Die Chroniken der drei Kriege

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Kraaa … rin. Kraaa … rin.

Kroon.

Kraaoot.

Kron kraaoot.

Kron gekraooot.

Geklaooot.

Kirins Fuß berührte eine steinerne Stufe, und er fuhr zusammen. Er warf einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass er wieder bei der Treppe zur Terrasse angekommen war. Unwillkürlich musste er lachen.

›Idiot!‹, schalt er sich selbst. ›Du durchwanderst den halben Kontinent, siehst Blut und Tod und Schlachten und hast Angst vor einem albernen Vogel!‹

Langsam ließ er die Hand sinken und suchte mit zusammengekniffenen Augen nach der Krähe im Baum. Sie war noch da und beobachtete ihn mit schräg geneigtem Kopf.

»Na, du?«, brachte er halbherzig hervor. »Hast du dich verflogen?«

Kraaa … rin, machte der Vogel unbeirrt. Kraarin Ard. Bas … taaard.

Ein eiskalter Schauer lief Kirin über den Rücken. Er wünschte, er hätte einen Bogen, mit dem er das blöde Vieh von seinem Ast herunterschießen könnte, aber in diesem Augenblick flog der Vogel auf und flatterte über die Baumwipfel davon, in einen dunkleren Teil der Nacht.

Kirin sah ihm noch einen Augenblick lang nach, dann eilte er die Treppe hinauf auf seinen Balkon. Er kam sich lächerlich vor, wie er einen letzten, prüfenden Blick zurück ins Dunkel warf, beinahe sicher, dass die Krähe noch immer irgendwo auf ihn lauerte. Dennoch konnte er einen weiteren Schauer nicht unterdrücken.

›Es war nur ein Traum‹, sagte er sich, ›ein dämlicher Albtraum. Er bedeutet nichts.‹

Und trotzdem, so sehr er sich auch bemühte, er schaffte es nicht, sich einzureden, dass die Worte, die er gehört hatte, nur eingebildet gewesen waren. Der Vogel hatte ihn einen Bastard genannt, und einen, der die Krone gestohlen hatte.

Er wich in den Schutz der Säulen zurück, in dem Moment, als eine Windböe die Blüten in den Kletterpflanzen zum Rascheln brachte. Eine davon löste sich und trieb auf dem kalten Wind davon wie ein dem Untergang geweihtes Boot auf dem stürmischen Ozean.

Verärgert schüttelte er den Kopf, wie um sich aufzuwecken. »Das ist doch idiotisch!«, murmelte er in der Hoffnung, dass niemand außer ihm es hörte. »Ich werde mich doch von einem bisschen Wind und Nacht nicht einschüchtern lassen! Und von einem dummen alten Vogel, der …«

›… die Wahrheit sagt.‹

Die Stimme drang harsch und ungefragt in seinen Kopf und ließ ihn einen Moment die Fäuste ballen. Kirin durchmaß den Vorraum und stieß seine Schlafzimmertür auf, wobei er feststellte, dass einer der Diener … der Sklaven die Lampen darin angezündet hatte. Dankbar näherte er sich den tröstlichen Lichtern und ließ sich an seinem Schreibtisch nieder.

Die Wahrheit.

Er war ein Bastard, ja, aber das war bei weitem nicht das Schlimmste. Was nur er und Megan Dwayne wussten, war, dass er nach Recht und Gesetz niemals den Thron von Aracanon hätte besteigen dürfen. Ihnen beiden hatte Limrian An’Bry, ein Vertreter des Hohen Rates von Semja und der Drahtzieher um die ganze Geschichte mit Kirin, die Wahrheit um seine Geburt offenbart: Limrian hatte Galihls Kind zwar kurz nach seiner Geburt aufgespürt und versucht, es zu retten, aber der Junge war an Entkräftung gestorben. Der Bauer, der Galihls Sprössling gefunden hatte, hatte allerdings ebenfalls einen Sohn gehabt, den Limrian daraufhin mitgenommen und als den von Galihl ausgegeben hatte. Der Bauer und seine Frau waren bei einem auf Limrians Befehl hin gelegten Feuer umgekommen, und da die Sklavin Szarell nach ihrer Ergreifung spurlos verschwunden war, war niemand in der Lage gewesen, den Schwindel aufzuklären. Limrian wiederum hatte Kirin in einem kleinen Dorf in Yorenin versteckt und mit sechzehn in die Große Bibliothek bringen lassen, um ihn als Galihls Bastardsohn zu präsentieren. Mit ihm als Zögling, so hatte Limrian geplant, wollte er seinen eigenen Einfluss unter den ostländischen Adeligen und Kriegsherren vergrößern. Allerdings war Limrian bei der Schlacht um Nardéz tödlich verwundet worden, sodass seine ganzen schönen Pläne sich in nichts aufgelöst hatten. Im Sterben liegend, hatte er Kirin und Megan die ganze Geschichte erzählt.

Kirin erinnerte sich an sein Entsetzen in diesem Augenblick, an seine Entschlossenheit, alles aufzuklären und den Thron Aracanons anderen zu überlassen. Megan war es gewesen, die ihn davon abgehalten hatte mit der Begründung, dass ein weiterer Krieg die Folge wäre und man Kirin möglicherweise wegen Verrats festnehmen würde. Er hatte lange und gründlich darüber nachgedacht (so versuchte er jeweils, sich zu trösten, wenn die Gewissensbisse ihn plagten) und sich schließlich dafür entschieden, die Lüge aufrecht zu erhalten. Das Problem war nur gewesen, dass eine Berührung Nàrdarells ihn getötet hätte, da in seinen Adern kein Tropfen Phalaér-Blut floss. Also hatte Megan Kirins Hand mit einem speziell von ihr entwickelten Gebräu behandelt, das sie auch für Verätzungen verwendete, die von ihr, das hieß von Halbblütern, zugefügt worden waren. Und dann hatte sie die Haut von der linken Hand des toten Galihl abgezogen und sie Kirin übergestreift wie die grauenhafte Karikatur eines Handschuhs. Kirin hatte das Schwarze Schwert ziehen können, allerdings hegte er die Befürchtung, dass, auch wenn es ihn nicht getötet und ihm keine sichtbaren Verletzungen zugefügt hatte, er auf eine Art und Weise versehrt worden war, die er nicht näher beschreiben konnte. Allein das Schwert sicher in seiner Scheide verwahrt auf dem Rücken zu tragen, war ihm seither unerträglich geworden. Die Nähe zu Nàrdarell verursachte ihm körperliche Schmerzen, sodass er seine ursprüngliche Entscheidung, das Schwert irgendwo in die dunklen Tiefen der Kerker wegsperren zu lassen, mehr als gerne eingehalten hatte. Glücklicherweise hatte bisher niemand diesen Entschluss infrage gestellt, sodass Kirin sich einigermaßen sicher wähnte. Jedermann fürchtete das Schwarze Schwert, das außerhalb Aracanons noch immer vielerorts für einen weiteren furchtbaren Mythos gehalten wurde, und keiner am Hof bedauerte es, nicht unmittelbar seiner Bedrohung ausgesetzt zu sein. Allerdings, so dachte Kirin verbittert, erlaubte das Leuten wie diesem Tumàsz, anmaßende Forderungen zu stellen, ohne fürchten zu müssen, dass Kirin sie im nächsten Moment in einen Haufen Asche verwandelte.

»Kein Wunder, dass ich langsam Gespenster sehe«, murmelte er der nächststehenden Kerze zu und drückte mit den Fingern den Docht aus.

In diesem Augenblick klopfte es, und Kirins Herz machte einen Satz. »Ja?«, fragte er heiser; wütend auf sich selbst stand er auf und rieb sich die Brust.

Larniax trat ein. »Verzeiht die Störung, Exzellenz, ich wollte nur nachsehen, ob Ihr noch irgendetwas braucht?«

»Eine meiner Wurfmaschinen vielleicht und eine genaue Angabe, in welchem Haus in Nardéz Nàszuk Tumàsz untergebracht ist.«

Larniax feixte. »Damit kann ich leider nicht dienen, aber ich dachte mir, ein Becher Wein würde Euch ebenfalls guttun?«

Kirin zuckte die Schultern. »Die Freude wird zwar nicht die gleiche sein, aber es hört sich trotzdem nicht übel an.«

Gemeinsam kehrten sie in Kirins persönliches Aufenthaltszimmer zurück, das etwa die doppelte Größe der Eingangshalle des Statthalterhauses in Yorenin hatte, in welchem Kirin als Diener aufgewachsen war. Er und Larniax setzten sich in zwei gemütliche Lehnstühle mitten im Raum, direkt unter dem schimmernden und mit dutzenden von Kerzen besetzten Kronleuchter.

»Ich könnte mir denken, Euch geht einiges durch den Kopf«, meinte Larniax nach einiger Zeit.

Kirin nippte an seinem Wein – mit Wasser verdünnt – und dachte darüber nach, wie es wäre, all seine Gedanken und Befürchtungen in Worte zu fassen. Vermutlich säßen sie beide dann morgen Abend noch hier, also würde er es besser gleich bleiben lassen.

»Das tut es«, sagte er daher nur.

Larniax schien einen Moment mit sich zu ringen, dann sagte er: »Tumàsz ist nicht so stark, wie er glaubt. Ihr habt die Audienz heute unterbrochen, aber morgen werden sich Gesandte der Ostländer hier einfinden, Boten des Rates, die Ihr um Hilfe bitten könnt. Ihr könntet mächtige Verbündete in den Ländern der Mitte und des Ostens gewinnen, wenn Ihr ihren Beistand …«

»Nein«, sagte Kirin bestimmt. »Ich war einmal ein Werkzeug in den Händen ostländischer Puppenspieler, das werde ich nie wieder sein. Außerdem, wenn ich den Rat und die anderen Länder um Hilfe bitte, tue ich genau das, was Tumàsz von mir erwartet. Es wäre Öl in dem Feuer, das er gegen mich entfachen will: Die ausländische Marionette, die Aracanon zu einer bloßen Provinz degradiert. Diese Genugtuung werde ich ihm auf keinen Fall geben.«

Larniax nahm seinerseits einen Schluck Wein. »Ihr könntet selbst Boten zu den Windreitertruppen im Ausland schicken. Lasst sie von Euren Taten erzählen und davon, wie Tumàsz die Linie der Phalaér durchbrechen will, um das Land in zersplitterte Baronien für sich und seine Adelsfreunde aufzuteilen.« Kirin verzog den Mund. »Gerüchte und Intrigenspiele sind nicht meine Stärke. Außerdem glaube ich nicht, dass Erzählungen in diesem Fall viel helfen werden. Ich werde mich allein gegen Tumàsz behaupten müssen, das ist die einzige Möglichkeit, wie ich mir das Vertrauen und den Respekt der Windreiter verdienen kann.«

Der Mann von den Inseln betrachtete Kirin einen Moment lang, dann zog sich ein schiefes Lächeln über sein Gesicht. »Eine Logik, Exzellenz, der man schlecht widersprechen kann. Also dann: Auf Euch.«

Kirin stieß mit seinem Becher gegen den von Larniax, allerdings ohne rechte Überzeugung. Ehe jedoch einer von beiden einen Schluck nehmen konnte, ertönte erneut ein leises Klopfen an der Tür. Verblüfft blickten die Männer auf, und einen Herzschlag später kam ein Windreiter in den Saal gestolpert; seine schlaksige, leicht gebeugte Erscheinung machte auf Kirin eher den Eindruck eines Gelehrten oder Bibliothekars als die eines Kriegers, doch die Bewegung, mit der er sich auf ein Knie niederließ, war geschmeidig und anmutig und verriet jahrelange Übung. »Verzeiht, Exzellenz, Herr Zanid Monzù wünscht zu Euch vorgelassen zu werden.«

 

Kirin tauschte einen Blick mit Larniax. »Was kann der noch wollen?«, fragte der junge Krieger.

»Exzellenz, er meinte, er wolle Euch etwas mitteilen, das allein für Eure Ohren bestimmt sei. Er ließ sich nicht abweisen.«

Kirin stellte seinen Becher auf den Tisch und stand auf. »In Ordnung, bitte ihn herein.«

Der Windreiter, dessen Name Mìszak oder so ähnlich lautete, erhob sich und ging rückwärts aus dem Raum. Nur wenige Herzschläge später kam er zurück, den großen dürren Mann im Schlepptau, dessen Hinken im Laufe des Tages noch schlimmer geworden war. Er trug dieselben Kleider wie bei der Audienz, nur hatte er sich mittlerweile ein gebogenes Einhandschwert auf den Rücken geschnallt.

Larniax stand ebenfalls auf und stellte sich dem Adeligen in den Weg. »Waffen sind in Gegenwart seiner Exzellenz nicht erlaubt«, erklärte er barsch.

Der alte Mann lächelte ein winziges, seltsam trauriges Lächeln. »Seine Exzellenz ist vierzig Jahre jünger als ich und hat selbst zwei prächtige Schwerter auf seinem Rücken. Wenn er sich von mir bedroht fühlt, wird er auch ohne Euch in der Lage sein, mir das klarzumachen.«

Für einen Moment war Larniax zu verblüfft, um etwas zu erwidern, was Zanid Monzù sofort ausnutzte; er wandte sein ausgezehrtes Gesicht Kirin zu und ließ sich schwerfällig auf ein Knie sinken. »Exzellenz mögen mir die späte Stunde verzeihen; ich komme soeben von den Ruhestätten vor dem Stadtgefängnis, wo man anhand ihrer Kleidung meinen Bruder und seinen Sohn identifizieren konnte. Sie werden in diesem Moment in mein Haus gebracht, wo man sie angemessen reinigen wird, damit sie aufgebahrt und verbrannt werden können.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Kirin aufrichtig und bedeutete Monzù, aufzustehen. Der alte Mann gehorchte, wobei er die hilfreich ausgestreckte Hand ignorierte. »Ich kam nur vorbei, um Eurer Exzellenz persönlich zu danken. Ihr habt mir damit einen größeren Dienst erwiesen, als es Euch vielleicht bewusst ist.«

»Ich bin froh, dass es zumindest Euch so geht. Es gibt zu viel Leid in dieser Stadt, das ich nicht so einfach lindern kann.«

Monzù nickte schwer. »So ist es. Aber Euer Heiler, so habe ich gehört, hat dafür gesorgt, dass sich viele seiner Gilde in der Stadt eingefunden haben, um Verletzte zu behandeln. Außerdem sind die Kornspeicher gefüllt, das Volk leidet zurzeit keinen Hunger.«

»Das stimmt«, gestand Kirin. »Es scheint, als hätten die Ostländer … meine Verbündeten die verborgenen Kornkammern des Palastes und der Stadt nicht gefunden. Allerdings sind die sonstigen Schäden erheblich.«

»Tag für Tag treffen neue Forderungen nach Wiedergutmachungen ein«, stimmte Larniax zu; er schien dem alten Adeligen die Zurechtweisung noch immer übelzunehmen, aber zumindest beschränkte er sein Schmollen auf einen Ausdruck verhaltener Ungeduld.

Monzù verzog verächtlich den Mund. »Wie ich heute selbst bezeugen durfte. Wenn ich einen Rat geben darf, Exzellenz: Bezahlt dem alten Gierschlund von Armész ein paar hundert Goldmünzen und lasst Euch von seinem Geheule nicht erweichen. Wartet ein paar Wochen, dann schickt ihm noch einmal tausend, begleitet von einer guten Flasche Wein und einem oder zwei hübschen Mädchen, dann wird er den Mund halten. Er ist ein Raffzahn und versucht zu profitieren, wo er nur kann, aber er ist schnell zu beruhigen. Nur rate ich Euch, ihn nicht zu ignorieren; Armész wütend zu machen, kann schnell zu einer Handelsblockade führen, die weit über das Waffengeschäft hinausgeht.«

Kirin musterte den Alten neugierig. »Ich danke Euch für diesen Rat, Herr Monzù. Es tut gut zu wissen, dass nicht alle Adeligen Aracanons gegen mich sind.«

Zanid Monzù schnaubte leise. »Diese elenden Ehrgeizlinge und Halsabschneider! Sie alle würden ihre Schwestern und Mütter in die Steppen verkaufen, um eine Parzelle Land oder einen Posten bei Hofe zu ergattern, aber keiner von ihnen hat auch nur einen Funken Ehre im Leib! Ich verachte sie, elende Menschenschinder und Fresser und Säufer, die alle zu feige waren, sich gegen den Tyrannen zu erheben! Oder zu sehr von seiner Herrschaft profitierten, um sich darum zu kümmern, was aus den anderen ihres Standes wurde.« Ohne sich dessen bewusst zu sein, ballte er die Fäuste. »Sie alle sind beiseitegetreten und haben kommentarlos zugesehen, wie man Priester und Heiler, Gelehrte und hochrangige Adelige ermordet hat, weil sie sich weigerten, dem Großfürsten zu folgen! Mein Bruder und mein Neffe waren die letzten, die aufstanden in dem Versuch, den Mut in den Herzen ihrer Gefährten zu wecken. Vergeblich. Vergolten wurde ihnen ihre Tapferkeit mit Verrat, Folter und Tod.«

Schwer holte der alte Adelige Luft, dann fuhr er mit etwas ruhigerer Stimme fort: »Aber nun werde ich in der Lage sein, die Toten ruhen zu lassen. Für Euch, Exzellenz, fängt der Kampf erst an.«

»Das tut er. Und so wie es aussieht, werde ich ihn allein austragen.«

Zanid Monzù musterte ihn einen Augenblick lang wortlos, dann legte er seine Rechte auf den Griff seines Schwertes, langsam und getragen, um die Absicht dahinter zu vermitteln. »Ich sagte Eurer Exzellenz heute schon einmal, dass Ihr jederzeit auf mich zählen könnt, wenn Ihr mich braucht. Ich kenne diesen Tumàsz und viele seiner Helfershelfer schon ihr ganzes Leben lang, und selbst wenn mein Haus in ihren Augen Schande auf sich geladen hat, so gehöre ich noch immer zum Adel meines Landes, und meine Stimme hat Gewicht. Wenn Eure Exzellenz es mir erlauben wollen, so werde ich Seite an Seite mit Euch gegen diese Saatkrähen antreten. Wir werden sehen, ob sich ihr Ehrgeiz und ihre Gier nicht ein wenig abkühlen lassen.«

Kirin wusste für einen Augenblick nicht, was er sagen sollte. Larniax hingegen trat vor, die Augen ungläubig auf den alten Mann gerichtet. »Seid Ihr Euch sicher, was Ihr da sagt, Herr Monzù? Ihr werdet Euch isolieren, wenn Ihr Euch offen gegen Tumàsz und die Seinen stellt.«

Monzù reckte das Kinn. »Solange ich lebe, werde ich nicht zulassen, dass derselbe Abschaum, der sich unter den Rockzipfeln des Schlächters Galihl versteckt hat, die Herrschaft über mein Land an sich reißt. Eher gehe ich Seite an Seite mit Seiner Exzellenz unter, als dass ich das zulasse.«

Kirin war bewegt, auch wenn diese Worte einen Haufen beunruhigender Möglichkeiten offenbarten. Er räusperte sich. »Herr Monzù, ich danke Euch und nehme Euer Angebot an. Ich hoffe aufrichtig, dass nie der Augenblick kommt, in dem Ihr diese Entscheidung bereuen werdet.«

»Das bezweifle ich, Exzellenz.« Und damit zog der alte Adelige sein Schwert und reichte es Kirin mit dem Heft voran.

Neue Freunde, neue Feinde

Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Frühsommer im Jahr 1098 des zweiten Zyklus

Die Männer vor ihm glichen am ehesten einer Gruppe verschreckter Komödienschauspieler; unaufhörlich gestikulierten sie beim Sprechen mit ihren schmuckbestückten Händen und hüpften auf den Fußballen auf und ab, als hätten sie furchtbar volle Blasen. Jeder von ihnen schwitzte in den schweren, mit Gold und Silber behängten Roben, die sie alle trugen, und sie sahen insgesamt so aus, als würden sie sich in ihrer Haut höchst unwohl fühlen.

Kirin wusste nicht, was genau er von Vertretern des Hohen Rates erwartet hatte, aber ein bisschen mehr hätte es schon sein dürfen. Limrian, der die Intrige um Kirins Leben gesponnen hatte, war selbst ein Mitglied dieses Rates gewesen, und obwohl auch er einen geradezu lächerlichen Hang zu protzigen Roben und übermässigem Auftragen von Parfüm gehabt hatte, hatte er doch auf seine Art eindrucksvoll gewirkt. Diese aufgetakelten, puderbestäubten Figuren, die sich jetzt vor ihm aufreihten, sahen aus, als wären sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf eine Mission ins Ausland geschickt worden, und keiner von ihnen schien es darauf anzulegen, als Erster das Wort an Kirin zu richten.

Er wechselte mit Aderuz einen Blick, unsicher, ob er belustigt oder eher beleidigt sein sollte, dann ließ er den Heiler vortreten.

»Werte Herren und hochgeschätzte Stellvertreter des Hohen Rates«, begann Aderuz, auch wenn Kirin sah, dass seine Mundwinkel zuckten, »seid herzlich willkommen am Hof von Nardéz. Wir danken Euch für die Ehre Eures Besuches und drücken unsere Zuversicht aus, dass Eure Anwesenheit sowohl für unser Land als auch für die Länder der Mitte nur Gutes bewirkt.«

Einen Moment herrschte Schweigen, und Kirin hatte das deutliche Gefühl, dass der Mann, der als Sprecher ausersehen worden war, von seinen Kollegen nach vorne gestossen wurde, ehe er endlich den Mund aufmachte: »Wir, äh … wir danken Euch sehr für den freundlichen Empfang«, stammelte er und wedelte mit seinen zarten Fingern durch die Luft. Er benutzte wie Aderuz die Gemeinsprache, was unter den anwesenden Arachinen verärgertes Gemurmel auslöste; Kirin wusste, sie empfanden es als Frechheit, dass ein Gesandter nicht in der Lage war, sich ihrer Sprache zu bedienen. Kirin jedoch, der das vergangene Jahr grösstenteils in Gesellschaft hochrangiger Ostländer verbracht hatte, vermutete, dass es besser war, wenn der Ratsgesandte es gar nicht erst versuchte.

»Der hohe Herr und Ratsvorsitzende Arthuego schickt durch uns seine Grüsse. Er hat uns beauftragt, Eurer Exzellenz seine Glückwünsche zu Eurer Ernennung auszudrücken.«

Kirin konnte sich ein leises Schnauben nicht verkneifen; den vorherigen Herrscher umzubringen und seine Stadt zu erobern, hätte Kirin nicht zwingend als ›Ernennung‹ bezeichnet. Und, soweit er das verstanden hatte, auch Tumàsz nicht.

Dennoch neigte er respektvoll den Kopf. »Ich danke Euch, Ratsabgesandter. Ich hoffe, Eure Reise war angenehm?« Das konnte sich Kirin zwar beim besten Willen nicht vorstellen, da eine Reise von Semja nach Aracanon gezwungenermassen entweder durch die Steppen oder durch Kriegsgebiet führte. Der Mann schien genau dasselbe zu denken; er starrte hinunter auf seine Finger und murmelte eine unverständliche Antwort. Sein Name, so glaubte Kirin verstanden zu haben, lautete Sarkissian, und er stammte wie Kirins ehemaliger Gönner Limrian aus dem südlichen Reich Fallonia. Sieben Jahre vor Kirins Geburt war die letzte Herrscherin dieses Landes, Kalian die Strahlende, gestorben und mit ihr war auch die über tausend Jahre andauernde Dynastie der Großkönige zusammengebrochen. Fallonia, das vorher Regierungssitz, Kornkammer und Knotenpunkt der Macht auf Paradon gewesen war, war in Kriegswirren zerfallen und die übrigen Länder hatten sich in eigenständige Staaten aufgegliedert, über deren jeweiligen Regierungen kein anderer Einzelherrscher mehr stand. Zuvor war jedes Land dem Großkönigshaus gegenüber zur Gefolgschaft verpflichtet gewesen, das hieß zu Abgaben und Lehnstreue. Nach dem Tod der letzten Großkönigin hatten die Reiche den sogenannten Großen Vertrag aufgesetzt, der die Wahrung der jeweiligen Grenzen hatte sichern sollen.

Kirin fragte sich, ob man dort oben in Semja bereits ein neues Papier zusammenstoppelte.

›Wenn ja‹, so überlegte er, ›wie lange dauert es wohl, bis wieder jemand wie Galihl kommt und sich nicht daran hält?‹

Sarkissian hob den Kopf und schaute beinahe schüchtern zu ihm hoch; er war etwa zehn oder fünfzehn Jahre älter als Kirin und trug einen idiotischen Schnurrbart mit gezwirbelten Enden im Gesicht. Sein braunes Haar war ebenso glatt und glänzend gekämmt wie das von Waffenhändler Armész. »Exzellenz, unser Weg war lang und beschwerlich. Dennoch hätte kein Unwetter und kein Hindernis der Natur uns davon abhalten können, Exzellenz unsere Aufwartung zu machen.«

»Das freut mich. Auch wenn ich eigentlich erwartet habe, Bolastro unter Euch zu sehen. Er war an den Kämpfen beteiligt und ich hatte geglaubt, er wollte kommen und sich das Resultat seiner Bemühungen ansehen.«

Die Männer vom Rat tauschten untereinander Blicke, und Kirin vermutete, dass er etwas ausgesprochen Unpassendes gesagt hatte. Wenn er ehrlich war, hatte er es ein wenig darauf angelegt, von daher kümmerte es ihn nicht sonderlich.

»Herr Meyra ist, nun … von den Ereignissen des Krieges noch sehr angeschlagen. Er hat sich im Moment ganz aus den Geschäften des Rates zurückgezogen, um sich seiner Erholung zu widmen.«

 

Das überraschte Kirin nicht; Bolastro war Limrians persönlicher Feind im Hohen Rat gewesen und hatte während der Feldzüge ununterbrochen versucht, dessen Einfluss unter den ostländischen Adeligen und Kriegsherren zu schmälern. Als Kirin schließlich mit Limrian gebrochen hatte, hatte er sogar kurzzeitig Bemühungen unternommen, sich als Kirins Berater an seine Fersen zu heften. Dann jedoch war er zusammen mit Megan von Galihls Getreuen entführt und in Nardéz eingekerkert worden, was seinem Gesundheitszustand gar nicht gut getan hatte. Kirin meinte sich zu erinnern, ihn am Tag seiner Abreise aus der arachinischen Hauptstadt totenbleich auf einem Ochsenkarren liegen gesehen zu haben, wo er leise vor sich hinstöhnend seiner Heimat entgegenfuhr.

»Das tut mir leid zu hören«, erklärte Kirin, wobei er hoffte, dass er einigermassen ernst klang. »Falls Ihr ihn seht, übermittelt ihm meine besten Genesungswünsche.«

Sarkissian verbeugte sich. Als er sich wieder aufrichtete, war sein künstlich blassgefärbtes Gesicht mit roten Flecken übersät, und Kirin vermutete, dass der Austausch von Höflichkeiten nun vorbei war.

»Exzellenz, als Abgesandte des Rates ist es unsere Pflicht, die Interessen der Mitglieder dieses Konzils wahrzunehmen und zu vertreten. Unter uns befinden sich Stellvertreter verschiedener Länder Paradons, die während des Krieges großes Unrecht zu erleiden hatten. Da Eure Exzellenz selbst es unternommen haben, den Kriegstreiber Galihl Phalaér seinem Ende zuzuführen, sind sie alle voller Hoffnung, Exzellenz möge auch bestrebt sein, etwas gegen das bestehende Elend in diesen Reichen zu unternehmen.«

Kirin gab sich alle Mühe, nicht zu seufzen; er hatte etwas in dieser Art erwartet, aber irgendwie machte es das nicht leichter. »Und inwiefern könnte ich das? Ich habe in dem Land, für das ich erst vor wenigen Monden die Verantwortung übernommen habe, genug Leid und Elend, das es zu bekämpfen gilt, und das ganz und gar ohne Hilfe. Wäre das in den Gebieten, von denen Ihr sprecht, nicht ebenfalls Aufgabe der dort zuständigen Herrscher?«

»Das ist sie, doch wird die Bewältigung dieser Aufgabe wesentlich leichter zu bewerkstelligen sein, wenn der Verursacher seinen Teil der Verantwortung übernimmt.«

Kirin merkte auf; die Stimme war nicht aus der Gruppe von Ratsherren vor ihm gekommen, sondern von weiter hinten im Raum, und außerdem stammte sie von einer Frau. Leises Getuschel ließ sich hie und da vernehmen, als die Sprecherin vortrat, eine Schneise in die verunsicherten Ratsmitglieder trieb und sich vor Kirin aufbaute. Sie war Kirin zuvor gar nicht aufgefallen, weil sie sich unter die Gruppe von Dienern und Kämmerern gemischt hatte, die die Ratsherren begleiteten, doch als sie jetzt hoch aufgerichtet vor ihm stand, war ihm unklar, wie er sie hatte übersehen können: Sie war groß, relativ breitschultrig und hatte harte, eindrucksvolle Gesichtszüge, hohe Wangenknochen und eine lange dünne Nase wie ein Raubvogel. Sie trug weite, mit glitzernden Fäden durchzogene Kleidung aus mintgrünem Stoff und hatte ein Tuch in derselben Farbe über ihr Haar gezogen, und auch wenn er sicher war, dass er sie nie zuvor gesehen hatte, kam sie ihm unheimlich bekannt vor.

»Verzeiht, Exzellenz, wenn ich die übliche Vorgehensweise missachte, doch Ihr, so hörte ich, seid ebenfalls jemand, der Wirksamkeit vor Etikette stellt.«

»Das bin ich in der Tat.« Kirin musterte ihr Gesicht und suchte fieberhaft nach der Verbindung, die er, da war er sich sicher, irgendwo in seiner Erinnerung gespeichert hatte. »Ich nehme an, Ihr seid eines der Ratsmitglieder, die Herr Sarkissian erwähnte?«

Die Frau hob die Hände und zog sich das Tuch vom Kopf, um ihr dunkles, gewelltes Haar freizulegen, und in diesem Augenblick wusste Kirin, woher er ihr Gesicht kannte; obwohl sie mindestens zwanzig Jahre älter war, war die Ähnlichkeit zwischen der Frau und Megan Dwayne nicht zu übersehen. Dasselbe Haar, dieselbe Augenform, dieselben Wangenknochen … tatsächlich fragte sich Kirin, warum er so lange gebraucht hatte, es zu bemerken. Die Frau war etwas grösser und weniger schmal als Kirins Freundin Megan es gewesen war, und ihre Augen waren nicht grün, sondern von einem warmen, erdigen Braunton, aber ansonsten war die Ähnlichkeit vollkommen. Daher wusste Kirin, noch ehe die Frau erneut das Wort ergriff, wen er vor sich hatte.

»Mein Name ist Lady Tereza von Westfurt«, bestätigte die Frau seine Ahnung und neigte huldvoll den Kopf. Als sie ihre Hände sinken ließ, fiel Kirin auf, dass sogar ihre Hände die gleiche Form hatten wie die von Megan. »Ich komme mit Ermächtigung des Rates und im Auftrag der übrigen Grafschaften der Provinz von Sri Iliant, die unter dem Schlag Eurer Armeen zu leiden hatten. Und noch immer leiden.«

Kirin neigte seinerseits den Kopf. »Lady Tereza, es ist mir eine Ehre, Euch von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen und mein Beileid zum Verlust Eures Bruders auszudrücken. Er war ein guter Mann, einer der besten, die ich kennenlernen durfte. Lord Andru hat mir das Leben gerettet und sein eigenes dafür gelassen. Nehmt meinen Dank und mein aufrichtigstes Schuldbekenntnis dafür an.«

Lady Tereza hatte offensichtlich vieles erwartet, aber das nicht; für einen Moment wirkte sie höchst überrumpelt und wusste anscheinend nicht, was sie sagen sollte. Sie fasste sich jedoch rasch wieder. Mit einem kleinen Räuspern deutete sie einen Knicks an und legte die Hände an die Brust. »Ich danke Euch für Eure freundlichen Worte, Exzellenz. Mein Bruder war ein tapferer Mann, und auch wenn er viele Fehler hatte, so doch nicht den, seine Ehre zu vergessen.«

Sie senkte erneut den Blick, doch Kirin spürte, wie sich eine Art Spannung zwischen ihnen aufbaute; Megans Name schwebte in der Luft, und er wusste, dass das nur Ärger bedeuten konnte. Tereza hatte Andrus Entscheidung, Megan am Leben zu lassen, nachdem er sie auf seiner Türschwelle gefunden hatte, nie nachvollziehen können. Megan hatte ihm davon erzählt, wie Tereza sie während ihrer Kindheit behandelt und den Haushalt ihres Vaters gegen sie aufgehetzt hatte, wie sie ihren Bruder mehrmals angegangen war, Megan bei lebendigem Leibe verbrennen zu lassen. Lord Andru hatte nicht auf sie gehört, aber Terezas Hetzreden hatten dazu geführt, dass ein Koch in Andrus Haushalt Megan geschlagen hatte, woraufhin Megans Kräfte außer Kontrolle geraten waren und den Mann getötet hatten. Daraufhin hatte man Megan in die Bibliothek verbannt, und Lord Andru hatte sie bis zu dem Tag, an dem seine Truppen sich den vereinigten Heeren angeschlossen hatten, nicht mehr wiedergesehen. Nur wenige Monde später war er gestorben, als er Kirin vor Galihl beschützt hatte.

Kirin räusperte sich. »Sagt mir, wie ich Euch helfen kann, Lady Tereza.«

Bei diesen Worten veränderte sich Terezas Miene und nahm einen ausgesprochen zufriedenen Ausdruck an; es war offensichtlich, dass sie sich am Ziel wähnte. »Exzellenz, Eure Soldaten sind in die Provinz einmarschiert. Seit nunmehr sechs Monden terrorisieren sie unsere Bevölkerung und rauben und plündern, was sie nur können! Die Lords unserer südlichen Provinzen berichten davon, dass sie Dörfer überfallen und Sklaven nehmen. Ein Großteil unserer Armeen befindet sich noch immer auf dem Marsch nach Hause, viele Soldaten sind verwundet und noch mehr sind tot! Wir können unser Volk nicht mehr schützen und verlangen, dass Ihr diesen marodierenden Ungeheuern augenblicklich Einhalt gebietet! Immerhin haben die Provinzlords an Eurer Seite und für Euch um diesen Thron hier gekämpft, das Mindeste, was wir im Gegenzug erwarten können, ist, dass Ihr uns dafür keinen Schaden zufügt!« Der beißende Unterton in ihrer Stimme verätzte Kirins Trommelfelle.