Die Zeit ohne uns

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»Bitte lassen Sie mich an der nächsten Ecke raus ... ja, genau hier. Sie müssen Victor nicht auf die Nase binden, dass Sie vor dem Hotel gehalten haben, nicht wahr?«

Aaron überquert die Straße. Zwei Portiers sind eigens dafür da, immerfort Gäste durch die hohen Eingangstüren hinein- und hinauszulassen. Er findet sich in der riesigen Eingangshalle des »Excelsior« wieder. Der Fußboden ist aus weißem Marmor, darüber liegen wertvolle persische Teppiche, die Wände sind mit rotem Samt bespannt, ein großer Kronleuchter hängt von der Decke. Eine Gruppe Japaner hat sich am munter plätschernden Springbrunnen niedergelassen. Blumenarrangements in großen Töpfen, Palmen, wie selbstverständlich, in riesigen Terrakottagefäßen.

Aaron durchschreitet die Lobby. Der Champagner hat ihn ein wenig beschwipst. Manchmal wundert es ihn, wie selbstverständlich er sich hier bewegt. Der Raum ist wie elektrisiert. Zigarettenrauch vermischt sich mit sehnsuchtsvollem Atem und verstohlenen Blicken. Männer in teuren Anzügen und mit kostbaren Accessoires ausgestattet suchen mit halb geöffneten Augen nach jungen Frauen oder noch jüngeren Knaben, welche ihre Begierden stillen könnten. Manch einer wird fündig. Hier muss niemand um den Preis feilschen. Die Herren wissen, was sich gehört, dennoch verhalten sie sich vorsichtig, denn Denunziation ist immer möglich, obwohl in diesem Haus so gut wie ausgeschlossen. Das Hotel ist berühmt für seine Diskretion.

Die schwere, in Bronze gefasste Milchglastür führt zur Bar. Aaron zieht seinen Mantel aus und ein Junge mit manikürten Nägeln ist zur Stelle, um ihn ihm abzunehmen. Mit einem angedeuteten Nicken setzt er sich auf einen mit braunem Leder bezogenen Barhocker. Der Barkeeper ist dezent geschminkt, seine atemberaubend schwarzen, dichten Wimpern bewegen sich im Zeitlupentempo, das weiße Oberhemd wirkt wie leicht über einen gut gebauten Körper geworfen, die graugestreifte Weste und die ausgezeichnet sitzende schwarze Hose bilden einen schönen Abschluss. Er serviert Aaron einen Dom Pérignon mit einem lächelnden Zwinkern. Kerzen brennen in Lüstern, Salzgebäck liegt in silbernen Schalen auf dem Tresen. Luxus in seiner schönsten Form umgibt den Gast.

Aaron gleitet neben Edgar, einem etwas behäbigen Mann in seinen Vierzigern. Die Anzugweste spannt leicht über seinem Bauch, aber für den neuesten Klatsch setzt sich Aaron trotzdem immer gerne zu ihm.

»Stell dir vor, Marlene war in Begleitung hier, sie wird leider immer dicker, irgendwann hört es auf, schön zu sein, aber auf mich hört ja keiner. Das Kleid, das sie trug, hättest du sehen sollen.« Edgar tupft sich mit einem lindgrünen Einstecktuch den Schweiß von der Stirn.

»Wie hieß er?« Aaron nippt an seinem langstieligen Glas.

»Oh, du verstehst nicht, es war kein Er.«

»Du meinst, sie ist doch ein Biest? Was Rudi wohl dazu sagt?«

»Wie immer nichts, soweit ich weiß, tröstet er sich natürlich mit einer Schauspielerin. Sie stammt aus Russland. Tamara so heißt sie kümmert sich offiziell um das Kind. Du siehst, alles ist ganz normal. Möchtest du noch einen Dom? Wann wollen wir uns eigentlich mal wieder näherkommen?«

Edgar hat so viel Erotik, wie es ihm möglich war, in seine Stimme gelegt und hofft auf ein Aufwärmen der vergangenen Affäre.

»Ja, setz es auf die 27, und bitte, wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Ich muss gleich hoch, mein Kunde wartet.«

Aaron schlendert zum Empfang.

»Guten Abend!«

»Generaldirektor Köhler erwartet mich. Würden Sie mich bitte anmelden?«

»Sehr gerne, wen darf ich melden?«

»Einfach nur Aaron, dann weiß der Herr schon Bescheid.«

Die Aufzugtüren öffnen sich wie von Geisterhand. Ein neuer Liftboy mit linkischem Lächeln begrüßt den Gast. Die beiden schauen sich stumm an. Schnell sind sie in der zweiten Etage angekommen, geräuschlos wird die Tür vom Aufzug geöffnet. Suite 27. Die Tür ist nur angelehnt, auf einem zierlichen Stuhl sitzt ein übergewichtiger Mann, der nur Unterwäsche trägt. Die beiden verlieren keine Worte. Die Einzelheiten sind vor Urzeiten besprochen worden, es ist immer der gleiche Ablauf. Die Reituniform liegt im Bad auf einem Hocker, darauf wiederum liegt die Gerte. Die schwarzen, blank geputzten Lederstiefel stehen neben dem Hocker. Das Geld steckt im Zahnputzbecher. Geräusche aus dem Schlafzimmer deuten darauf hin, dass der Kunde sich eine Zigarette anzündet. Mit einem Peitschenhieb in die Luft betritt Aaron das Schlafzimmer der geräumigen, im englischen Stil gehaltenen Suite. Der Kunde zuckt zusammen.

»Habe ich dir erlaubt zu rauchen?«

Dem Nackten wird die Zigarette aus dem Mund geschlagen. Hastig wird die angebrannte Kippe vom Kunden entsorgt.

»Nicht nur, dass der große Junge ungehorsam war, er hat wohl auch seine Hausaufgaben nicht ordentlich gemacht!«

Aaron blättert in einem Schulheft, zählt Fehler auf, kritisiert das Gekritzel. Mit einem roten Stift werden die falsch geschriebenen Worte unterstrichen.

»Ich wollte es ja, aber ich bin doch ein dummer Junge, außerdem hatte ich noch andere Aufgaben zu erledigen ...«

»Halt den Mund!«

Der Kunde kniet vor dem Bett, sein Oberkörper liegt bewegungslos auf den weichen Daunen. Die Reitgerte wird durch die Luft gezogen. Ein Schrei wird noch in den Kissen erstickt, aber je öfter die Gerte trifft, umso verzweifelter sucht der Schmerz, sich lautstark zu äußern.

Nach getaner Arbeit liegt der Kunde regungslos auf dem Bett, er jammert, doch Aaron hat sich schon wieder umgezogen. Die beiden vereinbaren einen neuen Termin, der in den jeweiligen Kalender eingetragen wird. Ein letzter ungnädiger Blick. Sein Kunde lässt sich auf den Fußboden gleiten, kauert in Embryohaltung auf dem Teppich, rappelt sich auf und kniet demütig mit gesenktem Kopf zu Aarons Füßen. Erst wenn der Herr das Zimmer verlassen hat, darf das devote Objekt aufstehen.

Aaron stößt die Kneipentür auf, lässt sich zwei mit Bier gefüllte Krüge geben. Vorsichtig balanciert er damit die vier Treppen des Hinterhauses herauf.

»Mutti, bist du noch wach? Schau mal, ich hab was Leckeres mitgebracht.«

Seine Mutter sitzt auf dem alten Sofa und stopft die Socken seiner Geschwister. Alt ist sie und grauhaarig, kaum mehr als einen Meter sechzig groß. Ihre Augen muss sie anstrengen, um den Faden durch das Nadelöhr zu bekommen. Sieben Kindern hat sie das Leben geschenkt, eine Totgeburt war dabei, zwei sind im Kindbett gestorben. Ihr Mann ist bei Bauarbeiten vom Gerüst gefallen. Die Frage, ob seine Mutter je schön war, kann Aaron gar nicht beantworten, ihre Haare sind dünn, zu einem kleinen Knoten im Nacken zusammengezwirbelt und sie trägt alte, abgewetzte Kleider. Die Nägel ihrer Finger sind vom vielen Putzen schmutzig und brüchig. Zärtlichkeit empfindet er für sie selten.

»Hier, nimm einen Schluck, wir haben zu feiern. Die besten Dekorateure haben eine Prämie bekommen und ich gehöre natürlich dazu. Wir mussten ein Schaufenster zu einem bestimmten Thema dekorieren. Meine Aufgabe war ›Sonnenuntergang am Meer‹.«

»Ach Junge, wo treibst du dich nur immer herum, erzählst Geschichten, machst die Nacht zum Tag. Du streunst herum und lässt mich im Ungewissen. Nie weiß ich, ob ich mir Sorgen machen muss oder ob ich mich beruhigt zurücklehnen kann.«

»Aber Muttchen, es ist alles in Ordnung. Schau mich an! Sieht so ein Herumstreuner aus?«

»Die Annerose fragt immer nach dir, du weißt schon, die Tochter von der Lehmann aus dem Vorderhaus. Also, die arbeitet bei der Post an der Kasse. Nicht schlecht, oder? Kannst du nicht mal mit ihr zum Tanzen gehen? Die ist doch was Reelles.«

Aaron zieht seine Mutter vom Sofa, tanzt mit ihr über den Holzdielenboden und singt:

»Am Abend möcht’ ich mit meinem Liebsten segeln gehen, sofern die Winde weh’n.«

Er schmettert laut, will nichts von Annerose hören, will nur eines, kann nichts sagen.

»Mutti, lass uns trinken, so jung wie heute kommen wir nicht mehr zusammen.«

»Der Krause hat wieder geklingelt, wegen der Miete, erhöht hat er sie auch noch. Was soll ich dem nur sagen? Es reicht doch vorn und hinten nicht. Scheißsystem, wenn die Kommunisten dran wären, dann sähe vieles anders aus, das kannst du mir glauben. Demokratie! Wenn ich das schon höre!«

»Mutti, hör auf, ich hab keine Lust, über Politik zu quatschen. Ist doch alles in Ordnung. Hier ...«, Aaron drückt ein Bündel Geldscheine in ihre Hände, »damit kannst du die Miete bezahlen.«

»Junge, du sollst doch nicht immer ... Hast du genug gegessen oder es wieder mal vergessen? Du fällst noch mal vom Fleisch ... komm, ich mach dir eine Stulle, Schmalz magst du doch gerne.« Frau Rosenbaum holt ein Brot aus dem Brotkasten, schneidet eine dicke Scheibe vom Laib.

»Mutti, ich werde aus dir nicht schlau. Jüdische Kommunistin, wie passt das zusammen?« Aaron hat sich an den Küchentisch gesetzt, schaut seiner Mutter zu, wie sie die Stulle mit Schmalz bestreicht.

»Und du, Junge, was bist du eigentlich? Arbeitest im KaDeWe. Dein Vater hätte das verurteilt.«

Aaron bekommt die Stulle auf den Tisch geknallt. »Maurermeister war er, wie schön das klingt.«

Frau Rosenberg setzt sich zu Aaron, sie schauen sich an. Aaron weiß, wie sehr seine Mutter den Vater vermisst. Sie wirkt zart, zerbrechlich, wenn sie in Gedanken bei ihm ist, so wie jetzt.

Abrupt ändert sich ihr Gesichtsausdruck, die harten Züge treten wieder hervor. »Aber nein, mein Sohn ist ja was Besseres, will sich nicht die Hände schmutzig machen, ist ja auch peinlich, wenn ich gefragt werde: Was macht eigentlich dein Ältester? Nee, wirklich, Aaron, schön ist das nicht.«

Sie macht eine Handbewegung, als wolle sie eine Fliege vor ihrem Gesicht vertreiben. Aaron beißt herzhaft in seine Schmalzstulle, beide wissen, dass er sich nicht zum Kommunisten eignet.

 

»Mutti, jetzt hat es endlich geklappt, ich wurde als Statist bei der Ufa aufgenommen. Ich habe aber auch nicht lockergelassen, also haben die von mir eine Karteikarte angelegt. Die wollen, dass ich den südländischen Typ verkörpere.« Aaron lächelt, zeigt seine weißen Zähne, als würde er für eine Zahnpasta Reklame machen. »Irgendwann ziehen wir in eine große Wohnung mit eigenem Bad, und lassen das Hinterhaus und Außenklo hinter uns. Gib zu, das würde dir auch gefallen.«

»Du kommst mit den immer gleichen Flausen im Kopf an, wie oft soll ich mir diese Litanei noch anhören? Geh jetzt schlafen. Morgen gibt es Bouletten mit Kartoffelsalat, außerdem müssen noch Kohlen hochgeholt werden.«

Der Sonntag zeigt sich von seiner schönsten Seite. Und auch Aaron selbst fühlt sich schön in seiner neuen Garderobe, die ihn weltmännisch aussehen lässt. Er trägt den angesagten American-Street-Style. Ein weißes Hemd mit einer braun-gelb diagonal gestreiften Krawatte, darüber eine graue Weste, das passende Sakko ist selbstverständlich. Eine weiße Kniebundhose, lange weiße Strümpfe, und dazu hochwertige Lederschuhe mit einer dunkel abgesetzten Kappe vollenden das Bild. Die Sonne wärmt, ohne zu brennen, der Ku’damm ist belebt wie immer, doch weder das Knattern der Autos noch das Getrappel der Pferdedroschken stören. All dies wird zur grotesken Hintergrundmusik in einem neuen Stück von Aaron Rosenbaum. Oh nein, diesmal ist es keine Fantasie. Er ist viel zu früh dran, schiebt sein Rad über den Bürgersteig. Wie werden sie den Tag verbringen? Was er wohl beruflich macht, werden sie sich unterhalten können? Man kann sich ja nicht gleich auf das Wesentliche stürzen. Seine Jacke ist ein bisschen zu groß, leicht abgewetzt, die Haare etwas lang. Aaron weiß, dass Herbert für den Massengeschmack zu kräftig ist, doch genau das zieht ihn an. Er will sich geborgen fühlen in starken Armen. Sein Herz schlägt schneller. Endlich mal von einem gehalten werden und nicht immer nur bedienen müssen. Noch eine Wurst und ein Bier. Vor der Wurstbude stellt er sein Rad ab.

»Bitte eine im Darm und ein Pils.«

Die Wurst knackt beim Reinbeißen, heiße Wassertropfen entweichen dem Darm. Das Bier löscht den Durst.

Er hat die Wohnung gar nicht schnell genug verlassen können. Der Dreikäsehoch stellte sich ihm in den Weg. »Ari, nimm mich mit, bitte!« Mit einem »Ich bring dir etwas Süßes mit« bahnte er sich den Weg aus der Wohnung. Der Kleine hatte den Vati nie kennengelernt. Aaron versucht, ein bisschen Vorbild für die Geschwister zu sein, merkt aber, dass er dazu kaum taugt. Kleine Wünsche kann er erfüllen. Mutti fragt schon lange nicht mehr nach, woher das Geld wohl kommen mag. Halb drei, nein, er will auf keinen Fall vor der verabredeten Zeit da sein, wie sähe das denn aus? An eine Litfaßsäule gelehnt auf sein Rendezvous warten? Unmöglich. Vor dem KaDeWe Schaufensterpuppen in grellen Farben. Spiegel reflektieren, Menschen flanieren, die Zeit steht still. Die Uhr der Gedächtniskirche lacht ihn aus. Die Zeitungsjungen glauben, Wichtiges vermelden zu müssen. Einsamkeit in ihm, und das hier, auf dem Ku’damm. Nie hatte er einen festen Freund, kaum einer hielt es bei ihm für längere Zeit aus, zu verrückt, auch zu sprunghaft war er, forderte Toleranz. Viele waren überfordert mit seiner Art, sich selbstbewusst zu präsentieren. Sein Leben ist ein Abenteuer, und er genießt es in vollen Zügen. Einer wie er kann nie genug bekommen. Ihm wird viel geboten, doch er will immer mehr und noch mehr, pickt sich die Rosinen aus. Liebhaber, Kunden, Anzüge, teure Seidenhemden, elegante Handschuhe, Manschettenknöpfe, Fahrrad, Budapester Schuhe, einen Siegelring, goldene Armbanduhr, Firlefanz und was es sonst noch so gibt. Seine Liste ist lang, ein Auto steht auch noch drauf. Die Zeiger der Uhren um ihn herum schieben ihn in Seitenstraßen, lassen ihn schleichen, im Kreis gehen, rückwärts trippeln, Fratzen ziehen, auf die Straße spucken.

Endlich Viertel vier. Er sollte ihn noch länger warten lassen, kann es aber selbst kaum mehr aushalten. Da steht er, an eine Hauswand gelehnt. Aarons Herz rast, seine rechte Hand in der Hosentasche ist schweißnass. Hinlaufen möchte er, sich in seine Arme werfen, von ihm hochgehoben werden. Nichts dergleichen geschieht. Angewurzelt bleibt er vor ihm stehen. Schüchternheit durchzieht jede Faser seines Körpers. Hoffen, dass er sie ihm nimmt. Nach Worten suchen, den trockenen Hals verfluchen. Seine schöne, tiefe Stimme hören: »Ich dachte, Sie kommen gar nicht mehr.« Ein unsicheres Lächeln sehen, fühlen, dass er sich auf ihn freut.

Die beiden betreten das Café, es ist mäßig besucht. Pärchen und einzelne Herren sitzen auf grün gepolsterten Stühlen. Das gedimmte Licht schmeichelt, lässt niemanden lächerlich erscheinen. Ein Mann am Klavier spielt amerikanische Schlager. Kellner sind bemüht, die Gäste zufriedenzustellen. Aaron ist bekannt hier. »Hallo, junger Mann«, begrüßt der Kellner ihn und schenkt seinem Begleiter ein Lächeln. Die Bestellung wird aufgenommen. Zwei Kännchen Kaffee, ein Weinbrand und ein Eierlikör, zwei Erdbeerkuchen mit Sahne werden serviert. Sie unterhalten sich ohne peinliches Schweigen. Herbert erzählt von seinem Studium, davon, dass er mit viel Eifer Russisch lernt, von der Agitproptruppe »Rotes Sprachrohr«.

»Du musst dir das so vorstellen: Wir sind keine der üblichen Theatergruppen, unsere Maxime heißt: ›Theater für Arbeiter‹, bei uns steht die politische Überzeugung im Vordergrund. Außerdem versuchen wir uns auch in anderen Formen, zum Beispiel Pantomime, Gedichte, Lieder und Sprechchöre. So kann man nämlich Menschen besser erreichen, auch jene, die zu den Zurückhaltenden gehören. Wir müssen alle Arbeiter mobilisieren, damit sich etwas ändert, weißt du?«

Herberts Augen funkeln vor Begeisterung und Aaron ist ganz gefesselt von seinen Ausführungen, hängt an seinen Lippen. Der Kaffee wird kalt. Likör und Weinbrand werden nachbestellt, unter dem Tisch streifen sich ihre Knie. Erste Küsse werden ausgetauscht. Die beiden schauen sich tief in die Augen. Ihre Hände greifen ineinander. Hier müssen Männer, die sich begehren, nichts befürchten. Aaron löst sich aus Herberts Händen und greift in sein Zigarettenetui, Herbert zaubert in Windeseile Streichhölzer aus seiner Hosentasche und entzündet eines davon. Aaron zieht an seiner Zigarette und bläst mit dem blauen Dunst das Zündholz aus. Die beiden Gesichter nähern sich an, sie sind sich so nah, dass sie einander riechen können. Herbert nimmt Aaron die Zigarette aus der Hand, drückt sie aus, will küssen, ohne zu denken. Aaron schaut der Zigarette hinterher, schaut hoch, betrachtet das Gesicht von einem wunderschönen Mann, wie gerne würde er denken: von meinem Mann, es sagen, fühlen bis in alle Ewigkeit. Und wieder treffen sich weiche, zarte, fordernde Lippen. Es ist, als müsste Aaron Luft holen, um einen klaren Kopf zu bekommen und erzählt Herbert einen Traum von ihm.

»Ich bin bei der Ufa Statist, man könnte sagen, wir sind Kollegen.«

Herbert runzelt die Stirn, »Na, ich glaub’, das kann man nicht unbedingt vergleichen ...«, lacht dann, holt tief Luft, als würde er im nächsten Moment die Kerzen einer Geburtstagstorte ausblasen wollen. Er ist aufgeregt, reibt sich die Hände unter dem Tisch an den Hosenbeinen trocken.

Aaron ist ganz hingerissen von dem schönen Hünen, und legt seine Hände auf den Tisch, sodass Herbert seine hineinlegen kann, dabei rollt Aaron verschmitzt die Augen und lächelt sein Gegenüber an: »Also gut ... Ich wohne im Wedding, habe drei jüngere Geschwister, rauche amerikanische Zigaretten, interessiere mich für Automobile, und für einen großen blonden jungen Mann ...«, lächelt Aaron, »so ... das reicht für den Anfang. Natürlich möchte ich auch von dir alles wissen.« Die beiden strecken ihre Köpfe, küssen sich lange und zärtlich dabei.

»Ich bin Rucksack-Berliner ...«, Herbert in Aufregung, »und komme aus Hohenfinow, das Kaff liegt etwa 60 Kilometer nordöstlich von Berlin entfernt ... dass ich in Berlin besser aufgehoben bin, kannst du dir sicher denken.« Er lächelt, schaut Aaron tief in die Augen, »und ich denke dabei nicht nur an mein Studium ...« Der Satz wird mit einem zärtlichen Kuss beendet.

Der Kellner wird herbeigewunken, die Rechnung beglichen. Der Alkohol ist den beiden zu Kopf gestiegen. Albernheit macht sich breit, sie kichern, schauen sich unentwegt an.

Draußen steht das Fahrrad zwischen zwei sich begehrenden Körpern.

»Wohin?«

»Wannsee?«

Aaron drückt Herbert das Rad in die Hände, dieser übernimmt, setzt sich auf den Sattel und fährt eiernd los. Aaron springt auf den Gepäckträger, beinahe wären sie mit dem Rad umgekippt.

Der See liegt ruhig. Familien verbringen ihren freien Sonntag hier, denken dabei nicht an das Morgen. Der Alltag ist weit weg, nur der Moment zählt. Zwei junge Männer in einem Ruderboot, Herbert hält die Ruder. Aaron sitzt ihm gegenüber. Solange die beiden sich in Sichtweise der Ausflügler befinden, halten sie sich zurück.

Die Zeit vergeht, ohne dass sie das Boot verlassen wollen. Sie liegen unbequem in einer Nussschale. Hemden sind längst ausgezogen, Haut berührt sich. Lippen, Zunge, Hände sind neugierig, erregt. Stöhnen wird unterdrückt. Leidenschaft überflutet die beiden. Schweißperlen rinnen von der Stirn, Rücken, Brust und Hände sind schweißnass. Hosen kleben am Hintern, an den Beinen.

»Noch nicht alles am ersten Tag«, bittet Herbert. Wie soll er sagen, dass er erst zweimal so weit gegangen ist? Wird Aaron verstehen, dass er Zeit braucht, weil es dieses Mal so ganz anders ist als mit den anderen beiden? Da war nichts mit pochendem Herzen. Aaron scheint so erfahren, weiß sicherlich alles über die große Liebe zwischen zwei Männern.

»Was ist los, mein Herz? Wo bist du in Gedanken? Ich merke doch, dass dich etwas beschäftigt.«

»Ich will das nicht hier in aller Öffentlichkeit. Das sollte doch nur uns beiden gehören.«

Ein Lächeln breitet sich auf Aarons Gesicht aus, er nimmt Herbert in die Arme, weiche, volle Lippen küssen sich.

»Lass uns zurückrudern.«

Die zwei machen sich auf den Weg, Aarons Hand liegt auf Herberts Schulter. Unentwegt schauen sie sich an, bleiben zwischendurch stehen, um sich hinter einem Baum zu küssen.

»Wo musst du hin, mit welcher Linie fährst du?«, fragt Aaron.

»Mit dem 77er, nach Charlottenburg. Ich wohne bei meiner Tante Klara.«

»In Ordnung, dann fahren wir zur nächsten Haltestelle. Der Bus kommt in zwanzig Minuten. Es bleibt noch ein wenig Zeit.«

»Wann sehen wir uns wieder, Aaron?«

»Tja, leider bin ich immer so beschäftigt mit meinen Berufen. Lass mal überlegen, Donnerstag kannst du mich abholen, ja?«

»Was meinst du mit Berufen? Statist kann man ja nur mehr als Hobby bezeichnen«, neckt Herbert.

»Liebesdienste und so ... also nichts Besonderes, bringt aber gutes Geld.«

Herbert glaubt, nicht richtig zu hören. Sein Magen verknotet sich. Einfach mal einen verführen, der nicht mit viel Erfahrung protzen kann, weil die Gefühle an erster Stelle stehen? Hat er Syphilis? Was für eine Rolle spiele ich? Fragen durchbohren seinem Kopf. »Los, verschwinde, du hattest deinen Spaß, nun geh schon und lach dich kaputt. Scheißstricher!«

Aaron reibt sich die Wange, hat nicht erwartet, eine gescheuert zu bekommen. Die schallende Backpfeife hat gesessen, hinterlässt deutliche Spuren. Herbert steigen Tränen in die Augen. Vorsichtig tritt Aaron auf ihn zu, möchte ihn ungeschickt in die Arme nehmen, doch Herbert stößt ihn weg.

»Bitte, du musst das akzeptieren ... Außerdem bin ich kein Stricher, ich steh nicht auf dem Alexanderplatz, wo sich Jungs für ein paar Mark fünfzig anbieten oder in einschlägigen Lokalen auf Freier warten. Ich habe Stammkunden, die wissen, was sich gehört, und sich nicht lumpen lassen. Ich brauche Geld, sehr viel Geld. Oder glaubst du, ich will als Trine enden, die im KaDeWe die Fenster dekoriert? Nein, bestimmt nicht. Ich habe großartige Wünsche, möchte das Schauspielern lernen, vielleicht irgendwann mal eine eigene schöne Wohnung, ein kleines, spritziges Auto besitzen. Von mir aus verachte mich, aber in einem musst du mir recht geben: Als Malocher oder kleiner Angestellter kann man in Deutschland nichts werden. Und glaube mir«, Aarons Stimme wird ganz leise, »mit dir, das ist etwas ganz Besonderes, das kann man gar nicht vergleichen. Ich möchte dich wirklich kennen lernen, alles von dir erfahren. Du hast doch auch Träume, oder?« Aarons Stimme zittert. Er macht einen Schritt auf Herbert zu, will seine Hand nehmen, sie halten, greift ins Leere.

 

»Ich weiß nicht, ob ich das möchte.«

Der Bus kommt, die Zeit drängt, Herbert steigt ein. Aaron steht regungslos auf dem Bürgersteig, schaut dem Bus hinterher.

Haltestelle Lietzenburger. Herbert steigt aus. Die Luft ist warm, für Verliebte geeignet, um sich an einem schönen Platz auf einer Parkbank aneinander zu kuscheln und von einer aufregenden Zukunft zu träumen, das Drumherum zu vergessen.

Seit Stunden läuft er ziellos durch die dunklen Straßen. Gaslampen säumen die Gehsteige, schenken gelbes Licht, werden zu Scheinwerfern, doch er spielt in keinem Film eine Rolle. Das Geschehene spukt in seinem Kopf, sodass er keinen klaren Gedanken fassen kann. So viel er auch hin und her überlegt, er kommt zu keinem Entschluss. Wie denn auch, er hat ja seinen Kopf verloren, an einen liebenswert-verrückten Kerl, den er vor einigen Tagen noch gar nicht kannte. Und jetzt springt er ihm in seinem blöden Hirn herum. Ich muss ihn einfach aus meinem bedepperten Kopf verstoßen, denkt er. Was ist schon groß passiert? Er ist dabei, sich zu verlieben, so heftig wie nie zuvor. Ein Gefühl wächst in ihm, das er nur vom Hörensagen kennt. Er hat in Romanen davon gelesen, doch war dort alles viel romantischer und von Prostitution war in den Büchern keine Rede. Auf dem Boot vibrierte sein verschwitzter Körper von der Fußsohle bis zur Haarspitze, sein Puls raste. Der schöne Mann reagierte auf sein Verlangen. Herbert ist sich sicher, früher oder später hätte er sich ihm hingegeben, mit Haut und Haaren. Tränen laufen über seine Wangen, er fühlt sich betrogen. Die von der Partei sprechen davon, dass Frauen gezwungen werden, sich zu prostituieren, um protzende Kapitalisten zu befriedigen, außerdem wird ihnen das wenige Geld auch noch von gewalttätigen Zuhältern abgenommen. Und Aaron macht das sogar freiwillig, ist vielleicht mit Spaß bei der Sache, ihm ist alles zuzutrauen, und das aus niederen Bewegungsgründen heraus.

Es ist drei Uhr nachts, als Herbert endlich in seinem Bett liegt. Bin ich eigentlich viel besser?, fragt er sich. Ich bin Kommunist und wohne bei meiner Tante, einer höheren Beamtenwitwe, die mich finanziell unterstützt und einkleidet, zusätzlich kommt auch noch monatlich Vatis Scheck dazu. Ein toller Kommunist bin ich. Er findet keinen Schlaf, wälzt sich hin und her. In seinem dunklen Zimmer springen ihm alte, dicke Männer ins Gesicht, machen sich über Aaron her, dieser lässt so manches über sich ergehen. Weder das Schließen der Augen noch das Anknipsen seiner Nachttischlampe können die Bilder verdrängen, er fühlt sich ausgeliefert. Der Morgen graut, die Vorstellungen der Nacht sind noch immer in Herberts Kopf, er will sie loswerden, sie weigern sich, zu verschwinden, schlimmer noch, sie scheinen ihn auszulachen, seine Augenlider erschweren sich ... Bohnenkaffeeduft weckt ihn.

Tante Klara pfeift in der Küche nach einer Melodie, die aus einem knarzenden Radio erklingt, der Dackel kläfft, gewöhnliche Töne um Herbert, der heute im Bett bleiben möchte, sich am liebsten besaufen würde. Sie ruft ihn aus seinem warmen Bett. Natürlich hat sie schon frische Schrippen gekauft, den Hund an seinem Stammbaum das große oder auch kleine Geschäft verrichten lassen. Herbert hält sich die Ohren zu. Sie kann ohne Punkt und Komma reden. Er schiebt endlich die Bettdecke beiseite, quält sich aus dem Bett, er will die Träume der Nacht vergessen. Und obgleich ihn seine Tante mit ihrer guten Laune verrückt macht, hilft sie ihm, für einen Moment nicht denken zu müssen.

»Guten Morgen, Tantchen«, grunzt er misslaunig. Schrippen sind mit Butter bestrichen und mit Marmelade bekleckst, Kaffee wird eingeschenkt, Sahne dazugetan. »Tantchen, du sollst das doch nicht machen, außerdem muss ich gleich zur Vorlesung, bin eh schon spät dran.«

Beine gehen Wege, die bekannt sind, das Herz schlägt bis zum Hals.

Seit zwei Jahren lebt er nun schon in dieser verrückten Stadt, wie lange hat er davon geträumt, jemandem so nah zu sein wie gestern, um dann alle Ängste über den Haufen werfen zu können? Blumen? Nein, das ist nun wirklich zu kitschig. Wittenbergplatz. Die Vorlesung läuft auch ohne ihn. Ich vergesse einfach, dass er sich verkauft, tue so, als hätte ich es nie gehört. Komme angelaufen wie ein räudiger kleiner Köter mit heraushängender Zunge, laufe ihm hinterher. Gedanken springen, bringen Unordnung in seinen ansonsten so geordneten Kopf, aber was macht es schon? Es ist sowieso alles durcheinander, Mitglied der DKP, er, der Sohn eines Dorfschullehrers. Landei, nie weiter als bis zum Horizont geschaut, keine Fragen gestellt. In Berlin angefangen, sich umzuschauen, staunend diese pulsierende Stadt in sich aufgenommen. Von Thälmann gehört, seinen Berlinbesuch herbeisehnend, vom Roten Sprachrohr gelesen. Kommunist mit Leib und Seele geworden. Parolen geschrien, sich nicht zu schade gewesen, in Armenküchen Suppe auszuteilen. Bei einem kommunistischen Blatt ein Volontariat gemacht.

Herbert steht vor dem KaDeWe. Hier und jetzt kann er entscheiden, wie es weitergehen soll, denn er weiß nur zu genau, dass er Aaron nicht mit seinen Moralvorstellungen ändern kann. Hin und her gezogen fühlt er sich, er hat den Kopf verloren, kann, will ohne diesen verrückten, zärtlichen, schönen Mann nicht mehr sein, auch wenn es bedeutetet, dass er sich verkauft. Er betritt den Luxusladen zum zweiten Mal und will es den Kunden gleichtun, versucht, das Flanieren zu kopieren, möchte unauffällig wirken, einfach zur Masse gehören, nimmt Rolltreppen hoch und runter. Er sehnt sich Aaron so sehr herbei, er wird sich erklären. Was soll er erklären? Aaron ist nicht im Warenhaus. Jede Abteilung hat er detektivisch durchforstet, in Umkleidekabinen gelugt, noch nicht aus der Kabine geräumte Hosen gesehen, Hemden auf Bügeln. Wo kann er sein? Hat er frei, ist er kurz rausgegangen, um etwas zu besorgen? Quatsch, hier gibt es doch alles, aber zu welchem Preis? Herbert öffnet eine Tür. »Nur für Personal« steht in großen Lettern auf einer grauen Feuerschutztür. Das Treppenhaus offenbart sich, weiße Pfeile auf grünem Hintergrund zeigen sowohl nach unten als auch nach oben. Lagerräume sind immer im Keller. Es ist kaum auszuhalten. Ich werde Aaron finden. Verraucht ist die Wut, Verzweiflung gewichen. Hochmut kommt vor dem Fall. Nicht enden wollende Gänge, einem Labyrinth ähnlichen Geflecht fühlt er sich ausgeliefert. »Dekoration« steht über einer breiten Tür. Herbert legt seine Hand auf die Klinke, die Tür lässt sich schwer öffnen, er muss sich dagegenstemmen. Der Schlager »In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei bei Kuchen und Tee« ertönt vom Grammophon, dringt durch den Türspalt, kitzelt im Ohr.

Ein riesiger Tisch mitten im Raum, Regale bis zur Decke, gefüllt mit Stoffballen, Preistafeln lehnen an grober Wand. Die Schaufensterpuppen nackt, hinten links Schneemänner, Osterhasen, Weihnachtsmänner, Rehkitze hinten rechts. Ist hier also sein Reich? Ein großer, bunter Raum, gerade richtig für einen verrückten Jungen.

Schöner Po, Hände stützen auf diesem Tisch den Oberkörper ab, Kopf geneigt mit Blick auf Zeichnungen. Zigarette hinter das rechte Ohr geklemmt, hinter dem anderen Ohr steckt ein Bleistift.

»Aaron!«

Schweigen. Der Hals ist zu porös, um klare Töne wohlklingend auszusprechen. Der schlanke Körper richtet sich auf und wendet sich um. Schönheit macht das Lager zum Salon.

»Mein Herz, du? Ich dachte nicht ...«

Sie laufen aufeinander zu, Herbert hebt Aaron hoch, wirbelt mit ihm durch das Lager, lässt ihn hinunter. Küsse, so viele, dass sie nicht zu zählen sind. Aaron dreht sich aus Herberts Umarmung, um die schwere Tür abzuschließen.