicht an den Dekkenbalken zu stoßen. Außerdem hielt er sich an der Umrandung einer der oberen Kojen fest. „Jungs“, sagte er. „Ihr bleibt hübsch hier unten, bis das Wetter vorbei ist, verstanden? An Oberdeck ist es zu gefährlich für euch. Ihr könntet außenbords fliegen, und dann wäre der Teufel los. Wenn ihr auch nur den Kopf ins Freie steckt, bin ich gezwungen, euch hier unten einzuschließen. Kapiert?“

Er versuchte, seine Worte durch Gesten zu verdeutlichen. Immer wieder wies er in den Raum, deutete auf die Kojen, nickte dazu. Dann richtete er seinen Daumen auf die Tür des Logis, zeigte nach oben, schüttelte den Kopf.

Philip und Hasard hatten sich in brüderlichem Einvernehmen nebeneinander auf eine ihrer Kojen gesetzt. Sie waren derart in Shanes Darstellung vertieft, daß sie fast von der Schlafstatt kollerten, als eine besonders hohe Woge die „Isabella“ emporhob.

Im letzten Augenblick konnten sie sich festklammern.

Sie sahen sich an und redeten aufeinander ein, stellten irgendwelche Fragen in dieser harten, dem europäischen Ohr so völlig fremden Sprache mit den vielen Umlauten, von der Big Old Shane eines ganz sicher wußte: Er würde sie nie lernen, nicht ein einziges Wort.

„Hol’s der Teufel“, murmelte er. „Da freut man sich nun, die beiden Knaben gefunden zu haben, und kann sich nicht mit ihnen unterhalten. Der Seewolf kann seine eigenen Söhne nicht verstehen – und umgekehrt. Ist das nicht zum Heulen?“

Philip und Hasard sahen wieder auf den Mann, der groß und wuchtig wie eine menschliche Festung vor ihnen stand. Sie hatten sich erschrokken, aber jetzt faßten sie sich wieder. Was der „Isabella“ so zusetzte, war ein Sturm, soviel begriffen sie. Allzu große Sorgen brauchte man sich offenbar aber nicht zu bereiten, denn wenn einer wie dieser Graubart so offensichtlich gelassen dastand, schien es mit der Aussicht auf ein feuchtes Ende in der See doch nicht allzu weit her zu sein.

Der Riese füllte das gesamte Logis mit seiner Persönlichkeit aus. Seine Ruhe griff auf die Kinder über. Man konnte Vertrauen zu ihm haben, soviel stand fest.

Und der Sturm? Der schien ein großes Abenteuer zu sein, wie Philip und Hasard es noch nicht erlebt hatten.

„Noch mal“, sagte Big Old Shane. Er wies auf den Vordecksgang hinaus, dann nach oben, dorthin, wo die Kuhl lag. „Dorthin – nein.“ Er schüttelte den Kopf und beschrieb mit dem Zeigefinger ebenfalls eine verneinende Gebärde. Mit demselben Finger deutete er anschließend in den Raum hinein. „Hier – in Ordnung. Verstanden?“

Diesmal nickten die Zwillinge ernst.

Shane atmete auf. Mann, dachte er, sie scheinen es ja tatsächlich begriffen zu haben. Er beugte sich vor, fuhr den beiden mit der Hand über den Kopf, nickte ihnen noch einmal väterlich-kameradschaftlich zu und sagte: „Also gut, bis später, Freunde.“

Damit wandte er sich ab und verließ den Raum. Er kehrte auf die Kuhl zurück, rammte die Tür im Vorkastell zu und eilte zu den anderen Männern, um beim Spannen der Manntaue quer über Deck behilflich zu sein.

Der Sturmwind pfiff ihnen in die Gesichter und rüttelte an den Masten der „Isabella“. Noch lösten sich keine Tropfen aus dem schwarzverhangenen Himmel, aber schon bald würde der Regen wie ein Sturzbach auf die Galeone niedergehen und die Männer bis auf die Haut durchweichen.

„Jetzt fehlt bloß noch, daß wir irgendwo aufbrummen!“ rief der alte O’Flynn. „Möglich wäre es ja, wer weiß, wie dicht unter Land wir uns schon befinden. Hölle, man sieht die Küste nicht, auch auf eine Kabellänge Distanz nicht.“

„Wenn du nicht die Luke hältst, sperre ich dich ins Logis zu den Zwillingen“, drohte Shane.

„Was, zu den Bengeln? Kommt gar nicht in Frage!“

„Dann halt die Luke“, grollte Shane.

2.

Philip rutschte als erster von der Koje. Hasard wollte ihm in nichts nachstehen und tat das gleiche. Philip landete katzengewandt auf den Planken, stieg dann aber plötzlich eine Schräge hoch, weil die „Isabella“ ihr Vorschiff angehoben hatte und eine Riesenwoge erklomm.

Philip verlor das Gleichgewicht, kippte hintenüber, überrollte sich und geriet mit Hasard ins Gehege, der inzwischen hinter ihm angelangt war. Sie purzelten quer durch das Mannschaftslogis, rutschten unter eine Koje und stießen sich beide die Köpfe, als sie sich wieder aufrappeln wollten.

Sie sanken wieder auf die Planken. Die „Isabella“ hatte mittlerweile den Kamm der Woge erreicht, neigte sich nun mit dem Bug nach vorn und hob ihren Achtersteven an. Die Talfahrt begann.

Philip und Hasard rutschten auf dem Bauch unter der Koje hervor. Sie streckten ihre Hände von sich und linderten so den Aufprall an der gegenüberliegenden Wand. Sie sahen sich an – eisblaue Augen in eisblaue Augen – und lachten voll Begeisterung.

Als die Galeone den Grund des Wellentals berührte, erhoben die Jungen sich. Von Seekrankheit konnte keine Rede sein, sie verspürten nicht das geringste flaue Gefühl in der Magengegend. Auf der Suche nach Eroberungen und Abenteuern, nach Abwechslung und Geheimnis stießen sie vom Logis aus mit torkelndem Schritt in den Vordecksgang vor. Wieder glitten sie aus und kullerten nach achtern – die „Isabella“ segelte einen neuen Wogenhang hinauf.

Der Gang war eine vorzügliche lange Rutschbahn. Philip und Hasard rollten fast den Niedergang hoch, der an seinem achteren Ende in die Höhe führte, blieben dann aber auf den Holzstufen liegen, weil das Schiff nun wieder in die andere Position überwechselte.

Sie stießen sich an und kicherten, dann war es soweit, sie konnten sich auf den Hosenboden setzen und auf der sich neigenden Bahn nach vorn rutschen, fast bis in den Bug hinein. Das war ein wunderbares Gefühl. Ein paarmal wiederholten sie es, dann hatten sie genug von diesem Spiel und stolperten in die angrenzenden Räume, um nach anderen Möglichkeiten des Zeitvertreibs zu suchen.

Es war unumgänglich – sie mußten bei diesem Streifzug auf jenen Durchlaß im vorderen Kombüsen-Querschott stoßen, auf jene Tür, die vom Schiffsinneren aus die Verbindung mit der Kombüse herstellte. Diese Tür zeigte der Kutscher Neulingen an Bord der „Isabella“ keineswegs, denn er wußte, was er sich damit einhandeln konnte.

So hatte er auch darauf geachtet, daß Philip und Hasard die Tür nicht sahen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, nach diesem Grundsatz richtete der Kutscher sein Handeln aus. Philip und Hasard mochten herzensgute Burschen sein, aber einer gewissen Versuchung konnten auch sie nicht widerstehen, wenn sie erst einmal ’rausgekriegt hatten, wie man heimlich in die Kombüse gelangte.

Sicher, der Kutscher hielt die Tür stets sorgsam unter Verschluß. Aber es gab auch Momente, da hatte er sie gerade benutzt und wurde dann von Carberrys barschem Organ an Deck gerufen, hatte also keine Zeit mehr, die Tür zu verriegeln.

Das war heute nachmittag der Fall gewesen.

Jede Hand wurde auf Oberdeck gebraucht. Der Kutscher hatte eben noch die Feuer unter den riesigen Kesseln löschen können, dann hatte er lostraben müssen.

Und da war sie also, die Tür, die als Barriere zwischen der Versuchung und der Verwirklichung gewisser Pläne stand.

Dan O’Flynn war ein Mann geworden, es lag schon Jahre zurück, daß er das letzte Mal etwas aus dem Allerheiligsten des Kutschers stibitzt hatte. Bill, der Schiffsjunge, war nicht der Typ, der solche Attentate ausübte.

Trotzdem wußte der Kutscher, warum er die innere Kombüsentür stets verschlossen hielt. Es gab immer noch ein paar „faule Kandidaten“ an Bord, mindestens zwei, denen man nicht trauen durfte. Wer von der Kuhl aus in die Kombüse pirschen wollte, der wurde garantiert vom Kutscher, vielleicht auch von Carberry oder einem anderen gestoppt. Wer aus Richtung Vordeck nahte und einen günstigen Moment wählte, der genoß fast Narrenfreiheit – wenn er es schaffte, die Tür zu öffnen.

Nichts leichter als das jedoch! Hasard, der ältere der Zwillinge, brauchte nur seine Hand auf die Klinke zu legen, und schon öffnete sich die Tür.

Sie fiel Hasard direkt entgegen, denn wieder vollführte die „Isabella“ im Sturmtreiben eine ihrer ungestümen Bewegungen. Der Junge konnte der auf ihn zurasenden Kante mit Not ausweichen. Dann knallte die Tür gegen die Längswand des Kombüsen-Vorraums. Philip und Hasard hatten Halt gefunden und krochen jetzt über die Schwelle.

Als die „Isabella“ sich wieder aufrichtete, konnte Philip die Hand nach der Türklinke ausstrecken. Er packte sie und zog sie zu sich heran. Die Tür fiel in ihr Schloß. Von innen ließ sich ein Riegel vorlegen. Philip konnte dem Drang nicht widerstehen, er mußte ihn ausprobieren. Es gab einen harten, metallischen Laut, und der Eisenriegel saß fest.

Hasard griff nach Philips Arm.

Philip wandte sich erst jetzt um und spähte in den dunklen Raum. Zu erkennen war kaum etwas. Draußen war es fast so finster wie in der Nacht, und hier, im Vordeck, durfte wie im ganzen Schiff keine Lampe angezündet werden, weil dadurch im Sturm mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit ein Feuer entstanden wäre. Auch die letzte Glut des Holzkohlenfeuers war verglommen, so daß jede Regung in der Kombüse nur schwach und schemenhaft wahrgenommen werden konnte.

 

Daß da aber eine Regung war, sahen die Zwillinge – und sie fuhren gleichzeitig zusammen.

In einem der Kessel, der vom Kutscher nach allen Regeln der Kunst festgelascht worden war, damit er im Sturm ja nicht umkippen konnte – in diesem Kessel ruckte etwas hin und her. Nicht weit von dieser unheimlichen Erscheinung entfernt schwirrte und flatterte etwas auf und ab, hin und her, und dann ertönte auch noch etwas heiser und gepreßt Ausgestoßenes, das wie „Himmel, Arsch und Zwirn“ klang.

Hasards Finger verkrampften sich um Philips Arm.

„Da“, wisperte er. „Hast du das gesehen – und gehört?“

„Ja …“

„Was ist das nur?“

„Laß uns weglaufen.“

„Wie, hast du etwa Angst?“

„Ich doch nicht“, zischte Philip empört. „Ich meine bloß, es wäre gut, wenn wir die Tür offenlassen würden – für alle Fälle.“

„Dann öffne sie doch.“

„Ich krieg sie nicht auf …“

„Du bist zu dämlich.“

„Du auch.“

„Du spielst nicht mehr mit, wenn du den Riegel nicht wieder aufmachst“, raunte Hasard zornig.

Die Planken unter ihren Füßen schienen sich hochzubiegen, jedenfalls fühlte es sich so an. Philip und Hasard wurden durch die Kombüse katapultiert, von der Tür fort, und sie landeten unter einem der großen Holzschapps, in denen der Kutscher seine Kostbarkeiten aufbewahrte.

Sie richteten sich auf und hielten erneut in dem schwankenden Raum Ausschau. Die „Erscheinung“ war immer noch da. Sie schwankte und schmatzte, schabte und schlürfte in dem festgezurrten Kessel herum. Sie wischte mit Geisterfingern und bizarren, huschenden Schatten durch die Kombüse.

„Los“, flüsterte Hasard. „Ich will wissen, was das ist. Wenn du kein Feigling bist, gehst du mit.“

„Ich hab keine Angst“, sagte Philip trotzig.

Sie rappelten sich auf und mußten sich wieder festhalten. Beinah wären sie erneut zu Boden gegangen, aber dann war da plötzlich der breite Herd, an dem sie sich vorzüglich festklammern konnten.

Sie rafften ihren ganzen Mut zusammen, tasteten sich am Herd entlang und hatten den unheimlichen Kessel fast erreicht, als der Flattergeist schnatternd und fluchend Reißaus nahm und sich in irgendeine Ecke des Raums verzog.

Gut so, dachte Hasard, wir haben ihm einen Schreck eingejagt.

Hau ab, du blöder Geist, dachte Philip.

Jetzt hatten sie nur noch das Monstrum im Kessel aufzuscheuchen. Sie schlichen sich an das Ding heran, krochen fast auf den Herd, um ja nicht den Halt zu verlieren, und waren ganz auf ihre selbstgesetzte Aufgabe konzentriert.

Die Wesenheit im Kessel schien sie noch nicht bemerkt zu haben. Wenn der Knall, den die Tür verursacht hatte, dieses Etwas nicht aus der Fassung gebracht hatte, so schien das Auftauchen zweier Siebenjähriger es erst recht nicht zu beeindrucken.

Hasard wollte Philip unbedingt beweisen, daß er der Mutigere war – er beugte sich so weit wie möglich vor und blickte über den Kesselrand.

Etwas Schwarzes richtete sich in einer süß und säuerlich riechenden Substanz auf. Wulstige Lippen schoben sich aus einer furchtbaren Visage hervor, ein Schnaufen war zu vernehmen, zwei riesengroße Augen hefteten ihren Blick auf Hasards Gesicht.

Allah steh mir bei, dachte Hasard.

Jetzt steigt es aus dem Kessel und springt uns an, sagte sich Philip.

Die Augen des Ungeheuers schienen sich zu weiten, ihr Blick wurde zunächst fragend, dann ängstlich. Dies alles geschah in Sekundenschnelle. Dann öffnete das Monstrum seinen Rachen und entließ ein Aufheulen in den Raum, bei dem Hasard und Philip wieder zusammenfuhren.

Aber Hasard hatte begriffen, mit wem sie es zu tun hatten.

„Der Affe!“ rief er. „Der Affe und der Papagei!“

Arwenack, der Schimpanse, hatte nie damit gerechnet, beim Naschen ertappt zu werden. Als die See kabbelig geworden war, hatten er und Sir John sich ins Vordeck gestohlen. Als der Kutscher von Carberry auf die Kuhl geholt worden war, hatte Arwenack sich bis zur Tür der Kombüse geschlichen und sein Glück versucht.

Es hatte geklappt – mit seinen geschickten Affenfingern hatte er die Tür geöffnet. Sir John, der zweite „faule Kandidat“, hatte daraufhin spontan beschlossen, sich mit dem Schimpansen gut zu stellen. Erstens gab es in der Kombüse auch für einen Papagei so allerhand zu futtern, und zweitens: Bei Sturm herrschte zwischen den beiden so unterschiedlichen Tieren Burgfrieden. Je heftiger das Wetter, desto größer der Zusammenhalt und die Solidarität.

Sie hatten sich an der süß-sauren Soße, die der Kutscher im Kessel zubereitet hatte, an Brot, Früchten und Mais gütlich getan. Dann hatte die Tür geknallt, doch sie hatten die beiden Gestalten, die da in den Raum gepurzelt waren, nicht gesehen.

Und jetzt dies! Arwenack wäre vor Scham am liebsten im Kielschwein der „Isabella“ versunken. Er kreischte und jammerte und konnte aus dem Kessel nicht mehr heraus. Sir John verschaffte seinem Unbehagen Luft, indem er Carberrys schönste Flüche zunächst auf englisch, dann auf spanisch herauskrächzte.

Philip und Hasard konnten nicht anders – sie mußten lachen.

Die Manntaue waren gespannt, die Luken und Niedergänge verschalkt. Der Sturm hieb mit orgelndem Wind, Brechern und Sturzregen auf die „Isabella VIII.“ ein. Das Oberdeck, besonders die Kuhl, schien sich in einen rauschenden Fluß verwandelt zu haben. Fluchend hangelten die Männer in den Tauen voran. Immer wieder drohten sie auszugleiten und hinzufallen. Die Gefahr, außenbords gespült zu werden, war trotz aller Sicherungen allgegenwärtig.

Längst hatte der Seewolf Sturmsegel setzen lassen, nur den Besan und die Fock, aber auch die schienen noch zu viel zu sein für dieses mörderische Wetter, das sie so überraschend gepackt hatte.

Unaufhörlich waren die Männer in Bewegung. Ein Fall mußte klariert werden, eine Schot hatte sich gelöst. Bill, der Moses, war aus dem Hauptmars abgeentert, er stand mit Pete Ballie im Ruderhaus und hielt das Ruderrad, das sich selbständig bewegen wollte.

Hasard, Ben und Ferris waren auf die Back geklommen, weil der rothaarige Schiffszimmermann um den Fockmast bangte.

„Ich sage euch, der hat einen Knacks weg!“ rief Ferris.

„Unsinn“, erwiderte Hasard. „Sieh ihn dir doch genau an – der steht noch wie eine Eins!“

„Aber vorhin hat irgendwas höllisch geknackt!“

„Das war der Bugspriet!“ schrie Ben Brighton, der sich über die vordere Schmuckbalustrade gebeugt hatte. „Er schwankt, aber ich würde es nicht riskieren, ihn zusätzlich abzustützen.“ Er sagte noch mehr, aber der Rest seiner Worte ging in dem ohrenbetäubenden Dröhnen unter, mit dem ein neuer Brecher die Bordwand traf. Wasser und Gischt stiegen auf und schienen wie eine Wand neben den Männern hochzuwachsen. Die Crew stieß Warnlaute aus – Hasard, Ferris und Ben duckten sich und hielten sich fest, wo sie konnten.

Mit Rauschen und Zischen ging der Brecher über die „Isabella“ hinweg. Ferris hob den Kopf, blickte voraus und stellte fest, daß der Bugspriet immer noch da war. Er grinste.

Carberry war von dem Brecher umgerissen worden und ein Stück über Deck gesegelt. Er hatte sich aber mit verbissener Miene und hundert gedachten Verwünschungen an den Manntauen festgeklammert und so sein vorzeitiges Abdanken verhindert. Prustend erhob er sich unweit des Kombüsenniederganges.

Old O’Flynn hielt sich an der Nagelbank des achteren Kuhlbereichs fest, spuckte wütend aus und sagte: „Also, wenn wir den verdammten Kahn in Tanger nicht aufgeslippt hätten, wenn wir also diese Verzögerung nicht gehabt hätten, wäre uns das nicht passiert.“

„So“, erwiderte Matt Davies. „Dann hätten wir jetzt aber auch nicht Hasards Söhne an Bord.“

„Deine Enkel, Donegal!“ rief Blakky.

„Ja, meine Enkel“, murmelte der Alte im Sturmtosen.

„Und spätestens in der Biskaya hätten wir ja doch einen Orkan auf die Jacke gekriegt“, ertönte nun wieder Matt Davies’ Stimme. „Du brauchst also nicht zu giften, Donegal. Ein Schlabbertörn bis nach Hause — davon träumen wir doch nur.“

„Ihr wißt immer alles besser“, sagte der Alte. „Der Teufel soll euch holen.“ In einem Anflug von Rührseligkeit fügte er hinzu: „Euch alle, außer Philip, Hasard, Arwenack und Sir John natürlich. Wer weiß, wo die armen Würmer sich verkrochen haben.“

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