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*

6.

Am nächsten Morgen war Rumpler schon etwas früher ins Café Rathaus gekommen und zu seiner Freude war der angestammte Platz, den Moser und er während seiner Aktivzeit meistens benutzt hatten, frei, was er als gutes Omen nahm. Der Tisch stand in einer Fensternische, wobei der unter dem Fenster platzierte Heizkörper mit einem Messinggitter verkleidet war, das von den darauf abgestützten Ellbogen der Besucher sowohl spiegelnd blank poliert als auch etwas durchgebogen war. Während Rumpler noch darüber sinnierte, wie viel dieser über die Jahre immer deutlicheren Veränderung wohl auf sein und Mosers Einwirken zurückzuführen war, traf dieser ein, wie üblich mit seiner speckigen Aktentasche versehen, die er gleich nach der Begrüßung öffnete und ihr einen ziemlich dicken Packen Unterlagen entnahm, den er vor Rumpler hinlegte. „Das ist alles, was wir zur Tolser haben. Viel Lärm um nichts. Wirst sehen, das bringt nichts.“

„Danke, Stinker. Kennst mich eh. Ich muss mir alles selber anschauen.“

„Passt schon. Bist beim Rudi Schätter weiterkommen?“

„Nicht wirklich. Ich hab ihn besucht, er hat sich drüber gfreut, aber sagen hat er mir nichts können. Er ist ganz in seiner Kasperlwelt drin mit Greteln, Seppeln und Großmuttis. Du bist wahrscheinlich auch ein Seppel, so wie ich.“

Moser verdrehte die Augen und grunzte etwas Unverständliches. „Und was machst jetzt weiter?“

„Ich bleib einfach dran und werd ihn wieder besuchen. Schau ma mal. Wenn er wirklich was weiß, wird’s nicht leicht, das aus ihm herauszukriegen.“

„Wenns einer schafft, dann du“, meinte Moser, der Rumplers legendäre Geduld und Ausdauer bei ihren gemeinsamen Fällen zur Genüge kennengelernt hatte und auch durchaus schätzte, obwohl, oder vielleicht sogar, weil er selbst völlig anders gestrickt war – lebhaft und ungeduldig.

Nach dem Kaffeehausbesuch machte Rumpler noch einen Spaziergang im Volksgarten und freute sich über die blühenden Rosen und auch über die ihnen durch ihre Paten zugeordneten Widmungsschilder. Plötzlich ertappte er sich dabei, wie er den Spaziergängern, denen er begegnete, Rollen als Seppeln, Greteln, Hexen oder Großmuttis zuteilte, je nachdem. Die Seppeln waren tatsächlich, wie Rudi Schätter es gesagt hatte, in der Überzahl. „Viele Seppeln“, dachte Rumpler, „aber weit und breit kein Kasperl.“ Also nach seiner Einschätzung vermutlich einer, der das Unglück wenden konnte und allen Hoffnung und Zuversicht verhieß.

Rumpler machte sich auf den Heimweg. Als er die abgezählten zweiundsiebzig Stufen zu seiner Wohnung emporgestiegen war, leicht außer Atem, steckte seine alte Nachbarin den Kopf zur Tür hinaus und übergab ihm ein Paket, das sie für ihn übernommen hatte. Sie musste trotz ihrer gut achtzig Jahre noch über ein ausgesprochen feines Gehör verfügen, sonst hätte sie sein Kommen nicht gehört. Rumpler bedankte sich, übernahm das ziemlich voluminöse und gar nicht so leichte Paket und wurde schon an der Wohnungstüre von Rosamunde empfangen, die sich sofort dafür interessierte.

„Kriegst dann die Schachtel, Maus“, versprach er ihr, während er sich erfolglos bemühte, den ziemlich krakelig geschriebenen Absender zu entziffern. Schließlich half ihm der Poststempel weiter. Das Paket war von seinem Großcousin, dem Vater jenes Kevin, dessen Zeichnung nach wie vor auf Rumplers Schreibtisch stand.

Rumpler holte sein Taschenmesser aus dem Sack, ein ganz aus Metall bestehendes, unverwüstliches und extrem scharfes Messer, das zur Standardausrüstung der japanischen Polizei gehörte, mit einem schmalen Griff und einer gezahnten Klinge, die auch für kleinere Sägearbeiten durchaus geeignet war. Er hatte es einmal von einem japanischen Kollegen als Abschiedsgeschenk bekommen, als in Wien ein internationaler Polizeikongress stattgefunden und er den Japaner unter seine Fittiche genommen und ihm die Wiener Cafés und Heurigen nähergebracht hatte. Er schnitt die starken Klebebänder auf dem Paket mühelos auf. In dem Paket waren Äpfel, verschiedene Sorten, beileibe nicht alle perfekt in ihrem Aussehen, aber doch verführerisch anzusehen, und der Duft, der von ihnen aufstieg, machte Rumpler Lust, gelegentlich wieder das Waldviertel aufzusuchen. Das ziemlich raue Klima des Waldviertels vertrug sich eigentlich nicht sehr gut mit dem Anbau von Äpfeln, nur einige eher robuste Sorten hielten sich dort. Obenauf im Karton lag eine Karte mit einem Dank für den Besuch, die auch Kevin mit einer etwas wackeligen Schrift unterschrieben hatte.

Rumpler warf einen Blick auf die gerahmte Zeichnung auf seinem Schreibtisch und lächelte. Einen Teil der Äpfel würde er für einen gedeckten Apfelkuchen verwenden, mit den durch das Teigrad gezackten Teigstreifen kreuz und quer belegt, eine Herrlichkeit zum Kaffee. Den Kuchen würde er Alma mitbringen, die sich über Gekochtes oder Gebackenes immer freute, zum einen, weil er mit viel Sorgfalt und Erfahrung ans Werk ging, zum anderen, weil sie es von ihrem verstorbenen Mann, einem Bildhauer, nicht gewohnt gewesen war, so verwöhnt zu werden. Rumpler freute sich auf Kaffee und Kuchen mit Alma, im großen Wintergarten ihres schönen alten Hietzinger Hauses, von Skulpturen und großen Kübelpflanzen umgeben. Dieser Platz war für ihn ein Sehnsuchtsort, voller Harmonie, eine Insel, die Rettung verhieß, wenn Rettung nottat.

Mittlerweile hatte Rumpler die Äpfel alle aus dem Karton geholt, sie einzeln begutachtet und berochen und am Rand seines Küchentisches in einer Zweierreihe aufgelegt. Die geleerte Schachtel hatte er auf den Boden gestellt, wo sie sofort von Rosamunde bezogen wurde, die es liebte, sich in Schachteln, womöglich kleinen, in die sie kaum hineinpasste, häuslich einzurichten. Rumpler griff zum Handy und rief seinen Großcousin an, bedankte sich für die Äpfel und richtete auch an Kevin schöne Grüße aus, heilfroh darüber, dass dieser in sicherer Entfernung im Waldviertel weilte.

Während er einen Teil der Äpfel schälte und die Kerngehäuse entfernte, dachte er über die Obdachlosen nach, die sich mit dem Verkauf des Augustin über Wasser hielten und ihre in den letzten Jahren aufgetauchten ausländischen Konkurrenten. Nicht weit von Ferdls Standplatz hatte er einen Bettler beobachtet, wie sie in letzter Zeit immer öfter zu sehen waren, mit schweren und zum Teil schwersten Behinderungen, fehlenden Gliedmaßen, schrecklichen Verkrüppelungen. Dem etwa vierzigjährigen Mann, sofern sich sein Alter überhaupt korrekt schätzen ließ, hatte ein Bein gefehlt und sein Rücken wies zusätzlich eine schlimme Verkrümmung auf. Noch in der Erinnerung an diesen Anblick schauderte es Rumpler und er fühlte die Betroffenheit und wohl auch die diffusen Schuldgefühle eines weitgehend Gesunden gegenüber jemandem, der vom Schicksal so sichtbar getroffen war.

Mittlerweile waren alle Äpfel säuberlich geschnitten in einem großen Topf – mit Zimt, Zitronensaft und etwas braunem Zucker – und dünsteten unter verführerischem Duft bei eher schwacher Hitze vor sich hin. Die Herstellung des Teigs war für Rumpler kein Problem, so oft hatte er diesen Kuchen schon gemacht. Das Rezept dazu stammte noch von seiner Mutter, die in ihrer bemerkenswert schönen, schwungvollen Handschrift Zutaten und Herstellung genau beschrieben hatte.

Rumpler erinnerte sich an die Zeit, als er als Bub seiner Mutter beim Kuchenbacken zugeschaut hatte. Sein Blick hatte damals gerade auf den Küchentisch gereicht, auf dem sie den Teig auswalkte und mit dem gezackten Teigrad die einzelnen Streifen schnitt. Manchmal machte sie einen Fehler, ein kleines Stück Teig war plötzlich ganz schief geschnitten und dieses Stück schob sie dann ihrem Sohn zu, der schon wusste, dass solche Fehler zum Ritual des Kuchenbackens gehörten. Rumplers älterer Bruder mochte Süßes nicht sehr und war daher diesbezüglich glücklicherweise keine Konkurrenz für ihn gewesen.

Als der Kuchen schließlich im Rohr war, rief Rumpler Alma an. Sie hatte am Vormittag in ihrer Ordination gearbeitet und sollte daher am Nachmittag frei sein.

„Hallo Alma.“

„Schön dich zu hören, Lieber.“

Sie sagte Lieber, nicht Liebster, aber die Wärme ihrer Stimme, mit der sie es sagte, löste in Rumpler eine ganze Welle von Glücksgefühlen aus.

„Ich hätt einen Apfelkuchen. Hast Zeit und Lust, dann bring ich ihn vorbei?“ Er spürte ihr Lächeln bis in seinen Bauch hinein.

„Du bist ein Schatz. Passt vier Uhr für dich?“

„Bestens. Ich freu mich auf dich.“

„Ich freu mich auch.“

*

7.

Als Rumpler dann um Punkt vier Uhr vor dem wunderschönen runden Torbogen des alten Hauses stand, das Alma bewohnte, staunte er, wie rasch ihm dieses Haus vertraut geworden war, obwohl er es doch noch nicht einmal ein Jahr kannte. Es lag wohl daran, dass Almas ganzes Wesen dieses Haus für ihn so besonders machte, sehr einladend und auch ein wenig geheimnisvoll. Als sie ihm öffnete und nach dem Begrüßungskuss den Karton, in dem er den Kuchen für den Transport verpackt hatte, entgegennahm, schnupperte sie an dem Kuchen. „Der riecht ja fantastisch. Der Kaffee ist gleich fertig.“

Rumpler folgte ihr in den Wintergarten, wo der Rattantisch bereits gedeckt war. Sie genossen Kaffee und Kuchen weitgehend schweigend. Alma war eine Frau, mit der man beides gut konnte, schweigen und sprechen, je nachdem. Auch wenn sie beide schwiegen, war die Verbindung zwischen ihnen stark zu spüren. Nachdem sie sich gestärkt hatten, beugte sie sich vor und legte ihre Hand ganz leicht auf seine.

„Etwas hat dich erschreckt, Lieber. Willst mir davon erzählen?“

Er staunte längst nicht mehr über ihre Hellsichtigkeit und war einfach froh darüber, dass sie ihn auch ohne Worte verstand.

 

„Ich bin von den Kollegen gebeten worden, mich ein bissl bei den Obdachlosen umzuschauen und -zuhören, weißt eh, wegen der Morde, ich hab zu denen einen guten Draht, und da hab ich heute einen schwerbehinderten Bettler gesehen, mit nur einem Bein und einem völlig verkrümmten Rücken. Einfach schrecklich.“

„Es ist ganz normal, dass dich das erschreckt, Lieber. Es ist ja auch schrecklich.“

Rumpler wusste, dass Almas schon vor vielen Jahren verstorbener Vater im Krieg ein Bein verloren hatte.

„Wie war das für dich als Kind? Dein Vater hat ja auch nur ein Bein gehabt, aber du hast ihn halt nur so gekannt.“

„Er war mir ganz vertraut, so wie er war.“

„Aber wie geht man als Kind mit so was um?“

Sie lächelte das Lächeln, das Rumpler so sehr an ihr liebte, ein frohes und großzügiges Lächeln mit einem ganz leichten Anflug von Wehmut, aus dem Wissen um die Welt, so wie sie war.

„Kinder haben für so was ganz eigene Strategien. Mein kleiner Bruder …“, sie lächelte wieder, weil dieser kleine Bruder mittlerweile etwa fünfundvierzig Jahre alt war, „… konnte die Verwundung unseres Vaters nur ganz schwer ertragen. Er hat ihn daher in seiner Fantasie zu einer Art Actionheld umgemodelt und sich vorgestellt, seine Krücken wären in Wirklichkeit Schnellfeuergewehre, mit denen unser Vater jederzeit schießen und alle Schurken zur Strecke bringen konnte. Unser Vater hat das aber nicht wissen dürfen, denn er hat Waffen verabscheut. Also hat mein Bruder in seiner Fantasie die Krücken-Gewehre zusätzlich auch noch mit Schalldämpfern ausgestattet. Wenn wir mit dem Auto Ausflüge gemacht haben und mein Bruder hat ganz leise pffft gemacht, dann hab nur ich gewusst, dass er unseren Vater wieder einmal erfolgreich gegen das Böse hat kämpfen lassen.“

„Und wie war das bei dir?“

Sie schwieg kurz, bevor sie antwortete. „Ich hab begonnen, zu hinken.“

Rumpler blickte überrascht auf.

„Ich erzähl dir, wie das gekommen ist. Beim Gehen konnte mir mein Vater ja nicht die Hand geben, als ich noch klein war und an der Hand gehen musste, und so konnte er nur einen Zeigefinger wegstrecken, an dem ich mich mit meinen Fingern festgehalten hab, während er mit den Krücken ging. Ich hatte schon immer ein sehr gutes Gefühl für Rhythmus und so hab ich auch schnell den Takt seines Gehens in mich aufgenommen. Wenn er sich beim Gehen mit dem Fuß abgestoßen und die Krücken am Boden aufgesetzt hat, ist eine Schwebephase gekommen, die etwas länger war, als der nächste Schritt mit dem Fuß am Boden. Damit mein Vater nicht merken sollte, dass er nicht gleichmäßig gehen kann, hab ich mich dann perfekt an sein Gehen angepasst, immer mit einem schnelleren und einem langsameren Schritt. Und so hab ich begonnen zu hinken. Das ist mir auch später geblieben, als ich nicht mehr an der Hand gehen musste. In der Schule haben sie mich deshalb verspottet und Hatscherte zu mir gesagt. Ich hab damals ja gar nicht bewusst gespürt, dass ich hink, so normal ist mir das vorgekommen. Jahre später hat sich dann etwas ereignet, das alles für mich geändert hat. In der Schule gab es anlässlich eines Jubiläums ein großes Fest, bei dem auch ein getanztes Märchen, und zwar Dornröschen, geplant war. Ich war damals zwölf oder dreizehn Jahre alt und wollte unbedingt mitmachen. Als ich mich für das Vortanzen gemeldet hab, das Voraussetzung für die Teilnahme war, hat ein Bub aus meiner Klasse geschrien: Die Hatscherte will tanzen. Und alle haben gebrüllt vor Lachen. Ich wäre damals am liebsten gestorben vor Scham. Die Lehrerin hat mich nur mitleidig angeschaut, aber gesagt hat sie nichts. Zu Hause hab ich darüber nicht gesprochen, weil ich meine Eltern nicht belasten wollte, aber zum Glück gab es eine Schwester meines Vaters, zu der ich immer kommen konnte, wenn ich was gebraucht hab. Sie hat erstaunlich schnell herausgefunden, warum ich gehinkt hab, und hat mir etwas klargemacht, für das ich ihr noch heute dankbar bin. Ich hatte das Hinken, wenn auch nicht bewusst, meinem Vater geschenkt, aber es war jetzt an der Zeit, ihm das Tanzen anstatt des Hinkens zu schenken. Ich hab sehr viel geweint an diesem Abend, vor Traurigkeit, aber noch viel mehr vor Erleichterung. Meine Tante ist dann auch mit mir zu einer Tanzlehrerin gefahren und hat mir Privatstunden bezahlt, obwohl sie nur eine kleine Pension hatte. Das Hinken ist von mir abgefallen, ohne jede Mühe, wie ein Blatt im Herbst, und ich hab das Tanzen für mich entdeckt. Meine Eltern hatten von all dem keine Ahnung. Meine Tante hat mich dann auch zum Vortanzen begleitet. Ich war als Letzte dran. Für die anderen war die Entscheidung schon längst gefallen. Ich kann mich noch gut an das boshafte Getuschel erinnern, als ich auf die kleine Bühne gekommen bin. Dann hat die Musik eingesetzt und ich hab getanzt, aber schon nach kurzer Zeit ist die Musik wieder gestoppt worden. Erst hab ich gedacht, sie schicken mich gleich wieder weg, aber dann hab ich geweint vor Glück, als ich erfahren hab, dass ich die wichtigste Rolle, das Dornröschen, tanzen darf. Als dann der Abend der Vorführung da war, hat es meine Tante so eingerichtet, dass sie mit meinen Eltern bei den Zuschauern war und hat ihnen eingeredet, ich könnt nicht bei ihnen sein, weil ich beim Buffet aushelfen müsse. Dann ist der Vorhang aufgegangen, sie haben mich gesehen und ich hab gespürt, wie sie den Atem angehalten haben. An diesem Abend hab ich buchstäblich um mein Leben getanzt, auch um mein künftiges Leben. Am Ende der Vorstellung war es im Zuschauerraum für kurze Zeit totenstill, dann hat das Publikum getobt vor Begeisterung. Ich hab Standing Ovations bekommen. Ich glaub, ich hab meinen Vater noch nie so froh und so stolz gesehen wie an diesem Abend.“

Rumpler schwieg, bewegt von der Geschichte, die sie ihm anvertraut hatte, und auch dankbar dafür, dass es diese Tante in Almas Leben gegeben hatte. „Eigentlich braucht jedes Kind einen solchen Menschen“, dachte er, „jemanden, der mit Mut und Klugheit eingriff, wenn etwas im kindlichen Leben zu entgleisen drohte.“

Alma stand auf, ging die paar Schritte zu ihrem erhöhten Liegeplatz, der durch dicke Teppiche und farbige Kissen besonders einladend wirkte, und streckte ihm die Hände entgegen. „Komm her zu mir, Lieber, ein bissl sumpern.“

Er folgte ihr, nahm sie in die Arme, sie ruhten aneinandergeschmiegt und schon nach kurzer Zeit hatte sich ihr Atem in einem gemeinsamen Rhythmus zusammengefunden. Im Halbschlaf sah er sie dann wie in ihrer Erzählung als Kind vor sich, eine Prinzessin, die sich dem Tanzen völlig hingab und damit die Welt beschenkte.

*

8.

Für das nächste Treffen mit Rudi Schätter bereitete sich Rumpler sorgfältig vor. Dazu gehörte natürlich der Erwerb von zwei Packungen Manner Schnitten mit Zitronencremefüllung, eine davon in Reserve, falls Rudi Schätter vielleicht einen entsprechenden Heißhunger entwickeln sollte. Der schwierigere Teil der Vorbereitung spielte sich auf Rumplers Laptop und seinem Drucker ab. Er lud zahlreiche Fotos von den Gesichtern junger, hübscher Frauen herunter, veränderte alle auf ein einheitliches Format, stellte jeweils acht dieser Fotos auf einer A4-Seite zusammen und druckte sie aus. Zwei der Fotos zeigten Anita Tolser, die verschwundene junge Frau, von der er mehrere Fotos in dem kopierten Aktenkonvolut gefunden hatte, das ihm Moser zur Verfügung gestellt hatte.

Es dauerte mehrere Stunden, bis Rumpler mit dem Ergebnis seiner Arbeit wirklich zufrieden war, weil es ihm wichtig war, dass die anderen jungen Frauen auf den Bildern eine gewisse Ähnlichkeit mit Anita Tolser aufwiesen, ihr aber wiederum nicht allzu ähnlich waren. Zuletzt lagen vor ihm insgesamt fünf Blätter mit jeweils acht Frauenporträts, wobei auf zwei der Blätter Anita Tolser abgebildet war. Rumpler steckte die fertigen Blätter in ein großes Kuvert und bückte sich, um die vielen am Boden unter seinem Sessel liegenden Papierschnipsel einzusammeln, musste sein Vorhaben jedoch gleich wieder aufgeben, weil er feststellte, dass Rosamunde es sich auf den Papierabschnitten gemütlich gemacht hatte. Sie lag dort in einer unerschütterlichen Ruhe, die ihn gleichermaßen beeindruckte und rührte.

Als er allerdings bald darauf in die Küche ging, war Rosamundes kontemplative Phase blitzartig beendet und sie beeilte sich, ebenfalls rechtzeitig dort zu sein, um ihre Ansprüche auf Futter anzumelden. Nachdem er ihren Napf gefüllt hatte, hatte er es eilig, wieder ins Wohnzimmer zu kommen, um die Papierreste rechtzeitig vor Rosamundes Wiederkehr in den großen Papiersack, in dem er sein Altpapier sammelte, zu entsorgen.

Am nächsten Morgen ging Rumpler wie gewohnt zum Frühstücken ins Café Sperl. Er funkte der Kellnerin, Frau Maria, seine „wie üblich“-Bestellung, die eine Melange und zwei Buttersemmeln umfasste. Als Lektüre hatte er sich die Moserschen Aktenkopien mitgenommen, um sie noch ein weiteres Mal zu lesen. Frau Maria brachte sein gewünschtes Frühstück und warf dabei einen ganz kurzen, prüfenden Blick auf seine Unterlagen.

„Passens gut auf sich auf, Herr Kommissar.“

Er blickte überrascht auf, sah, dass sie seinen Lesestoff intuitiv richtig zugeordnet hatte, und lächelte. „Mach ich, Frau Maria.“

„Dann is es ja gut“, meinte sie nur, bevor sie sich wieder anderen Gästen zuwandte.

Er sah ihr nach, einer kleinen, drahtigen Person von knapp fünfzig Jahren mit einem energischen Gang. Was Rumpler ganz besonders an ihr schätzte, war ihre völlig unaufdringliche und trotzdem sehr wirksame Aufmerksamkeit, eine Eigenschaft, die heutzutage immer seltener und damit auch wertvoller wurde. Frau Maria erkannte sofort, wenn ein Gast etwas brauchte.

Rumpler machte genussvoll den ersten Schluck von seiner Melange, nachdem er, seiner Gewohnheit entsprechend, vorher an seinem Kaffee mit Genuss gerochen hatte, und vertiefte sich dann zum zweiten Mal in die Unterlagen. Er las sehr sorgfältig die Beschreibung von Anita Tolser, las über ihre Lebensumstände, zu denen auch ihre weitgehende Entfremdung von ihrer Familie gehörte, was erklären mochte, dass ihr Freund und ihre Arbeitskollegen sie als vermisst gemeldet hatten, nicht aber ihre Eltern. Rumpler las auch die eher spärlich gehaltene Geschichte ihres Verschwindens. Zwei junge Männer hatten in Anita Tolsers Leben eine Rolle gespielt. Zum einen ein gewisser Konrad Kraufer, der angehende Chef des Unternehmens Kraufer-Baustoffhandel, mit dem Frau Tolser befreundet gewesen war, zum anderen ein Franz Locher, der Ex-Freund der Vermissten, der aus sehr einfachen Verhältnissen stammte. Kraufer hatte als Erster der Polizei gemeldet, dass Anita Tolser abgängig war, und er war es auch gewesen, der der Polizei einen Hinweis auf ihren Verflossenen Franz Locher gegeben hatte. Locher hatte sich durch sein Verhalten nach der Trennung von Anita Tolser verdächtig gemacht, weil er seinerzeit nächtelang vor dem Haus der Kraufers auf- und abgegangen war und ihre Wohnung beobachtet hatte. Das war Nachbarn aufgefallen und sie hatten sich an die Polizei gewandt, die ihn aufgefordert hatte, die Gegend künftig zu meiden.

Nach dem Verschwinden von Anita Tolser wechselten sich in seinem Verhalten gegenüber der Polizei Phasen von herablassender Überheblichkeit mit solchen von umfangreichen Selbstbeschuldigungen ab. Bei einer Vernehmung bezichtigte sich Locher ausdrücklich der Schuld an Anita Tolsers Verschwinden, ohne das aber in irgendeiner Weise näher zu erläutern. Wie Rumpler den Unterlagen entnehmen konnte, wurde er daraufhin von der Polizei ziemlich in die Zange genommen und sollte sich nach einem umfangreichen Verhör am darauf folgenden Tag wieder bei der Polizei melden, was er aber nicht tat. Als er daraufhin polizeilich gesucht wurde, stellte sich heraus, dass er sich auf dem Dachboden seines Elternhauses, in dem er mit seiner Mutter gelebt hatte, nachdem der Vater schon vor Jahren verstorben war, erhängt hatte. Es gab zwar keine unmittelbaren Beweise für seine Schuld, aber er hatte immerhin einen Abschiedsbrief hinterlassen, aus dem hervorging, dass er sich für das Verschwinden von Anita Tolser verantwortlich gefühlt hatte. Was hingegen völlig offenblieb, war die Frage nach Anita Tolsers Leiche, falls sie denn umgebracht worden war. Von Frau Tolser fehlte weiterhin jede Spur. Nach dem Selbstmord Franz Lochers waren in einigen Zeitungen Mutmaßungen über einen Zusammenhang mit dem Verschwinden von Anita Tolser geäußert worden, denen Lochers Mutter in einem Exklusivinterview energisch entgegengetreten war. Rumpler beschloss, wenn irgendwie möglich, mit ihr zu sprechen. Als entsprechender Anknüpfungspunkt konnte ihm dieses Interview dienen und als Begründung für sein Interesse konnte er anführen, dass auch er von der Unschuld Lochers überzeugt sei, aber als Ex-Polizist natürlich nicht mehr in die offiziellen Ermittlungen involviert war, sondern höchstens inoffiziell recherchieren könnte.

 

Konrad Kraufer, der aktuelle Freund der Verschwundenen, war ebenfalls von der Polizei genau durchleuchtet worden, wobei aber für ihn sprach, dass er selbst als Erster gemeldet hatte, dass Anita Tolser abgängig war. Des Weiteren hatte sich einwandfrei belegen lassen, dass er in dem Zeitraum, in dem Frau Tolser verschwunden sein musste, in der Firma seines Vaters mit einer dringenden Projektarbeit beschäftigt gewesen war. Die Firma Kraufer-Baustoffhandel hatte ein elektronisches Stechuhr-System, das ohne jeden Zweifel bestätigte, ob ein Mitarbeiter der Firma zu einem bestimmten Zeitpunkt anwesend war oder nicht.

Rumplers Gedanken kehrten wieder zu Hedwig Locher zurück. Es war ihm klar, dass er sich mit einem Besuch bei ihr gleich mehrfach auf heikles Terrain begeben würde. Es konnte nämlich durchaus sein, dass Frau Locher seine Recherchen missbilligen würde und sich vielleicht bei seinen Ex-Kollegen über ihn beschwerte. In diesem Fall hätte er wohl einige Mühe, ihnen zu erklären, warum er solche privaten Nachforschungen anstellte. Noch viel heikler war allerdings die Möglichkeit, dass Frau Locher aufgrund seiner Kontaktnahme wieder Hoffnung schöpfte, dass ihr verstorbener Sohn durch Rumplers Aktivitäten rehabilitiert werden würde und er diese Hoffnungen einer verzweifelten Mutter vielleicht benutzte, letztlich aber würde enttäuschen müssen. Objektiv sprach also vieles gegen den Besuch, eigentlich alles, außer Rumplers Gefühl, das ihm sagte, dass es genau jetzt richtig wäre, diese schwierige Mission zu unternehmen. Er überlegte noch kurz, anstelle von Frau Locher Rudi Schätter zu besuchen und ihm die vorbereiteten Fotos vorzulegen, entschied sich aber dann doch dagegen und beschloss, Frau Locher anzurufen. Weil er im Café Sperl, wie auch in anderen Kaffeehäusern, wenn es nur irgendwie möglich war, grundsätzlich nicht telefonierte, weil ihm das wie ein Sakrileg vorgekommen wäre, winkte Rumpler der Kellnerin, zahlte und ging, um seinen Plan zu Hause weiter zu verfolgen, nicht ohne das Café Sperl mit einem dankbaren Blick zu durchwandern, jenes von seiner wechselvollen Geschichte förmlich imprägnierte Kaffeehaus, das während der Besatzungszeit sogar schon als Stall für die Pferde russischer Soldaten hatte herhalten müssen.

Zu Hause verköstigte er zunächst Rosamunde mit einer kleinen Mahlzeit und holte anschließend sein Telefonbuch hervor. Rumpler war einer jener immer seltener werdenden Kunden der Post, die noch ein papierenes Telefonbuch hatten. Er schlug unter Hedwig Locher nach, fand zwei Frauen ihres Namens, wusste aber aufgrund des Moserschen Protokolls, dass es sich nur um jene Hedwig Locher handeln konnte, die in Simmering, und zwar in der Kaiserebersdorfer Straße unter einer der höheren Hausnummern wohnte. Rumpler speicherte zunächst Frau Lochers Telefonnummer und Adresse in den Kontaktdaten seines Handys und tippte dann die Nummer an, während er Rosamundes Stirn kraulte, was er die Mütze machen nannte. Rosamunde liebte es, die Mütze gemacht zu bekommen. Sehr. Zumindest meistens.

Erst nach mehrmaligem Läuten meldete sich eine leicht kratzige Frauenstimme. „Hallo.“

„Guten Morgen. Mein Name ist Rumpler, Johann Rumpler. Spreche ich mit Frau Locher?“

Sie reagierte mit einer Gegenfrage, ohne auf seine Frage auch nur im Geringsten einzugehen. „Und was wollen Sie?“

„Frau Locher, ich hab Ihr Interview über Ihren Sohn gelesen und würde gern mit Ihnen sprechen. Ich bin pensionierter Kriminalbeamter und war daher in die polizeilichen Untersuchungen nicht einbezogen. Es gibt für mich aber ein paar Ungereimtheiten im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Frau Tolser und ich würde gerne noch einige private Recherchen dazu anstellen.“

„Ich glaub, das bringt nichts mehr. Mein Bub ist tot und die Zeitungen werden ihre Anschuldigungen nicht aufgeben. Für die ist und bleibt er ein Mörder.“

„Frau Locher, ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich etwas herausfinden werde, was die Unschuld Ihres Sohnes beweist. Ich kann Ihnen aber versprechen, dass ich die Angelegenheit in alle Richtungen sehr sorgfältig untersuchen würde – aber natürlich nur, wenn Ihnen das auch recht ist.“ Obwohl er seine Gesprächspartnerin nicht sehen konnte, spürte Rumpler in der Pause, die plötzlich eintrat, dass sich die Stimmung von Frau Locher zu seinen Gunsten verschoben hatte.

„Können wir uns treffen?“

„Ja, sicher. Wo wäre es Ihnen denn recht?“

„Kennen Sie den Enkplatz in Simmering? Ganz in der Nähe ist ein Kaffeehaus, in das ich manchmal geh. Und bringen Sie einen Ausweis mit, damit ich weiß, dass Sie wirklich früher bei der Kripo waren und nicht ein Zeitungsreporter sind. Von denen hab ich nämlich wirklich genug.“

„Natürlich. Wann wär Ihnen denn das Treffen recht?“

„Morgen früh um neun Uhr. Das Café heißt Hagel. Melden Sie sich beim Kellner, wenn Sie da sind, und er bringt Sie dann zu mir.“

„Das mach ich. Danke, Frau Locher, und bis morgen.“

„Bis morgen.“

Rumpler atmete auf. Die ärgste Hürde war geschafft. Er nahm sein Moleskinbuch zur Hand, blätterte es durch und machte noch einige Eintragungen, bevor er sich den in den letzten Tagen etwas vernachlässigten Erfordernissen seines Haushalts widmete.