Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3

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2 1902: Beginn der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich

Im Februar 1906 herrschten im nördlichen und nordwestlichen Frankreich bürgerkriegsähnliche Zustände, in deren Verlauf im flandrischen Städtchen Boeschèpe ein Mensch ums Leben kam. Die Bauern und kleinen Leute griffen zu Gabeln, Sensen, Pickeln und ähnlichem Gerät, um »ihre« Kirche vor den staatlichen Steuereinnehmern zu schützen. Diese sollten die Kirchengüter inventarisieren, um sie danach zu sozialisieren. Genau genommen tobten damals zwei Kriege gleichzeitig: jener gegen die Erfassung der Kunstwerke und »die Öffnung der Tabernakel«, der Schreine, in denen die Hostie aufbewahrt wurde, sowie jener »zwischen Priestern und Lehrern«, die um die Seelen und Köpfe der Kinder fochten. Das Land erlebte die dramatische Endphase der Trennung von Kirche und Staat – eines unerbittlichen Kampfes, der im 18. Jahrhundert mit Voltaire und der Aufklärung begann, und im Mai 1902 mit der von Émile Combes (1835-1921) geführten Regierung dem Höhepunkt zutrieb. Das Jahr 1902 war das Schlüsseljahr, das direkt auf die rechtliche Trennung von Kirche und Staat drei Jahre später vorauswies.

Die Gegner von Combes Regierung bezeichneten diese als Herrschaft des »Antiklerikalismus«. Dieser Neologismus schloss sich an das 1852 erstmals nachgewiesene Adjektiv »antiklerikal« an. Combes selbst und seine Leute verstanden sich als Laizisten und ihr Programm war die laizistische Republik. Mit der Revolution von 1789 und ihrem Laizismus bekam die Religion den Status einer Privatsache. Das Individuum konnte sich aus vielerlei traditionalen Bindungen – darunter jene an die Religion – befreien. Naserümpfend halten hierzulande viele Laizismus für einen Anachronismus, doch an der Pariser Sorbonne existiert auch heute noch ein Lehrstuhl für »Geschichte und Soziologie der Laizität«.

Mit seinem zornigen »écrasez l’infame superstition!« (»rottet den niederträchtigen Aberglauben aus!«) reagierte schon Voltaire auf die Gängelung der Menschen durch die staatliche Zensur unter dem Ancien Régime, klagte aber auch die Institution Kirche an. Diese hatte zum Beispiel einen maßgeblichen Anteil daran, dass Jean François La Barre so lange gefoltert wurde, bis er gestand, gottlose Lieder gesungen, ein Kruzifix zerstört und bei einer Prozession den Hut aufbehalten zu haben. Zur Strafe für diese »Albernheiten« (Denis Diderot) schnitt man ihm am 28.2.1766 zuerst die Zunge und dann den Kopf ab, bevor der Restkörper verbrannt wurde.

Die Exzesse während der revolutionären Entchristianisierung (1793/94) sind nicht zuletzt auch Reaktionen auf solche Erfahrungen unter dem Ancien Régime. Bereits 1795 kehrten viele der durch die Revolution vertriebenen Priester zurück, und die Kirche erhielt wieder volle Bewegungsfreiheit. Napoleon schloss 1801 mit Papst Pius VII. ein Konkordat, dem ein Jahr später die »organischen Artikel« folgten, mit denen Kirche und Staat nach dem Zerfall des Staatskirchentums und der revolutionären Enteignung der Kirche einen Weg zu friedlicher Koexistenz fanden. Der beiderseits ungeliebte Kompromiss zwischen »dem freien und dem katholischen Frankreich«, wie sich der Schöpfer des »Code Napoléon« – Jean-Étienne-Marie Portalis – 1802 ausdrückte, hielt bis 1905.

Zwar scheiterten in der Zeit der Restauration die Bemühungen, im Geiste des konterrevolutionären Traditionalismus von Louis de Bonald (1754-1840) und Joseph de Maistre (1753-1821) »die Revolution (zu) töten« und die vorrevolutionären Verhältnisse wiederherzustellen, aber der hohe Klerus errang dennoch wieder eine dominierende Stellung, die er auch unter Louis-Philippes Bürgerkönigtum zu verteidigen vermochte. Nach 1830 begann »die Zeit der Ordensgemeinschaften« (Denis Pelletier): Bis 1880 wurden nicht weniger als 400 neue Gemeinschaften gegründet, die etwa 180 000 Mitglieder besaßen – rund zehnmal so viele wie 1808. Die meisten Kleriker waren als Lehrer tätig. Die Mädchenausbildung lag fast vollständig in der Hand von Nonnen. Im Zweiten Kaiserreich (1851-1870) Napoleons III. galt eine Schulsatzung, der zufolge es die erste Pflicht der Lehrer war, »die Kinder religiös zu unterweisen«. Von daher erklärt sich die republikanische Gegenparole: »Schreiben, lesen, rechnen, das ist alles, was man lernen muss«, meinte Adolphe Thiers.

Die Haltung Napoleons III. zur Kirche war eher taktischer Natur, obwohl er sich zeitweise überlegte, sich in der Kathedrale von Reims kirchlich zum Kaiser salben zu lassen. Ein Fanal setzte jedoch seine fromme Frau, die den Papst als Patenonkel des Thronfolgers gewann. Beim hohen Klerus galt der Staatsstreich vom 2.9.1851 schon zwei Wochen danach als »Staatsstreich Gottes«. An die Stelle des alten Bundes von »Thron und Altar« trat nun jener von »Säbelherrschaft und Weihwasserwedel«, d. h. »die fürchterliche Allianz zwischen jenen, die niederkartätschen und jenen, die Kartätschen segnen«, wie Léon Gambetta, der Verkünder der Republik von 1870, sagte.

In den 50er und 60er Jahren startete die Kirche in Frankreich eine Rekatholisierungskampagne, mit der sie 1856 den Herz-Jesu-Kult wiederbelebte und die Wunder- und Marienverehrung sowie Wallfahrten – dank der Eisenbahn – in großem Stil organisierte. Den Höhepunkt bildete die Weihe der Grotte von Lourdes mit 100 000 Pilgern. Mit den Enzykliken »Syllabus« und »Quanta Cura« (8.12.1864) wurden Religions- und Gewissensfreiheit als »Freiheit des Verderbens« gebrandmarkt und zusammen mit anderen achtzig »modernen Irrtümern« vom Rationalismus über den Liberalismus bis zur Aufklärung kirchlich verdammt. Während die liberale Presse und die republikanische Opposition unter Napoleon III. verfolgt oder ins Exil gejagt wurde, konnte der militante Katholizismus ungehindert auftreten. Louis Veuillot von der Zeitschrift »L’Univers« beklagte 1867 den Fehler des Kaisers, Luther nicht verbrannt zu haben, denn »dieser und seine Komplizen haben der Kirche 40 Millionen Menschen weggenommen«, was bei zwölf Generationen seit dem 16. Jahrhundert »480 Millionen Menschen« zu »Verdammten« gemacht habe – einzig deshalb, »weil man diesen Prediger der Häresie nicht rechtzeitig beseitigt hat.«

Die »offen zur Schau gestellte Entente mit einem Regime [der Kirche, RW], das die bürgerlichen Freiheiten unterdrückte« – so der Historker François Caron –, stärkte die laizistische Bewegung, die sich freilich noch nicht öffentlich zeigen konnte. 1870 kapitulierte zwar das Kaiserreich vor Bismarcks Truppen, aber in Gesellschaft und Politik herrschten danach nicht die Republikaner, sondern Monarchisten, Bonapartisten, Konservative und Klerikale, die durch die Angst vor der demokratischen Republik zusammengeschweißt wurden. Wie unter der Restauration nach 1815 sollte unter der Präsidentschaft Marschall MacMahons »die moralische Ordnung« (»ordre moral«) wieder aufgerichtet werden. Der Bischof von Nantes sah die Pariser Commune als »eine göttliche Züchtigung«. Zwei Jahre nach der Niederlage in der Schlacht von Sedan propagierte eine französische Lehrerzeitschrift die deutsche Schule als Vorbild, da diese »Gehorsam und nicht Revolution« lehre. Zu einer Verschärfung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche kam es 1876/77, als sich Papst Pius IX. vom jungen italienischen Staat bedroht fühlte und mehr oder weniger offen französische Militärhilfe forderte. Die französischen Republikaner, noch von der Niederlage im Krieg gegen Preußen gezeichnet, witterten ein Komplott von Monarchisten und Jesuiten, die das Land in einen Krieg für den Papst stürzen wollten. Seit Gambettas Rede vom 4.5.1877 galt deshalb als Schlachtruf der Republikaner: »Le cléricalisme? Voilà l’ennemi!« (»Der Klerikalimus? Das ist der Feind!«).

Nun gerieten zunehmend die Klosterschulen ins Fadenkreuz der Republikaner, die in diesen Schulen den Hort des »Hasses gegen das moderne Frankreich« (Gambetta) vermuteten. Im März 1879 präsentierte der Erziehungsminister Jules Ferry zwei Schulgesetze. Eines enthielt einen Paragraphen, wonach im öffentlichen wie im kirchlichen Bildungswesen nur unterrichten durfte, wer einem staatlich zugelassenen Orden angehörte. Autorisiert waren damals nur fünf Orden. Diese Bestimmung wurde zurückgenommen und ersetzt durch die Vorschrift für kirchliche Lehranstalten, sich staatlich genehmigen zu lassen, ansonsten sie innerhalb eines halben Jahres geschlossen würden. Die katholische Presse empfand das als Kampfansage: »Ab heute gibt es einen unversöhnlichen Krieg zwischen Katholiken und den Umstürzlern, die uns regieren«, schrieb eine Zeitung.

Die Ordensgemeinschaften weigerten sich einfach, Genehmigungen für ihre Schulen zu beantragen. Der Staat begegnete dem passiven Widerstand damit, dass er im Juni 1880 zunächst 5643 Jesuiten auswies und 261 Klosterschulen schloss. Rund 200 Beamte, die sich den Gesetzen widersetzten, verloren ihre Stelle. Im Juni 1881 und im März 1882 trat Jules Ferrys bis heute berühmte Schulreform in Kraft, wodurch der Schulunterricht für alle Kinder unentgeltlich und obligatorisch wurde. Obendrein sollte im Unterricht das Prinzip der Laizität gelten und eine »moralische und staatsbürgerliche Erziehung« eingeführt werden. Ferry wollte Kinder – entgegen der Behauptung katholischer Propagandisten – keineswegs zu Materialisten und Atheisten erziehen lassen. Sein Ziel war bescheiden: In den Schulzimmern mussten nur die Christusbilder durch jene von Marianne ersetzt werden. Der schulische Religionsunterricht sollte zudem durch »die gute alte Moral unserer Väter« und die Ethik Kants abgelöst werden. Ferry dachte sich die Schule als Ort »ziviler Eintracht«, aus dem er religiöse Zänkerei ebenso verbannen wollte wie ethischen Gesinnungsdruck und fromme Indoktrination – in seiner schlichten Diktion: allein »Unterrichtsfreiheit« sollte herrschen.

Es ging den Republikanern weniger um die Verbannung der Religion als darum, die Schule gegen klerikale und monarchische Versuchungen patriotisch und national zu imprägnieren. Die Institution sollte gleichsam geimpft werden gegen Viren der Vergangenheit. In der verbogenen Perspektive der Klerikalen wurde der Lehrer dadurch zum Ersatepriester und »König der Republik«. Aus der Defensive heraus ließ die republikanische Regierung für die Feiern des Quatorze Juillet Schülerbataillone aufmarschieren. Die konservative und klerikale Presse denunzierte die Erinnerung an die Revolution pauschal als Feier zum »Fest der Morde«.

 

Jene Teile des Klerus, die Eltern gegen »das verbrecherische Gesetz« mobilisierten, setzten sich dadurch ebenso dem Verdacht aus, unpatriotisch zu sein wie die moderateren, die »die Freiheit der Erziehung« oder das Elternrecht betonten. Doch die Wogen glätteten sich in dem Maße, wie sich Kirche und Staat in den 90er Jahren einander annäherten. Entspannung schuf zuerst der Bischof von Algier am 12.11.1890, als er in einem Toast vor versammelten Offizieren dazu riet, die Republik zu achten. Anschließend ließ er die Marseillaise spielen – von einem kirchlichen Musikkorps! Auch Papst Leo XIII. zielte mit der Enzyklika »Inter Sollicitudines« (16.2.1892) auf Befriedung. Dem Papst zufolge sollte jeder in seinem äußeren Verhalten »das Regime akzeptieren, das sich Frankreich gegeben hat«, und durfte aber im Innern darüber denken, was er wollte – eine gesichtswahrende gegenseitige Anerkennung im Dissens.

Das laue Klima änderte sich schlagartig mit der Dreyfus-Affäre. Der jüdische Offizier wurde 1894 verhaftet und in einem skandalösen Verfahren wegen Landesverrat von einem Militärgericht zu lebenslänglicher Deportation verurteilt. Nichts und niemand rührte sich zunächst, weil Dreyfus’ Schuld erwiesen schien, obwohl die Anklage nur ein Beweisstück vorgelegt hatte. Mitten im Prozess lancierte der Generalstab ein weiteres Indiz, das sich bald ebenso als Fälschung erwies wie das erste. Der Generalstabsoffizier Marie-Georges Picquart und der Journalist Bernard Lazare deckten unabhängig voneinander die Machenschaften des Militärapparats auf. Im Januar 1898 griff der Schriftsteller Émile Zola mit seinem »J’accuse« in den Fall ein. Dreyfus wurde in einem zweiten Prozess 1899 nochmals verurteilt, 1902 begnadigt und erst 1906 vollständig rehabilitiert.

Gegenüber den 80er Jahren hatten sich die Fronten völlig verschoben: Nun stand den Republikanern ein konservativklerikales Lager gegenüber, das sich im Zeichen von aggressivem Nationalismus und Antisemitismus für die Ehre von Nation und Armee schlug. Nationale Vortrommler wie Maurice Barrès spielten »das umfassendere System der Rasse« und die Bindung an »die Scholle und die Ahnen« ebenso gegen republikanische Freiheit und demokratische Gleichheit aus wie sein Mitspieler Charles Maurras den »pays réel« gegen den »pays légal«. Maurice Muret schließlich erklärte »die Mentalität des modernen Juden« zum Todfeind des Katholizismus. Damit konnte der Laizismus nicht länger patriotisch-national, sondern nur noch demokratisch, republikanisch, sozialistisch und antimilitaristisch auftreten. Die Verteidiger von Dreyfus wurden in den Augen der Nationalisten, Antisemiten, Klerikalen und des Militärs über Nacht zu »Heteern der Unordnung, antikatholischen Sektierern und Vaterlandslosen«.

Erst im Verlauf der Dreyfus-Affäre spürten die Republikaner, dass in den 90er Jahren in den Schulen eine schleichende Rückkehr zur Konfessionalisierung der Schule stattgefunden hatte. Sie glaubten noch wie Jules Ferry, »Lesen« sei »der Anfang von allem« und aus den Lesern würden automatisch republikanische Wähler. Sie vernachlässigten deshalb nicht nur soziale Reformen, sondern übersahen obendrein, dass – zivil verkleidet – längst wieder zahllose klerikale Lehrer in privaten und öffentlichen Schulen unterrichteten. Schon 1893 besuchten 89 568 Schüler kirchliche Gymnasien – rund 51 Prozent aller Gymnasiasten. Der Sieg der Republik in der Schule war einer auf dem Papier. Schon in einer Grundsatzerklärung von 62 Bischöfen aus dem Jahr 1891 für »das christliche Frankreich« kam das Wort Republik gar nicht vor. Zwischen 1896 und 1898 wurden Ordensgemeinschaften als Schulträger wieder zugelassen und die vorgesehene Verstaatlichung von Mädchenschulen auf Eis gelegt. Freilich war auch der Katholizismus kein homogener Block von reaktionären Ultras. Unter den liberalen und sozial-liberalen Katholiken ragte der Schriftsteller Charles Péguy heraus, der sich 1898 auf Dreyfus’ Seite stellte, weil er sich sein »Vaterland nicht durch eine Lüge entehren« lassen wollte.

Die verschiedenen Gruppierungen der Radikalen formierten sich 1901/02 zu Parteien, um vereint »den Klerikalismus zu bekämpfen und die Republik zu verteidigen«, wie es im Programm hieß. Zusammen mit den sozialistischen Parteien bildeten sie ab 1902 den »Block«. Das Land wie das Parlament waren in zwei Lager gespalten – die klerikal-nationalistische Koalition und den »Block« aus linken und rechten Republikanern sowie Sozialisten – ein Erfolg von Émile Combes. Er übernahm das Präsidium des Ministerrats nach dem Wahlsieg vom 11.5.1902 und wurde zugleich Innen- und Kultusminister.

Combes stammte aus Südwestfrankreich, wurde in einem Priesterseminar ausgebildet, wandte sich aber von der Kirche ab und – wie viele aus der Elite der radikalen Politiker – den Freimaurern und Freidenkern zu. Zunächst war er Bürgermeister in Pons, später Senator. Combes bemerkte, dass Ferrys Ruf nach »Unterrichtsfreiheit« den Radikalen längst entwunden worden war. Konservative und Klerikale benutzten das Wort im Kampf gegen die Republik und den »laizistischen Staat, (…) seine Gesetze und seine Souveränitätsrechte« (Combes, 6.10.1902). Er ließ deshalb das Lieblingsbuch aller Schüler – »Tour de France par deux enfants« – ins Republikanisch-laizistische umschreiben. In der Schulgrammatik war jetzt nicht mehr Gott, sondern Paris groß. Sozialisten, mit Ausnahme von Jean Jaurès, hatten zunächst wenig Verständnis für Combes und warfen ihm vor, er wolle das Land mit dem »Appetit nach Freiheit« mit »Mönchsragout« abspeisen.

Bereits nach dem Vereinsgesetz von 1901 mussten sich Ordensgemeinschaften genehmigen lassen; Mitglieder nicht genehmigter Orden durften nicht länger unterrichten. Im Gegensatz zu früheren Einschränkungen gegen religiöse Schulen und Lehrer setzte Combes nun alles daran, das neue Gesetz auch umzusetzen. Orden erhielten keine Genehmigungen mehr und nicht zugelassene wurden sofort aufgelöst. Bis Oktober 1902 mussten etwa 30 000 Ordensleute ins Exil, 10 000 Schulen wurden geschlossen. Viele Schulen existierten unter weltlicher Leitung fort. Der radikale Politiker und Sorbonneprofessor Ferdinand Buisson stellte 1903 fest: »Die bürgerliche Gesellschaft hat die Leitung aller öffentlichen Dienste wieder übernommen.«

Der Jubel war verfrüht, denn der katholische Widerstand gegen »die freimaurerisch-jakobinisch-sozialistische Tyrannei« (Jacques Piou) und die laizistische Schulpolitik gingen weiter. Am 5.7.1904 erließ Combes ein generelles Lehrverbot für die Mitglieder aller Orden – auch der autorisierten. Er wollte nun auch den Beamtenapparat und das Militär »republikanisieren«, stieß jedoch auf starken Widerstand. Sein Kriegsminister musste den Hut nehmen, als herauskam, dass er illegal Karteien (»fiches«) über 9000 Offiziere anlegen ließ mit Berichten über deren Kirchenbesuche und andere religiöse Gewohnheiten.

Combes nutzte 1904 ein Geplänkel um diplomatische Floskeln bei der Ernennung von Bischöfen, um den Abbruch der Beziehungen zu Rom herbeizuführen und seinen Wunsch zu verwirklichen – ein Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat. Sein eigener Vorschlag war nicht mehrheitsfähig, aber Aristide Briand legte zusammen mit Jean Jaurès einen Gesetzesentwurf vor, der am 3.7.1905 eine Mehrheit fand und am 11.12.1905 Gesetzeskraft erhielt. Briand wollte die Kirche nicht zerstören, sondern ihr im Rahmen von Toleranz, Gerechtigkeit und Weltlichkeit des Staates Grenzen setzen. Im maßgeblichen Artikel des Gesetzes »garantiert die Republik Gewissensfreiheit« und lehnt die Anerkennung, Subventionierung und Bezahlung »aller Gottesdienste« (»cultes«) ab. Die Kirchen und deren Eigentum wurden zu Staatseigentum erklärt, das die zu bildenden »Religionsgemeinschaften« (»associations cultuelles«), in denen auch Laien vertreten sein mussten, zurückmieten konnten.

Widerstand und Proteste, wie der eingangs beschriebene Vorfall, häuften sich, nachdem Pius X. das Trennungsgesetz in seiner Enzyklika »Vehementer nos« wörtlich als »zutiefst ungerecht gegenüber Gott« und als Absage an jeden Gottesdienst bezeichnet hatte. Papst und Klerus riefen zwar nicht zur Gewaltanwendung auf, aber die scharfe Sprache des Textes radikalisierte Teile der Bevölkerung im Februar 1902. Mitte März stoppte die Regierung die umstrittene Inventarisierung des Kirchengutes. Mit dem Gesetz vom 2.1.1907 überließ der Staat die Kirchen den Priestern mit der rechtlichen Formel, sie seien »Besitzer ohne Rechtstitel« und verteilte die bereits konfiszierten Kirchengüter an Wohlfahrtseinrichtungen. Kirche und Staat blieben fortan getrennt.

Getrennt? Was das Schulwesen betrifft, war die Trennung eine Fiktion. Die religiösen Schulen bestanden als »private« weiter und können sich – seit der Lex Falloux von 1850 und bis in die Gegenwart – auf die Subventionierung durch den Staat verlassen. Als die sozialistische Regierung 1984 einen einheitlichen Schuldienst schaffen wollte, mobilisierten katholische Privatschulen und deren Elternverbände mehr als eine Million Teilnehmer zu einer der größten Demonstrationen in Frankreich. Und als ein liberaler Erziehungsminister zehn Jahre später die Beschränkung der staatlichen Zuwendungen an katholische Schulen aufheben wollte, demonstrierten fast so viele laizistische Bürger mit Erfolg gegen das Vorhaben. Bis heute lässt die französische Elite ihre Kinder gerne in religiösen Schulen erziehen (rund 10 000 Einrichtungen, mit weniger als zehn Prozent Arbeiterkindern und Ausländern). Diese Schulen bekommen jährlich Subventionen, die rund 13 Prozent des gesamten nationalen Bildungsbudgets beanspruchen.

Doch auch die Hüter des laizistischen Staates blieben wachsam. Und 1974, nach der Trauerfeier für Präsident Georges Pompidou in Notre-Dame, fragte »Le monde«, warum der Staatsakt nicht in einem Palast der Republik stattgefunden habe. Der Staat kostümiere sich religiös – und die Kirche erschleiche sich so »gesellschaftliche Nütelichkeit«.