Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3

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3 Terror als Waffe der politischen Mitte

Im Laufe des Jahres 1793 kam die Französische Revolution in eine ungemütliche Lage – militärisch wie innenpolitisch. Die französischen Truppen gerieten in die Defensive, die Österreicher gewannen Holland zurück, die englische und die spanische Flotte besetzten Toulon, Preußen eroberte die Stadt Mainz zurück, und der französische General Charles François Dumouriez desertierte. Auch im Inneren brodelte es: Im Sommer 1793 war Jean-Paul Marat ermordet worden, in der Vendée tobte ein Bauernaufstand, und in Lyon bekämpften Regierungstruppen den Aufstandsversuch von Bürgern und Arbeitern gegen die Revolution. Gleichzeitig formierte sich unter den Pariser Sansculotten und ihren Volksgesellschaften eine Opposition, die eine Radikalisierung der Revolution forderte. Im Konvent lagen Girondisten und Jakobiner miteinander im Streit, bis die girondistischen Abgeordneten im Herbst ausgeschaltet und zum Tode verurteilt wurden.

Die regierenden Jakobiner mussten eingreifen, wollten sie das Gesetz des Handelns nicht abgeben. In zwei Reden am 25.12.1793 und am 5.2.1794 unternahm Maximilien Robespierre (1758-1794) den Versuch, die politischen Ambitionen von »Gemäßigten« und »Ultrarevolutionären« als gleichermaßen schädlich und gefährlich zurückzuweisen und die Herrschaft der Jakobiner zu legitimieren. Die »Gemäßigten«, darunter Camille Desmoulins und Georges Danton, beriefen sich auf das Prinzip der »Milde« (»clémence«), während die Ultrarevolutionäre um Jacques-René Hébert die »Rache« (»vengeance«) zu ihrem Programm machten, was durchaus konkret gemeint war: Den siegenden Regierungstruppen im Lyoner Aufstand empfahl Hébert: »Zerstört, vernichtet, verbrennt die Paläste des ganzen Händlerpacks in dieser aufrührerischen Stadt.« Die zweite dieser beiden Reden mit dem Titel »Über die Prinzipien der politischen Moral« wurde zur theoretischen Grundlage und Rechtfertigung der Revolutionsregierung und liegt jetzt in einer gediegenen Aufmachung vor (Europ. Verlagsanstalt/Rotbuch Verlag, 2000).

Robespierre begründete die »Prinzipien der Innenpolitik«, indem er sich von der »Milde« ebenso distanzierte wie von der »Rache«. Dabei nahm er einen Begriff auf, der nach der Ermordung Marats (13.7.1793) gleichsam über Nacht in Mode gekommen war – »la terreur«. Bis dahin war »Terror« negativ besetzt und galt als Kennzeichen der monarchischaristokratischen Herrschaft. Der Abbé Royer hatte das Revolutionstribunal schon am 30.8.1793 aufgefordert, »den Terror auf die Tagesordnung« zu setzen bei der unnachsichtigen Verfolgung von Gegnern und Feinden der Revolution. Robespierre nahm die Parole auf und machte den Terror in den beiden Reden zum Angelpunkt der jakobinischen Staats- und Regierungsdoktrin. Er verstand den Terror als Ideologie und zugleich als Waffe einer von rechts wie von links bedrängten politischen Mitte, die in einer schwierigen Lage um ihr Überleben kämpfte. Entgegen einer geläufigen Meinung, handelt es sich beim modernen Terrorbegriff also nicht um ein Konzept von politisch randständigen Extremisten, sondern um eine Regierungsmaxime. Für Robespierre bedeutet Terror das Gegenteil von »Anarchie« und »Unordnung«, nämlich »die Herrschaft des Gesetzes«. Er wollte »das revolutionäre System gesetzlich« machen.

Im Zentrum von Robespierres Argumentation steht – in enger Anlehnung an Rousseau – »das Volk« (»le peuple«), das er nicht weniger als 38-mal beschwört in seiner Rede. Das Volk gilt ihm als Inkarnation der »Tugend« (»la vertu«), und »die demokratische Volksregierung« ist lediglich die Beauftragte und der Transmissionsriemen der Tugend, die das Volk »von Natur aus« besitzt. In der Tugend verbinden sich die »Stimme der Vernunft« und »des Allgemeinwohls« auf geheimnisvolle Weise zur »Wahrheit«. Die Aufgabe der Regierung besteht darin, das Volk »durch Vernunft zu führen« und »die Feinde des Volkes durch Terror zu beherrschen.« Dieses Mittel ist »nichts anderes als das schlagfertige, unerbittliche, unbeugsame Recht.« Robespierres Staats- und Regierungsdoktrin kennt in strenger Dichotomie nur »Vaterlandsfreunde« und »Feinde«, und selbstverständlich sind diese »die Verbündeten des äußeren Feindes«. Mit der vereinfachenden Dichotomisierung nach dem Freund-Feind-Schema dichtet Robespierre seine Doktrin ab gegen die Pluralität politischer Optionen, gegen Kritik und gegen die gesellschaftliche Komplexität. Robespierre scheiterte mit dem Versuch, die Regierung durch Terror zu stabilisieren. In seiner letzten Rede distanzierte er sich von den »Monstern«, die »das widerliche Terrorsystem« erfunden hätten.

Montesquieu ordnete im »Esprit des lois« (1748) jeder Regierungsform eine Maxime zu. Darauf bezieht sich auch Robespierre, verwickelt sich dabei aber in einen Widerspruch. Bei Montesquieu war die Tugend die Maxime der Republik und der Terror jene des Despotismus. Diese negative Abgrenzung des Begriffs »Terror« vom verabscheuten System des Despotismus macht eine positiv besetzte Instrumentalisierung des Begriffs in Robespierres Regierungsdoktrin unmöglich. Er behalf sich deshalb mit einer berühmt gewordenen begrifflichen Improvisation – der Kopplung von Despotismus und Freiheit. »Die Regierung der Revolution ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei.« Es handelt sich dabei freilich nur um eine autoritative Setzung, der die sachlichen und begrifflichen Gelenke fehlen. Als Beleg für die Kopplung diente Robespierre denn auch einzig eine rhetorische Frage: »Ist die Gewalt nur dafür gemacht, das Verbrechen zu schützen?« Wo es auf eine inhaltliche Differenzierung zwischen despotischer und revolutionärer Gewalt ankäme, steht ein Fragezeichen. Auch an einer anderen Schlüsselstelle der Rede, in der es um das Verhältnis von Zielen und Mitteln der Politik geht, rettet sich Robespierre mit einer rhetorischen Frage aus der argumentativen Not. Sobald Inhalte und Ziele von Politik verschwinden, verselbständigen sich die politischen Mittel und werden dadurch maß- und grenzenlos – genau das ist die Signatur des Terrors als Staats- und Regierungsmaxime. Die jakobinische Variante war – verglichen mit terroristischen Regimes im 20. Jahrhundert – ein bescheidener Anfang.

4 Staatsbürger als Übergangswesen

Eine Pointe der Entwicklung seit dem Herbst 1989: Das Problem der Staatsbürgerschaft hat sich seither nicht ent-, sondern verschärft. Der Beitritt der Ex-DDR zum Grundgesetz hat hüben wie drüben nationale Erwartungen erzeugt und gleichzeitig staatsbürgerlich gesicherte Verhältnisse zementiert, die den gesellschaftlichen Realitäten längst nicht mehr entsprechen. Weil die nationalen Erwartungen nicht oder nur zum Schein erfüllt sind, verlegen sich besonders innig vereinigte Deutsche darauf, Minderheiten kompensatorisch als Schuldige für die ganze Misere auszumachen. Flüchtlinge, Ausländer, Asylsuchende und Fremde wurden über Nacht zu Sündenböcken. National neu angestrichen, wissen »die Deutschen« nach der vermeintlichen »Weltwende« jetzt angeblich genau, wer »sie« und wer »die« Anderen sind. Von solchem Wahn ist es nur ein Schritt zum »feste druff« auf die Fremden.

Die Resultate bei den jüngsten Kommunalwahlen (zum Beispiel in Hessen) zeigen, wie massiv das geltende Staatsbürgerrecht mithilft, »richtige« Mehrheiten herzustellen. In Städten zählt ein Fünftel bis ein Viertel der Einwohner einfach nicht, obwohl sie Steuern zahlen und auch die Rentenversicherung mitfinanzieren – im Gegensatz zu deutschen Beamten. Dem eignet eine besondere Infamie. Denn indem man Ausländer zwar zu den Pflichten heranzieht, ihnen aber die Ausübung des Bürger- wie des Wahlrechts verweigert, erhalten die rechtsradikal wählenden Deutschen erst ihr Gewicht von rund zehn Prozent.

Dass sozialdemokratische Politiker jetzt die Aussiedler als Wahlkampfthema entdecken, ist genauso widerlich wie der Versuch der CDU/CSU vor ein paar Jahren, Arbeitslosigkeit und Krise mit der Zahl der Ausländer zu erklären. Am Stammtisch wird sowieso nicht unterschieden zwischen Aussiedlern und Ausländern. Dort sind beide Fremde, die allein deshalb nicht hierher gehören. Das Problem der Aussiedler, deren jährliche Einwanderungsquote seit 1993 auf 250 000 begrenzt wird, ist ein hausgemachtes. Es hängt zusammen mit den Abgründen des deutschen Staatsbürgerrechts.

Die Bonner Koalition passte nicht das blutsrechtliche Staatsbürgerrecht dem universalistisch-humanitären Asylrecht an, sondern verfuhr genau umgekehrt: Das Staatsbürgerrecht in der Tradition des halbkannibalischen ius sanguinis wurde nicht angetastet, das Asylrecht jedoch in der Hoffnung verstümmelt, dass etwas von dem nationalen Überdruck, der von den Parteien mit ihrer Kampagne gegen Asylsuchende und Flüchtlinge demagogisch geschickt orchestriert wurde, entweichen kann. Dies könnte jedoch ins Auge gehen, weil sich die derart erzeugte nationale Grundwelle von ihren Erzeugern längst emanzipiert hat. Die Zauberlehrlinge werden sich noch wundern.

Aufgeklärte Verfassungen definieren, wer Staatsbürger ist, in der Regel an zentraler Stelle der Verfassung oder in einem besonderen Gesetz. Nicht so das Grundgesetz. Jeder Staat unterscheidet zwischen Inländern und Ausländern und regelt den Modus, wie man vom Ausländer zum Inländer werden kann. Entgegen dem Volksvorurteil ist »der Deutsche« eine sehr junge Erfindung. Alemannen, Baiern, Sachsen, Franken usw. sind sehr viel älter als »die Deutschen«. »Deutscher« konnte man während Jahrhunderten überhaupt nur in einem sprachlich-kulturellen Sinne sein, politisch-rechtlich war man Untertan bzw. Bürger eines Landesherrn oder einer Stadt. Der politische Ausdruck »deutsche Nation« stellte immer die Verbindung zum »Heiligen Römischen Reich deutscher Nation« her, also gerade zu einem supranationalen Gebilde, dem u. a. auch Ungarn, Kroaten, Norweger, Böhmen mitangehörten. Der politische Begriff »deutsches Volk« ist erst nach der Französischen Revolution aufgekommen.

 

Die Frankfurter Reichsverfassung (28.3.1849) bestimmte: »Das deutsche Volk besteht aus den Angehörigen der Staaten, welche das deutsche Reich bilden.« Die Reichsverfassung vom 16.4.1871 übernahm diesen Grundsatz: »Die Reichsangehörigkeit wird durch die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat erworben und erlöscht mit deren Verlust.« Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22.7.1913 änderte daran nichts. Man blieb also wie schon seit Jahrhunderten zuerst Hamburger, Sachse oder Hesse und erhielt sekundär die Reichsangehörigkeit. Eine landesunabhängige deutsche Staatsangehörigkeit dekretierten erstmals die Nazis am 5.2.1934.

Im Bonner Grundgesetz erscheinen die Bestimmungen über die Staatsbürgerschaft unter den »Übergangs- und Schlussbestimmungen«. Der Ort verweist auf das Provisorische der Bonner Einrichtungen. Der »Normentyp«, der in diesem Abschnitt geschaffen wurde, besteht aus Rechtsmaterien, die Juristen »gegenstandsverzehrenden Abschmelzungsprozessen« ausgesetzt sehen, wie der »Alternativkommentar« sagt.

Der Grund: Es ging um die Vorsorge für bessere Zeiten. Um Rechtsansprüche und politische Optionen auf 1945 Verlorenes und bis 1949 Ungeklärtes offenzuhalten, nahm man es in Kauf, ein Substrat der Verfassung – Bürgerinnen und Bürger – rechtlich als Übergangswesen zu definieren.

Laut Grundgesetz Art. 116 gibt es außer deutschen Staatsangehörigen und Ausländern noch Menschen »deutscher Volkszugehörigkeit« mit vorübergehend »falscher« Staatsangehörigkeit, aber »richtiger« Abstammung. Die Rechtskonstruktion des »sonstigen Deutschen« ist ebenso kühn wie einmalig in der Rechtsgeschichte. »Der Rechtsbegriff der sonstigen Deutschen ist dabei neu geschaffen worden« (Maunz-Dürig-Herzog); »dabei« heißt bei der Schaffung des Grundgesetzes. Logisch meint dies: Bis zum 23.5.1949 kannte die ganze Welt nur deutsche Staatsangehörige und nicht deutsche Staatsangehörige; das Grundgesetz bescherte der Welt ein Drittes – den Abruf-Deutschen, das versandbereite Übergangswesen, dessen Vorfahren zwar vor 100, 200 oder auch 800 Jahren von dannen gezogen waren, aber ihr »Deutschtum« angeblich weitervererbten.

Wie man Volksdeutscher wird bzw. bleibt, regelten bis 1993, als die unbeschränkte »Vererbbarkeit« dieses Rechtstitels eingeschränkt wurde, die Gesetze vom 22.2.1955 und 23.10.1961. Danach gilt als »deutscher Volkszugehöriger«, wer »sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.« Diese Definition des »Volksdeutschen« übernahm das letzte Gesetz wörtlich aus dem Runderlass des Reichsministers des Innern – Wilhelm Frick – vom 29.3.1939. Das Gesetz entstand, als in Bonn noch die Vertriebenenverbände die Gesetzestexte formulierten. Nach dem Krieg wollten Balten ihr »Bekenntnis zum deutschen Volkstum« damit belegen, dass sie auf ihre SS-Zugehörigkeit hinwiesen. In anderen Landstrichen, z. B. an der Wolga, spielte den Menschen die bloße Tatsache, dass ihre Vorfahren irgendwann aus einem deutschen Teilstaat eingewandert waren, übel mit. Die Bundesrepublik kann ihre Solidarität mit dem Schicksal dieser Menschen auf verschiedene Weise unter Beweis stellen, aber um eine Totalrevision des antiquierten blutsrechtlichen Staatsbürgerrechts kommt sie je länger je weniger herum.

5 Anfänge der Ökologiebewegung

Zu den Büchern, die die aufkommende Ökologiebewegung der 60er und 70er Jahre stark beeinflussten, gehört der 1962 erschienene, weltweit verbreitete Bestseller von Rachel L. Carson (1907-1964) mit dem Titel »Der stumme Frühling«. Aus Anlass des 100. Geburtstags der Autorin hatte der Münchener Verlag C. H. Beck das Buch erneut aufgelegt. Die ehemalige Beamtin in der amerikanischen Verwaltung für das Fischereiwesen und spätere Sachbuchautorin wies auf die dramatischen Gefahren hin, die zuerst der Vogel- und Insektenwelt, dann der gesamten Umwelt drohten, wenn in der industriellen Landwirtschaft weiterhin so viele Pestizide – insbesondere DDT – verwendet würden. Die Autorin verband Wissenschaft mit dem politischen Protest gegen Umweltverschmutzung und fast poetischer Naturbewunderung und schuf damit so etwas wie den intellektuellen Kern des modernen Umweltbewusstseins.

Schon 1957 forderte der konservative Journalist Bertrand de Jouvenel: »Die politische Ökonomie müsste politische Ökologie werden.« Der französische Biologe Jean Dorst legte mit dem Buch »Natur in Gefahr« (1965) erstmals umfassend dar, in welchem Ausmaß und mit welcher Beschleunigung das natürliche Gleichgewicht durch agro-industrielle und andere Eingriffe gestört und zerstört wurde. Das Buch wurde in Frankreich mehr beachtet als anderswo. Serge Moscovicis »Versuch über die menschliche Geschichte der Natur« erklärte »das Problem der Natur« bereits 1968 als das vordringlichste des Jahrhunderts und verknüpfte die Kritik der Gesellschaft mit der Kritik von deren »Verhältnis zur Natur und der Tätigkeit des Menschen zur Konstituierung beider«. Eine vergleichbare intellektuelle Sensibilisierung für ökologische Fragen ist im deutschen Sprachraum erst nach der Veröffentlichung des ersten Berichts des Club of Rome (1972) und nach der ersten Ölkrise 1973/74 festzustellen.

Einem hartnäckigen Vorurteil zufolge haben die schweizerischen und die deutschen Grünen den Umweltschutz ebenso »erfunden« wie die Ökologiebewegungen. Das ist falsch. Diese Bewegungen haben intellektuell einen soliden cartesianisch-kritischen Kern und als politische Basis einen sicheren Halt in der französischen Tradition rebellischen zivilen Ungehorsams. Ökologisch begründete Gesellschaftskritik, Proteste und Demonstrationen von Umweltschützern sind französischer Herkunft.

Die erste Demonstration gegen ein Kernkraftwerk fand am 12.4.1971 in Fessenheim im Elsass statt. Und während das Wort »protection de l’environnement« im Französischen seit Mitte der 50er Jahre gebräuchlich ist, empfand die FAZ »das Wort Umweltschutz« noch am 22.11.1969 als »bis vor kurzem noch befremdlich klingend«. Stärker als anderswo zehrten die französischen Umweltbewegungen von Ende der 60er bis Ende der 70er Jahre von der Aufbruchstimmung, die die Studentenbewegung erzeugt hatte. Während die emanzipatorischen Energien der deutschen Studentenbewegung nach 1969 in den leninistisch-maoistisch-kommunistischen Grüppchen der selbsternannten proletarischen Avantgarden platt gewalzt wurden, sammelten sich viele französische Studenten der Protestgeneration in ökologisch orientierten Initiativen, Alternativprojekten, Landkommunen und anderen Arbeits- und Lebensgemeinschaften. Die Studentin Alice Monier und ihr mittlerweile weltweit bekannter Lebensgefährte José Bové besetzten Anfang der 70er Jahre auf dem Felsplateau von Larzac ein leerstehendes Bauernhaus und kämpften dort zusammen mit den legendären 103 Roquefort-Bauern zehn Jahre lang um Land, Wasser und Strom. Dieser gewaltfreie Widerstand gegen die Erweiterung eines Truppenübungsplatzes wurde über Frankreich hinaus zum Symbol der Umweltbewegungen. Die Bauern trotzten dem Staat schließlich einen Erbpachtvertrag ab, der ihnen die selbstverwaltete, kollektive Nutzung des Bodens erlaubt. Heute ist Bové Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen im April und wehrt sich gegen Versuche mit genetisch manipuliertem Mais und gegen »la malbouffe«, den »Saufraß« der internationalen Fast-Food-Industrie.

Bereits 1962 gab es in Frankreich eine Kampagne unter dem Slogan »Die Umweltverschmutzer an den Pranger«. Zuweilen nahmen solche Aktionen skurrile Züge an. 1970 stand das »Europäische Jahr zum Schutz der Natur« ins Haus. Auch im Département Alpes-Maritimes wollte man etwas dazu beitragen. Kinder sollten als »Freiwillige« die Landschaft reinigen. Das dafür vorgesehene, von Abfällen übersäte Gelände lag in der Nähe einer Kaserne. Deren Kommandant bekam Wind von der Aktion und fürchtete um den Ruf der Armee. Er ließ seine Soldaten das Gebiet säubern. Als dies der Präfekt erfuhr, mussten die Soldaten den Abfall wieder in der Landschaft verteilen, damit der geplante Reinigungstag mit den Kindern – in Anwesenheit von Politikern, Kamerateams und Presse – nicht platzte.

Die französischen Ökologiebewegungen blieben zunächst lokal orientiert. Eine lockere Koordination ergab sich aber schon bei der Unterschriftenkampagne, mit der 1969 die Zerstörung des Nationalparks La Vanoise verhindert wurde. Ein Jahr später begann – zuerst nur im Elsass – der Kampf gegen die Errichtung von Atomkraftwerken. Der Protest organisierte sich auch an anderen Orten, wurde aber zunehmend von überregional tätigen Umweltschutzgruppen mitgetragen und verbreitet – zum Beispiel von der 1970 nach amerikanischem Vorbild gegründeten Gruppe »Amis de la Terre« oder von Solidaritätserklärungen prominenter Wissenschaftler und Intellektueller. Bereits im Juli 1971 mobilisierten die verschiedenen Bewegungen 15 000 Demonstranten gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Saint-Vulbas (Département Ain), das im Jargon der Technokraten »Bugey 01« hieß und das die Ökologiebewegungen »Bugey-Cobayes« (»Bugey-Versuchskaninchen«) tauften, weil damals wie heute Fragen der Betriebssicherheit sowie der Entsorgung und Endlagerung der strahlenden Abfälle unzureichend oder gar nicht geklärt waren.

Angetrieben wurden die Bewegungen von Pierre Prémilieu und vor allem von Pierre Fournier, einer Schlüsselfigur der aus der Studentenbewegung entstandenen ökologischen Linken in Frankreich. Er plädierte für »die radikale und globale Unterminierung einer verstümmelnden und selbstmörderischen Gesellschaft« im Namen eines »Wechsels der Lebensweise«. Die Chancen dafür lagen bei jedem Einzelnen: »Man kann die Gesellschaft nicht mehr ändern, ohne sein Leben zu ändern.« Für ihn und seine Mitstreiter lag »die Utopie in den Gegebenheiten verborgen und nirgendwo anders«. Fournier wollte sich denn auch nicht an den Rand der Gesellschaft aufs Land zurückziehen, sondern »die Massen sensibilisieren« und »Herrn Jedermann verständlich machen, dass er seine Haut nur retten wird, wenn sich sein Leben verändert.« Fournier vermied alles, »was nach Personenkult hätte aussehen können« (Wolfgang Hertle), aber sein früher Tod 1973 – im Alter von 35 Jahren – entriss den Ökologiebewegungen einen furiosen politischen Kopf.

Fournier hatte 1969 die Zeitschrift »Hara-Kiri Hebdo« gegründet, die seit dem Verbot 1971 unter dem Titel »Charlie Hebdo« weiter erscheint. Im gleichen Jahr entstanden die Zeitschrift »Combat non violent« (»Gewaltfreier Kampf«) und eine auf ökologische Themen spezialisierte Presseagentur. Im November 1972 schuf er die Zeitschrift »La gueule ouverte« (»Die offene Klappe«), die eine Zeitlang mit dem Untertitel »Le journal qui annonce la fin du monde« (»Die Zeitschrift, die den Weltuntergang ankündigt«) kokettierte. Der Untertitel war halb satirisch, halb ernst gemeint. Das Blatt erreichte in kurzer Zeit eine Auflage von 70 000 Exemplaren. Ein weiteres wichtiges Organ erschien ab April 1973 monatlich als Beilage zum »Nouvel Observateur« unter dem Titel »Le Sauvage« (»Der Wilde«). Es wurde geleitet von Alain Hervé, dem Gründer von »Amis de la Terre«. Zu den wichtigsten Kolumnisten gehörte der Sozialist André Gorz, der hier unter dem Namen Michel Bosquet ökologische Fragen aus linker Perspektive diskutierte und den »Ökologismus« als »Revolte der Bürgergesellschaft« gegen die Bevormundung durch den Staat und die starken wirtschaftlichen Interessenten definierte. Wie bei Fournier gehörte auch bei Gorz/Bosquet das Utopische programmatisch zum Wirklichen und fundamentale Gesellschaftskritik zur Ökologie: »Wir können besser leben und dabei weniger konsumieren und arbeiten, aber anders.« Erst 1977/78 wurden diese Texte in der von Freimut Duve geprägten Reihe rororo aktuell den deutschen Lesern zugänglich gemacht.

Die Jahre 1971/72 verhalfen den französischen Umweltbewegungen zu einem unerhörten Aufschwung und zu europaweiter Ausstrahlung. Ökologisch motivierter Protest formierte sich jedoch nicht nur auf dem Land und an Kraftwerk-Standorten, sondern auch in der Metropole. Im April 1972 – also eineinhalb Jahre vor dem Öl- und Benzinpreisschock vom Oktober 1973 – demonstrierten in Paris 10 000 Fahrradfahrer gegen die Verkehrs- und Energiepolitik. Einem entsprechenden Aufruf in Berlin folgten damals ganze 100 Leute.

Bei den Präsidentschaftswahlen 1974 einigte sich ein erheblicher Teil der Umweltgruppen darauf, einen eigenen Kandidaten zu präsentieren. Der damals Siebzigjährige Agronom René Dumont (1904-2001) erreichte zwar nur 1,32 Prozent oder 337 000 Stimmen, aber er machte durch sein Charisma und seine Anerkennung als Wissenschaftler ökologische Probleme in einem bislang unbekannten Ausmaß bekannt. Er trug bei seinen Auftritten nicht nur den legendären roten Rollkragenpullover, er verkörperte glaubhaft die Vision einer linken politischen Ökologie, die weit über den herkömmlichen Umwelt- und Naturschutz hinauswies: »Die politischen Bedingungen für einen wirklichen Wandel beginnen in Frankreich damit, dass die Interessierten selbst alle Probleme, die sie betreffen, in die Hand nehmen: Bildung, Selbstverwaltung von Unternehmen und Städten, Arbeitskämpfe, Kampf um die Lebensqualität.« Nach Dumonts Wahlkampf unter der Devise »Utopie oder Tod« rückte bei einer Mehrheit der Franzosen die Sorge um die Umweltverschmutzung erstmals an die erste Stelle der brennendsten Probleme – also vor Arbeitslosigkeit, Preisspirale und Armut. Im »Programme commun« (1972) von Sozialisten und Kommunisten beanspruchten Umweltprobleme eine einzige von 192 Seiten. Bei den Regierungsparteien sah es ähnlich aus.

 

1974 verbündeten sich Atomkraftgegner aus Frankreich, Baden und der Schweiz in ihrem Kampf gegen die am Rhein geplanten Kraftwerkprojekte in Fessenheim, Wyhl und Kaiseraugst. Im Elsass nahm die Bewegung gegen das in Marckholsheim geplante Chemiewerk den Charakter eines regionalen Aufstands an. Nach mehrwöchiger Besetzung des Bauplatzes wurde das Projekt fallen gelassen. Während die Sensibilität der Franzosen für Umweltprobleme zwischen 1971 und 1977 ständig stieg, sank die Zustimmung zur Nuklearenergie im gleichen Zeitraum um 34 Prozentpunkte.

»Der Kreuzzug nach Malville« östlich von Lyon, wo seit 1975 der schnelle Brüter »Superphénix« gebaut wurde, bildete den Höhepunkt und zugleich das vorläufige Ende der Protestwelle der 70er Jahre in Frankreich, denn ein Jahr nach der spektakulären Demonstration am 31.7.1977 ließ sich »keine einzige bedeutende Aktion der Protestbewegung ausmachen« (Alain Touraine). An jenem regnerischen Sommertag versammelten sich rund 60 000 Atomkraftgegner aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz rund um Malville. Sie wurden von der französischen Polizei mit äußerster Härte zurückgedrängt. Der Physiklehrer Vital Michalon kam bei diesen Auseinandersetzungen ums Leben, mehrere Demonstranten und Polizisten wurden erheblich verletzt. Der Superphénix lieferte nur während zehn Monaten Strom, kostete etwa 20 Milliarden Franken und wird nun mit großem Aufwand definitiv stillgelegt.

Die teilweise hysterische Reaktion der Öffentlichkeit auf die möglichen Auswirkungen der Öl- und Benzinpreiskrise erleichterte die »zivile Nuklearisierung der Energieversorgung« (Guillaume Sainteny) und stabilisierte deren bröckelnde Akzeptanz bei den Bürgern. Die Ökologiebewegungen gerieten Ende der 70er Jahre in die Defensive und rieben sich in Fraktionskämpfen auf. André Gorz warnte die Ökologiebewegungen vor dem »Eindimensionalwerden« als Parteien, die »nicht mehr Protest, Revolte und Unzufriedenheit jeglicher Art politisch übersetzen«, sondern nur noch »die Staatsmacht« bzw. Regierungsbeteiligung im Auge haben. Gorz’ Absage an vermeintliche Real- und die Parteipolitik überhaupt war kein Ausdruck von »Apolitismus, sondern die Weigerung, die Freiheit des Ausdrucks, des Protests und der Phantasie den Erfordernissen der Machtlogik unterzuordnen.«