Im Namen der Geschichte

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Doch schon die Terminologie dieses ganzen heilspraktischen Unternehmens, das mit »kollektiven Erinnerungen« operiert, ist falschmünzerisch: Denn tatsächlich gibt es keine »kollektiven Erinnerungen«. »Erinnern« kann nur das einzelne Individuum, und es kann auch nur das erinnern, was es selbst erlebt, erlitten oder getan hat. »Erinnern« kann niemals ein Kollektiv, weil es kein Bewußtsein und daher auch kein Gedächtnis hat. Zwar kann es innerhalb einer Gruppe (einer Ethnie, eines Volkes) ähnliche Erinnerungen an gemeinsame Erfahrungen geben, aber die sind immer an den Einzelnen und dessen Schicksal gebunden und existieren nur in ihm. Denn nur das Individuum hat überhaupt Bewußtsein, in dem vergangene Ereignisse vergegenwärtigt werden können. Was das Kollektiv mental verbindet, sind allenfalls gemeinsame (ähnliche) Vorstellungen aufgrund von Schilderungen von Vergangenem, an das sich nicht notwendigerweise überhaupt noch jemand erinnert. (Und für die Annahme eines »kollektiven Unbewußten«, in dem die Vergangenheit brodelt, hat schon Freud seinen Schüler Jung verstoßen.) So etwas wie eine »Volksseele« aber ist nur eine animistische Metapher für Sitten, Gebräuche und Traditionen; und für geteilte Illusionen, die ihrerseits narrativ vermittelt sind.

Ebensowenig wie es kollektive Erinnerungen gibt, gibt es Erinnerungen über Generationen hinweg, wie es heute ein geisteswissenschaftlicher Lamarckismus will: Jede Erinnerung ist individuell und stirbt mit dem, der sie hat, wenn sie nicht schon vorher, was fast immer der Fall ist, unter dem Eindruck neuer Erlebnisse oder Bedürfnisse vergessen oder modifiziert worden ist. Was heutige Mystagogen »kollektives Gedächtnis« oder »kollektive Erinnerung« nennen (wobei »Gedächtnis«, also Erinnerungsvermögen, oft genug mit »Erinnerung« in eins gesetzt wird) und auf diesen Fundamenten ganze Begriffskathedralen errichten, existiert daher empirisch überhaupt nicht; was empirisch existiert, sind narrativ produzierte Aktualvorstellungen von Vergangenem, durch welche Kollektive sozialpädagogisch sich formieren lassen, obwohl sich vielleicht niemand mehr tatsächlich an das erinnert, worum es geht. Die Ausdrücke »kollektives Gedächtnis« oder »kollektive Erinnerung« sind lediglich poetische, logisch nicht belastbare Metaphern für soziale Bildungs-, Erziehungs- und Enkulturationsprozesse, deren Scheitern unter Sanktionsdrohung steht und deren Inhalte ihrerseits nur individuell erinnert werden.

Daß diese magisch aufgeladenen Metaphern heute ideologische Konjunktur haben, steht in engstem funktionalen Zusammenhang mit dem, was man seit 1945 (aber auch erst seit damals!) »Vergangenheitsbewältigung« nennt, das heißt mit dem endlosen öffentlichen Herumwühlen in der Vergangenheit zu angeblich therapeutischen Zwecken. Sie dienen nämlich als semantisches Material für eine Vergangenheitspolitik, die sich als Heilspädagogik ausgibt und aus einer trüben Symbiose Freudscher und Jungscher Psychoanalyse besteht, d. h. jener Formen moderner Dämonologie, denen wissenschaftlich schon lange der Boden entzogen worden ist.7 Der psychoanalytische Sektendiskurs hat sich davon allerdings nur wenig irritieren lassen, und Leute, die gegen Barverrechnung ihr Herz ausschütten wollen, gibt es immer. In den sogenannten »Kulturwissenschaften« ist der Einfluß dieser Lehren sogar im Steigen. Tatsächlich aber ist die kathartische, die komplexlösende Wirkung des »Erinnerns und Durcharbeitens« (Freud) nicht nur klinisch nicht erwiesen (nicht einmal beim Individualsubjekt, geschweige denn bei Kollektiven; vorausgesetzt, daß überhaupt etwas Reales erinnert wird), sondern es ist, wie jede Alltagserfahrung lehrt, das genaue Gegenteil richtig: Der permanent Erinnernde wird an das Erinnerte fixiert. Eben diese Fixierung ist freilich auch das wahre politische Motiv des Erinnerungsgebots, denn sie macht es möglich, aus dem vergangenen Unheil endlos moralisches Kapital zu schlagen.

Die Heuchelei der »Niemals vergessen!«-Maxime wird aber schlagartig deutlich, wenn man die Phrase zu ihrem »Nominalwert« (P. Kondylis) nimmt. Dann zeigt sich nämlich die ganze lebensfeindliche Absurdität dieses Ansinnens, das sich selbst als moralischer Imperativ präsentiert.

DAS ELFTE GEBOT

Was »Niemals vergessen!« nämlich wirklich bedeutet, kann man aus einem Bericht erkennen, den Jorge Luis Borges im Jahre 1942 über eine damals schon länger zurückliegende Begebenheit veröffentlichte. Aus literarischer Gewohnheit kleidete er seine Erzählung in die Gestalt einer phantastischen Novelle und gab ihr den Titel: »Das unerbittliche Gedächtnis«. Sie handelt im Jahre 1887 und ist eine (lückenhafte, wofür Borges sich mit guten Gründen entschuldigt, wurde er selbst doch erst 1899 geboren) »Erinnerung« an einen uruguayischen Indianerjungen, der nach einem Reitunfall, hoffnungslos gelähmt, mit einem absoluten Gedächtnis begabt war. Achtzehn Jahre lang hatte Ireneo Funes, so hieß der Junge, so gelebt, wie wir alle, d. h. wie einer, der träumt; er sah, ohne wahrzunehmen, hörte ohne zu hören, vergaß alles, fast alles. Bevor das Pferd ihn zu Boden warf, sei er, wie Borges uns versichert, so gewesen, wie alle anderen auch: blind, taub, zu nichts nütze, ohne Gedächtnis; dabei gierig auf das Leben und auf Bewegung.

Beim Sturz verlor Ireneo das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, war die Gegenwart fast unerträglich reich und klar; und ebenso seine frühesten und beiläufigsten Erinnerungen. Wenig später wurde er der Tatsache inne, daß er vollständig gelähmt war. Aber dieser Umstand berührte ihn kaum. Er befand, daß die Unfähigkeit zu handeln und sich zu bewegen ein äußerst geringer Preis sei für sein nunmehr unfehlbares Gedächtnis und seine absolute, ans Blasphemische grenzende Fähigkeit, die Dinge in ihrer Einzelheit wahrzunehmen und sie sich zu merken. So war Ireneo, der vor seinem Unfall kaum des Lesens mächtig gewesen, schon nach einmaliger Lektüre der »Naturalis Historia« des Plinius imstande, auf Latein und Spanisch alle Fälle von erstaunlichem Gedächtnis aufzuzählen, die dort im vierundzwanzigsten Kapitel des siebenten Buches vermerkt werden: Cyrus, der Perserkönig, der alle Soldaten seiner Heere mit Namen zu nennen wußte; Mithridates Eupator, der Recht sprach in den zweiundzwanzig Sprachen seines Reiches; Simonides, der Erfinder der Mnemotechnik; Metrodorus, der sich der Kunst befleißigte, nur einmal Gehörtes wortgetreu wiederzugeben.

Der lahme Ireneo Funes ließ alle diese Helden der ars memorativa als vergeßlich erscheinen. Er kannte genau, wie Borges berichtet, die Formen der südlichen Wolken des Sonnenaufganges vom 30. April 1882 und konnte sie in der Erinnerung mit der Maserung auf einem Pergamentband vergleichen, der ihm nur ein einziges Mal zu Gesicht gekommen war, und mit den Linien der Gischt, die ein Ruder auf dem Rio Negro am Vorabend aufgewühlt hatte. Er konnte alle Träume, alle Tagträume rekonstruieren. Zwei- oder dreimal hatte er einen ganzen Tag rekonstruiert; nie war er über etwas im Zweifel gewesen, aber jede solcher Rekonstruktionen hatte einen ganzen Tag beansprucht. –

Ein Kreis im Sand, ein rechtwinkeliges Dreieck auf einer Schiefertafel, ein Rhombus sind Figuren, die wir alle in unserer Unvollkommenheit vollkommen wahrnehmen und erinnern und als abstrakte Gebilde definieren können; wie uns mit den vollkommenen geometrischen Figuren erging es dem vollkommenen Ireneo Funes mit natürlichen Dingen, mit der zerzausten Mähne eines Fohlens, mit einer Viehherde auf einem Hügel, mit der wandelbaren Gestalt einer Flamme.

Zur Bildung platonischer Ideen war er freilich nicht imstande, noch hatte er ein Verlangen danach. Wozu auch? Wo wir uns an Definitionen klammern, mit genus proximum und differencia specifica eine logische Seinsordnung errichten, um uns in der Welt zu orientieren und sie zu erkennen, brauchte er sich bloß zu erinnern – als Platoniker des Diesseits.

Im 17. Jahrhundert hatte John Locke, indem er einen Gedanken der mittelalterlichen Scholastik wieder aufnahm und sich im Streit zwischen Nominalisten und Realisten entschieden auf die Seite der Nominalisten schlug, eine unmögliche Sprache gefordert (die er dann wieder verwarf), in der jedes einzelne Ding, jeder Stein, jeder Vogel und jeder Zweig einen eigenen Namen haben sollte. Funes hatte einmal eine ähnliche Sprache geplant, sie dann aber wieder aufgegeben, weil sie ihm zu allgemein, zu mehrdeutig erschien. Tatsächlich erinnerte sich Funes, wie uns Borges versichert, nicht nur an jedes Blatt eines jeden Baumes in jedem Wald, den er je gesehen hatte, sondern auch an jedes einzelne Mal, da er es sich vorgestellt und sich an es erinnert hatte. Er beschloß, jeden seiner vergangenen Tage auf 70.000 Erinnerungen zu beschränken, die er später mit Ziffern bezeichnen wollte, um ihnen eine Ordnung zu verleihen. Zwei Überlegungen hielten ihn davon ab: die Befürchtung, daß die Mühe endlos sein würde; und die Einsicht, daß sie sinnlos war. Er überlegte, daß er in der Stunde seines Todes noch nicht einmal die Einordnung seiner sämtlichen Kindheitserinnerungen zu Ende gebracht haben würde.

Dabei starb er sehr früh, im gleichen Jahr 1889, in dem Nietzsche dem Wahnsinn verfiel, ganz banal an einer Lungenembolie. Doch hält sich beharrlich das Gerücht, daß in Wahrheit die Last der Erinnerung sein junges Leben zerbrach; als gesichert kann gelten, daß sie die Ursache seiner Lähmung war; dazu kam die Angst, sie durch Bewegung, ja durch die geringste Regung des Lebens überhaupt, zu vermehren – vielleicht eine grundlose Angst, denn was heißt: das Unendliche vermehren? Doch zu so einer eleatischen Überlegung war er nicht fähig, der Zugang zu abstrakten Ideen und ihren Aporien blieb ihm verwehrt. Er hatte ohne Mühe eine Reihe lebendiger Sprachen und Latein gelernt, doch Borges gibt uns zu verstehen, daß dieses Wunder an Gedächtnis zum Denken nicht sehr begabt war. Denken heißt, Unterschiede vergessen, Verschiedenes vergleichen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgestopften Welt des Ireneo Funes gab es nichts als Einzelheiten.

 

Als Borges den Jungen das letzte Mal sah, war dieser neunzehn; es war im Jahr vor dessen Tod. Er schien, wie Borges sagt, »monumental wie Erz, älter als Ägypten, früher als die Prophezeiungen und die Pyramiden.«8

Der mnemopathische Bann, der nach seinem schrecklichen Unfall auf dem armen Ireneo Funes lag, lastet heute auf den Völkern Europas wie ein biblischer Fluch: »Du sollst niemals vergessen!« Er hat die Gestalt eines moralischen Gebotes: Man dürfe das Grauen des Nationalsozialismus nicht vergessen, damit es als Mahnung für alle künftigen Generationen lebendig bleibe; nur durch seine ewige Vergegenwärtigung im Gedenken ließe sich seine Wiederholung verhindern; allein die ständige Präsenz von Auschwitz im Gedenken sei ein Schutz vor dessen realer Wiederkehr, nur wer sich unablässig mit dem vergangenen Schrecken konfrontiert, vermag in der Gegenwart verantwortlich zu handeln. Wer das nicht tut, hat »aus der Geschichte nichts gelernt«. Dabei geht es nicht um pietätvolles Gedenken an die Opfer und die tatsächliche Unauslöschlichkeit des Erinnerns derer, die dem Grauen entronnen sind, sondern um dessen aktive Produktion und Reproduktion im Dienste dessen, was die deutsche Pädagogik mit dem unsäglichen Begriff »Holocausterziehung« bezeichnet. Warum allerdings eine wirksame Warnung nur von den Verbrechen der Nazis ausgehen soll und nicht auch von allen anderen Großverbrechen der Geschichte, bleibt bei dieser Argumentation ein Rätsel. Tatsächlich hat die dauerhafte Memorierung von Großverbrechen seit unvordenklichen Zeiten keine Folgeverbrechen verhindert, sondern diese im Gegenteil oft genug hervorgerufen und legitimiert: Denn die beste moralische Voraussetzung für Grausamkeit ist ein gutes Gewissen, gesichert durch Erinnerung an eigenes Leid. Daß die Erinnerung an das Böse vor dessen Wiederholung schützt, ist also eine höchst fragwürdige These, auf historische Erfahrung stützen kann sie sich nicht; sie fördert allenfalls den Rollenwechsel von Opfern zu Tätern.

Und doch wird die Formel in verschiedenen Fassungen gebetsmühlenartig wiederholt, und ihre Kritik kommt einem moralischen Tabubruch gleich. »Wer die Geschichte vergißt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen«– dieser Satz hat fast schon die Würde eines Axioms, und er nimmt die Gestalt eines kategorischen Imperativs zum erinnernden Gedenken an, wenn es um die monströsen Untaten des Nationalsozialismus geht. Jeder, der ihn bestreitet oder auch nur in Zweifel zieht, setzt sich dem Verdacht aus, die Verbrechen zu verniedlichen und ihrer Wiederholung Vorschub zu leisten. Gleichwohl kann die These sich weder auf apriorische Evidenz noch auf eine theoretische Begründung oder historische Erfahrung berufen, nicht einmal auf Plausibilität: Zu allen Zeiten erschien den Menschen das Gegenteil richtig, und das Vergessenkönnen als moralische Leistung, welche die Kette des Unheils durchbrach. Das Gebot ist daher selbst ein historisches Novum, zumindest seit dem Ausgang der Menschheit aus mythischer Vorzeit: Jeder Mythos ist ein genealogischer Schuld/​Opfer-Zusammenhang, dessen narrative Weitergabe im Bewußtsein der Generationen ein sogenanntes »kollektives Gedächtnis« (Maurice Halbwachs) schafft, welches das Unheil fortwälzt. Es war eine zivilisatorische Leistung ersten Ranges, als es der griechischen Philosophie gelang, das mythische Erinnerungsgebot zu durchbrechen und an seine Stelle dessen Negation zu setzten: Das Gebot, nicht zu erinnern. Aus dem Griechischen stammt auch jenes Wort, das ursprünglich einfach »Nicht-Erinnern« heißt: Amnestie. Es taucht als normativer Begriff in der hellenistischen Kultur des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts auf und meinte nicht einen individuellen Straferlaß, sondern eine kollektive Verpflichtung, an zugefügtes Leid nicht mehr zu erinnern. So sollte der Haß besänftigt und der Friede gesichert werden. Wie der Althistoriker Christian Meier gezeigt hat, ist in der Geschichte nach Kriegen und Bürgerkriegen immer wieder beschlossen worden, der vielerlei Untaten, der Verbrechen, Morde, Massaker, Versklavungen und Vertreibungen, die in ihnen verübt wurden, nicht mehr zu erinnern, und zwar unabhängig vom Ausmaß und der Qualität dessen, was jeweils angerichtet worden war. Natürlich kann Vergessen nicht auf Beschluß erfolgen, öffentliches Nicht-Erinnern aber kann man sehr wohl um des Friedens willen beschließen, und man kann sich um das Vergessen bemühen. Genau das ist in unzähligen Fällen geschehen. Die Beispiele, die Meier nennt, reichen von der Attischen Amnestie 403 v. Chr., welche einen Bürgerkrieg beendete, über eine Rede Ciceros, die er zwei Tage nach der Ermordung Caesars im römischen Senat hielt, um einen Bürgerkrieg zu verhindern (»Alle Erinnerungen an die mörderischen Zwistigkeiten sind durch ewiges Vergessen zu tilgen«), über das Edikt von Nantes, in dem Heinrich IV. »erklärt und verordnet«, die Erinnerung an das Geschehene soll »ausgelöscht und eingeschläfert« sein, den Westfälischen Frieden (»Beiderseits soll das ewig vergessen und vergeben, alle Beleidigungen, Gewalttätigkeiten, Schäden und Untaten derart gänzlich abgetan sein, daß alles in ewiger Vergessenheit begraben sei«) bis zu einem Gesetz Ludwig XVIII., welches das Gedenken an den Terror der Revolution untersagte und sogar das Vergessen der Königsmörder, der Mörder seines Bruders, befahl, »um die Kette der Zeiten neu zu knüpfen«, wie es hieß.9

»Alles Recht ist verjährtes Unrecht«, schrieb Theodor W. Adorno in der »Negativen Dialektik«. In der Regel war also alles, was in Kriegen, Bürgerkriegen und Revolutionen an Gewalttätigkeiten und Greueln geschah, mit dem Friedensschluß abgetan und erledigt. Daß mit dem Friedensschluß auch die Amnestie verbunden sei, liegt schon im Begriff desselben, heißt es bei Immanuel Kant. Umgekehrt galt in der gesamten europäischen Zivilisationsgeschichte die Maxime »Niemals vergessen!« nicht als Mahnung, eingedenk des vergangenen Schrekkens seine Wiederholung zu verhindern, sondern als militante Kollektivverpflichtung, unter günstigeren Bedingungen wieder zu mobilisieren; nicht als Friedensformel, sondern als Kampfparole: Was wäre den Völkern am Balkan nicht alles erspart geblieben, hätten die Serben die Schlacht am Amselfeld irgendwann einmal vergessen …

Erst das mythogene zwanzigste Jahrhundert, das auf der Spitze technologischer Modernität und bürokratischer Rationalität Verbrechen tellurischen Ausmaßes im Namen quasireligiöser, eschatologischer Heilslehren hervorgebracht hat, hat auch mit der zivilisierenden Tradition des Nicht-Erinnerns gebrochen und das archaische »Niemals vergessen!« als moralische Verpflichtung wieder in Geltung gesetzt. Das beginnt schon mit den Friedensverträgen von 1919, in denen von den Siegermächten eine Entschuldigung für die Ereignisse von 1914 – 1918 ausdrücklich zurückgewiesen wurde und steigert sich nach 1945 zum biblischen Pathos eines elften Gebotes: »Du sollst niemals vergessen!« Damit aber bleiben die Geister lebendig.

Gegen das popularfreudianische Dogma des Georges Santayana: »Wer sich der Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie wieder zu durchleben«, das heute als Basis für alle Sorten von »Vergangenheitspolitik« dient, ist freilich schon jene überwältigende empirische Erfahrung zu halten, die Alexis de Tocqueville in den »Souvenirs«, seinen Aufzeichnungen über die Revolution von 1848, prägnant so formuliert hat: »Ich habe immer beobachtet, daß man in der Politik häufig untergeht, weil man ein zu gutes Gedächtnis hat«10– eine Beobachtung, die sich angesichts der »furchtbaren Ursprünglichkeit der Tatsachen« (Tocqueville) beliebig oft wiederholen läßt. Lethe ist ein Heilmittel.

Genau in diesem Sinne interpretiert Theodor W. Adorno, dessen Denken zutiefst von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gezeichnet war, die Schlußszene von Goethes Faust. Als Grund für die Erlösung des Dr. Heinrich Faust nach all den Greueln, die dieser deutscheste aller Charaktere im Bunde mit dem Teufel angerichtet hat, nennt Adorno nämlich nicht die Liebe Gretchens, sondern das Vergessen. Es befreit den Verfluchten von dem Pakt, den er einst geschlossen hat.

Adorno schreibt:

»Ist nicht die epische Gestalt der Dichtung, die sich Tragödie nennt, die des Lebens als eines Verjährens? Wird nicht Faust darum gerettet, weil er überhaupt nicht mehr der ist, der den Pakt unterschrieb; hat nicht das Stück in Stücken seine Weisheit daran, wie wenig mit sich selbst identisch der Mensch ist, wie leicht und winzig jenes ›Unsterbliche‹, das da entführt wird, als wäre es nichts? Die Kraft des Lebens, als eine zum Weiterleben, wird dem Vergessen gleichgesetzt. Nur durchs Vergessen hindurch, nicht unverwandelt überlebt irgend etwas. Darum wird der Zweite Teil präludiert vom unruhigen Schlaf des Vergessens. Der Erwachende, dem ›des Lebens Pulse frisch lebendig schlagen‹, der ›wieder nach der Erde blickt‹, vermag es nur, weil er nichts mehr weiß von dem Grauen, das zuvor geschah. ›Dieses ist lange her.‹«11

Freilich: Im massenmedialen Zeitalter nimmt auch das Vergessen eine historisch neue Form an: Das, was vergessen wird, verschwindet nicht einfach, sondern wird zum Sujet der Unterhaltungsindustrie, die auch das furchtbarste Geschehen banalisiert indem sie es »vermenschlicht«. Genau das ist mit dem unerträglichen Wissen um Auschwitz geschehen: In Gestalt des ritualisierten »Holocaust-Gedenkens« wurde es ein affirmatives Element deutsch-jüdischer Folklore, bei dem sich niemand mehr etwas denkt – und damit zu einem idealen Steinbruch für »Kulturschaffende«; ein Zeichen gelungener »Aufarbeitung«, wenn man so will.

LEHREN DER GESCHICHTE?

Vielleicht war jener störrische Hengst, der Ireneo Funes später abgeworfen hat, als junges, übermütiges Fohlen unter jener Herde, die Nietzsche 1873 (auf heimlichem Besuch bei seiner Schwester in Paraguay, wer weiß?) am Beginn seiner zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung«: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« beobachtet, deren Glück er bewundert und um das er sie beneidet. Sie weiß nicht, sagt Nietzsche, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tag zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen, kommt den Menschen hart an, sagt Nietzsche, weil er sich doch als so viel höherstehend erachtet und daher auf das Glück des Tieres, das ihm verschlossen bleibt, eifersüchtig ist. Voll Neid fragt der an Verstand überlegene Mensch gelegentlich das Tier und sucht von ihm Belehrung: »Warum redest du mir nicht von deinem Glück und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg.«12

Das Tier, sagt Nietzsche, lebt unhistorisch. Der Mensch aber werde erst dadurch zum Menschen, daß er lernt, das Wort: »Es war« zu verstehen, jenes schreckliche Wort, mit dem Trauer, Haß, Kampf, Leiden und Überdruß zu den Menschen kommen, sie zu erinnern, was ihr Dasein im Grunde ist: ein nie zu vollendendes Imperfektum, ein ununterbrochenes Gewesensein. Deshalb sei der Mensch, vor allem aber der historische Mensch, der die Vergangenheit zu seiner Verpflichtung macht und sein Gewesensein nicht überschreitet, sondern sich im Gegenteil über es definiert, für das Glück so schlecht begabt, und es habe vielleicht kein Philosoph mehr Recht als der Zyniker: denn das Glück des Tieres, als des vollendeten Zynikers, sei der lebendige Beweis für das Recht des Zynismus. Zum Glück gehört, worin immer es bestehen mag, das Vergessenkönnen, gehört das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Aber auch zum Handeln gehört Vergessenkönnen. Wie der Handelnde, nach Goethes Wort, immer gewissenlos ist, so ist er auch in spezifischer Weise geschichtslos. »Denkt euch nur«, sagt Nietzsche, und man könnte meinen, er habe die Borgessche Figur des Ireneo Funes vor Augen, »denkt euch das äußerste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besäße […]; er wird wie der rechte Schüler Heraklits kaum mehr wagen, den Finger zu heben. Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört.« Daher sei es möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja, glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; aber es ist ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Es gibt, sagt Nietzsche, »einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur. […] Wir werden also die Fähigkeit, in einem bestimmten Grade unhistorisch empfinden zu können, für die wichtigere und ursprünglichere halten müssen insofern in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst etwas Rechtes, Gesundes und Großes, etwas wahrhaft Menschliches wachsen kann.«13

 

»Erst durch die Kraft«, sagt Nietzsche daher, »das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaß von Geschichte hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen.«14

Das Vergangene zum Leben gebrauchen, aus dem Geschehenen wieder Geschichte machen: Diese Formulierungen Nietzsches sind doppeldeutig. Sie haben nicht nur eine prospektive Bedeutung, wie etwa bei Karl Marx im »18. Brumaire des Louis Bonaparte«, wo es an einer berühmten Stelle heißt: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden«15, sondern sie haben zugleich auch einen retrospektiven Sinn: Wir haben eine Vergangenheit, aber wir geben uns eine Geschichte. Und wir geben sie uns im Lichte eines Entwurfs – eines Entwurfs dessen, was wir sein und werden wollen; davon hängt ab, wer wir gewesen sind. Nicht die Vergangenheit legt uns fest und definiert uns, sondern indem wir der Vergangenheit die wir haben, eine Bedeutungsstruktur verleihen, die sie von sich aus niemals hat (als solche ist sie nur pralle Faktizität, gleichgültig, ob es sich um die Traumhochzeit der »Prinzessin der Herzen« handelt oder um die Bartholomäusnacht) und sie damit zu unserer Geschichte, zu unserem »Gewesen-Sein«, machen, definieren wir uns mittels unserer Geschichte.

Der Vergangenheit eine Bedeutungsstruktur verleihen und sie damit zu einer »Geschichte« im Sinne einer Narration zu machen, das heißt, aus dem unendlichen Meer isotroper Begebenheiten (die Ireneo Funes alle gleichermaßen erinnert!) eine finite Zahl herauszugreifen, einige zu pathetisieren, andere zu lakonisieren, einige zu memorieren, andere zu vergessen – und den Großteil überhaupt unberücksichtigt zu lassen: »Geschichte« ist nur möglich, wenn der Großteil der Vergangenheit im Dunklen bleibt. (Nimmt man die Sache genau, so ist diese Formulierung noch zu schwach. Mathematisch präzise müßte es heißen: »wenn fast alles der Vergangenheit im Dunklen bleibt«– nämlich alles mit Ausnahme von endlich vielem!) Auch das Licht der Erkenntnis wirft Schatten.

Daß es dieser progressiv-regressive Zirkel ist, den Nietzsche im Auge hat, wenn er vom »Machen der Geschichte« spricht (der Ausdruck taucht das erste Mal bei Giambattista Vico auf), und nicht allein das folgenreiche, in die Zukunft wirkende Handeln unmittelbar, zeigt der weitere Fortgang seines Traktats. Denn wenn er im folgenden drei Arten von Historie unterscheidet und ihre Vor- und Nachteile in bezug auf Lebensdienlichkeit untersucht, nämlich eine monumentalische, eine antiquarische und kritische Art von Geschichtsschreibung, so ist das ja nur möglich, wenn das Material nicht von sich aus eine bestimmte Bedeutungs- und Sinnstruktur hat und daher zu einer bestimmten Darstellungsform zwingt. Gewiß sind die Arten von Historie, die Nietzsche nennt, um weitere zu ergänzen – heute vor allem um die schon erwähnte negativ-monumentalische –, und ganz sicher sind sie zu differenzieren und durch Mischformen zu bereichern, ebenso wie die »Plotstrukturen« der historischen Erzählungen, die Hayden White bei großen Historikern festzustellen meint – Epos, Tragödie, Romanze, Komödie, Farce usw. Und vielleicht spielen die Tropen der Rhetorik – Metapher, Synekdoche, Metonymie, Ironie – nicht die strenge Rolle von linguistischen Kategorien, in denen die Vergangenheit, das Material der Historie, gleich dem Kantischen »Ding an sich«, historiographisch allein erscheinen kann.16 An der grundsätzlichen Einsicht änderte dies alles nichts, im Gegenteil, diese würde dadurch nur bestätigt und in ihrem Geltungsbereich erweitert, weil die möglichen korrekten Darstellungsformen nicht mehr abzählbar wären, sondern ein Kontinuum bildeten: die Einsicht nämlich, die Jean-Paul Sartre in »L’être et le néant«, seinem ersten Hauptwerk so ausdrückt: »Wir bekommen unsere Vergangenheit nicht, sondern die Notwendigkeit unserer Kontingenz impliziert, daß wir nicht umhin können, sie zu wählen. […] So stellt diese rohe Existenz, obwohl notwendig existierend und unveränderlich, so etwas wie das ideale und unzugängliche Ziel einer systematischen Erklärung aller in einer Erinnerung eingeschlossenen Bedeutungen dar.«17 Ob der Einzelne diese als seine Geschichte annimmt und sie sich zu eigen macht, ist seine Sache und liegt allein, wie Sartre betont, in seiner Verantwortung: »Die Bedeutung [der Sinn, die »Lehre«, R. B.] der Vergangenheit ist also streng abhängig von meinem gegenwärtigen Entwurf. […] Ich allein kann nämlich in jedem Moment über die Tragweite der Vergangenheit entscheiden: nicht indem ich in jedem Fall die Wichtigkeit dieses oder jenes Ereignisses erörtere, erwäge und einschätze, sondern indem ich mich auf meine Ziele hin ent-werfe, rette ich die Vergangenheit mit mir und entscheide durch das Handeln über ihre Bedeutung.«18 Mit anderen Worten, die Geschichte hat als vergegenwärtigte Vergangenheit immer eine pragmatistische Struktur.

Denn nur die Zukunft, d. h. meine Vorstellung von der Zukunft, meine Wünsche, Pläne und Absichten entscheiden darüber, ob die Vergangenheit lebendig oder tot ist, ob sie mich und wozu sie mich verpflichtet; sie selber hat von sich aus gar keine Kraft:

»Denn die einzige Kraft der Vergangenheit geschieht ihr durch die Zukunft. […] Lebendige Vergangenheit, halbtote Vergangenheit, Überlebendes, Ambivalenzen, Antinomien: die Gesamtheit dieser Vergangenheitsschichten wird durch die Einheit meines Entwurfs organisiert. […] So bestimmt die Ordnung meiner Zukunftswahlen eine Ordnung meiner Vergangenheit, und diese Ordnung hat nichts Chronologisches.«19

Daher können Ereignisse, die lange schon zurückliegen und dokumentarisch gleichsam schlummern, durch veränderte Absichten und Erwartungshaltungen plötzlich imaginär lebendig werden und eine größere verpflichtende Präsenz erlangen als jene, die erst jüngst vergangen sind und die bis dahin die Vorstellungen prägten. Eben darin liegt die Möglichkeit der Mythenbildung. Denn der Mythos ist nichts, was mich aus den Tiefen der Vergangenheit mit Naturgewalt überkommt und mein Handeln diktiert, sondern seine Kraft ist ihm vorgängig durch meine freie Wahl verliehen. Mit »Faktentreue« hat das gar nichts zu tun.

»So wählen wir unsere Vergangenheit im Lichte eines bestimmten Zwecks, aber von da an drängt sie sich auf und verschlingt uns«20, sagt Jean-Paul Sartre, und genau deshalb, weil hier individuelle und kollektive, moralische und politische, ethnische und kulturelle Identitäten auf dem Spiel stehen, sind öffentliche Debatten zu historischen Fragen, aber auch die Streitereien innerhalb der akademischen Zunft, immer von ganz anderer Qualität und Heftigkeit, als solche innerhalb jener Wissenschaften, die man seit Thomas Kuhn »paradigmatische« nennt – und zwar auch bei gemeinsam anerkannter »Faktenlage«. Gewiß werden die Auseinandersetzungen zwischen Naturwissenschaftlern um die Gültigkeit einer Hypothese oder einer Theorie oft auch recht scharf geführt, aber weil es in der Historiographie immer wesentlich um Fragen moraldurchtränkter Interpretationen geht, wird hier die Frage der Wahrheit zu einer Frage der Moral. Eine Abweichung von einer als gültig anerkannten Interpretation wird daher nicht nur als Irrtum behandelt, sondern als Verrat, ja sie hat den Status einer Häresie, einer Ketzerei. Das aber wirft ein trübes Licht auf die Geschichte als Wissenschaft selber: Denn es ist das Unterscheidungsmerkmal moderner Wissenschaft von politischen und religiösen Glaubenssystemen, daß sie nicht häresiefähig ist! In den Naturwissenschaften mag es skurrile Einzelgänger geben, aber in der Geschichte gibt es Apostaten. Als an ein Beispiel unter vielen erinnere ich nur an den deutschen Historikerstreit von 1986, in dem es nicht um die Verifikation oder Falsifikation sogenannter historischer Tatsachen ging, sondern ausschließlich um deren (politisch korrekte) Interpretation, mit durchaus auch persönlichen Konsequenzen für jene, die von der herrschenden Meinung dissendierten.

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