Die Chroniken der drei Kriege

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Loe katkendit
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Kirin schrie auf und strauchelte; gerade noch rechtzeitig schaffte er eine Rolle über die andere Schulter und verhinderte so, dass er mit dem Kopf gegen den Steinboden knallte. Seine Schulter pulsierte in furchtbarem Schmerz, als stünde sie in Flammen, aber zu seiner Verwunderung lebte er noch. Als er wieder klar sehen konnte, sprang er hoch, um sich erneut auf seinen Feind zu stürzen. Der jedoch lag am Boden, eine fürchterliche Wunde am Kopf. In einem Herzschlag, in dem die Welt stillzustehen schien, berührte Kirin die silbernen Ornamentplatten an seiner Rüstung, die sich vom Zusammenprall mit der Magie glühend heiß anfühlten.

›Geschliffenes Metall‹, dachte er; die Panzerung hatte den magischen Strahl nicht nur abgemildert, sondern ihn auch abgelenkt und zu seinem Urheber zurückgeschossen. Ein grimmiges Lächeln auf dem Gesicht, schwang er die Schwerter.

Stilichos Herz jubelte vor Freude, als er seine knöchrigen Finger um den Arm des Mädchens schlang und sie ins Innere des Tempels zerrte. Sie wehrte sich nicht, sondern schrie nur spitz und fiel durch die Wucht der Attacke nach vorne; ehe Stilicho es verhindern konnte, schlug sie der Länge nach hin und blieb schwer atmend im Mittelgang des Tempels liegen. Stilicho warf einen raschen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass seine Mitbrüder einen Wall vor dem Eingang zogen, damit der Großfürst und seine Getreuen dem Gefäß nicht zu Hilfe eilen konnten. Lächelnd beobachtete er, wie einer der Männer einen Magiestoß in die Menge aus kreischenden und schreienden Menschen schickte, woraufhin die Menschen wie ein Fischschwarm auseinanderstoben und dabei einige Wachen des Großfürsten mitrissen.

Langsam wandte er sich wieder dem Mädchen zu, das sich jetzt schwer auf die Ellbogen stützte und sich aufzurichten versuchte. Aus dem Gestühl des Tempels kamen drei weitere seiner Brüder, die sich ihr mit beinahe andächtigen Gesichtern näherten, als wollten sie vor ihr niederknien. Stilicho trat näher und beugte sich über das Gefäß, von demselben Gefühl der Macht durchströmt wie damals, als er den Ordensführer des Lichten getötet hatte. Die Rechtschaffenheit ihres Tuns kam ihm wieder in den Sinn, und im Bewusstsein des absoluten Triumphes griff er durch das Tuch über ihrem Kopf ins Haar des Mädchens und zog sie hoch.

Mit einem leisen Klappern fiel ihre Maske zu Boden und offenbarte ihr bleiches, schmales Gesicht.

»Hallo«, sagte die junge Frau mit einem boshaften Grinsen.

Ehe Stilicho auch nur Zeit hatte zu begreifen, dass irgendetwas schiefgelaufen war, glühten die Augen der Frau grellgrün auf, und im nächsten Augenblick existierte nichts mehr außer Grauen und Schmerz.

Kirin spürte das vielsagende Kribbeln auf seiner Haut, und er brauchte nicht erst Rhùk, der ihm eine Warnung zurief, um zu wissen, dass Megan ihre Kräfte einsetzte. In einer fließenden Bewegung wich er einem weiteren Magiegeschoss aus und rollte über den Boden, in dem Moment, als die Macht der Westlichen die Magier vor der Tempeltür erfasste. Von Grauen gepackt, rissen einige von ihnen die Arme über den Kopf, Kirin hingegen zögerte keinen Herzschlag: Er griff in seine Ohrmuscheln und drückte die dort versteckten Wachskügelchen fest, sodass die Geräusche der Welt nicht mehr nur dumpf, sondern praktisch überhaupt nicht mehr zu ihm durchdrangen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Larniax und ein anderer Krieger, der unweit von ihm am Boden kauerte, die Geste imitierten. Rhùk hatte er aus den Augen verloren, doch er wusste sehr genau, wo der Windreiter abgeblieben war; mit kochendem Blut in seinen Adern sprang Kirin auf und rannte auf die für einen Moment orientierungslosen Magier los, von denen einige sich krümmten und sich verzweifelt die Ohren zuhielten. Mit einem stummen Stoßgebet auf den Lippen schwang er seine Schwerter und rammte sie dem nächsten von ihnen in den Rücken; der Mann bäumte sich auf, einen stummen Schrei auf den Lippen, und brach zusammen, als Kirin die Klingen zurückzog; dunkles Blut schimmerte auf den Scheiden. Rhùk für seinen Teil hatte einem anderen Ordensmann, der weinend am Boden kauerte, umstandslos den Kopf abgetrennt und stürmte nun auf den Tempeleingang los.

Kirin folgte ihm, während er am Rande registrierte, wie eine Handvoll Windreiter es ihm nachtat und sich auf die Schwarzmagier stürzte.

Noch ehe er jedoch einen Fuß auf die Schwelle des Tempels gesetzt hatte, sauste ein weiteres Magiegeschoss um Haaresbreite an seinem Kopf vorbei und schlug ein faustgroßes Loch in den Türsturz. Er fuhr herum und sah, wie Larniax erbittert auf einen weiteren Magier eindrosch, der sich offenbar bereits wieder von seinem Schock erholt und eine Art unsichtbaren Schutzschild um sich gewoben hatte, den der Òrrowesoldat auch mit seinem Schwert nicht durchdringen konnte. Immer und immer wieder feuerte der Mann kleinere Geschosse auf Larniax ab, die jedoch von der dicken, blank polierten Stahlrüstung abprallten und kleine Blitze erzeugten, wenn sie in den Schild ihres Erzeugers einschlugen.

›Die Kraft ihrer Geschosse lässt nach, wenn sie gleichzeitig Magie anwenden müssen, um sich zu schützen‹, dachte Kirin.

In diesem Augenblick erreichte ihn eine weitere Welle von Megans Kräften, und trotz der Ohrenschützer war ihm zumute, als würde sich die Haut von seinem Körper lösen. Er schloss die Augen, als sich in seinem ganzen Körper die Muskeln zusammenzogen, und öffnete sie gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Magier in sich zusammensackte, während Larniax die Klinge aus seinem Hals zog.

›Gut gemacht, Megan‹, dachte Kirin bei sich, dann wandte er sich ab und rannte mit gezogenen Schwertern in den Tempel.

Megan bekam nur vage mit, wie zwei der Schattenanbeter schreiend vor ihr zurückwichen und durch irgendeine Hintertür aus dem Tempel flohen. Der alte Mann jedoch und der, der ihm am nächsten gestanden hatte, wurden mit voller Wucht von ihren Kräften erfasst und lagen jetzt zuckend und sich krümmend am Boden. Sie zog sich an einer der Bänke hoch, und als sie die Hand wegnahm, war das Holz faulig und morsch.

Schwer schleppte sie sich auf die Tür des Tempels zu: Wie durch einen Schleier sah sie, wie draußen ein paar Windreiter auf die Schwarzgekleideten losstürmten. Die Magier wirkten irritiert, aber sie wusste, dass es damit nicht getan war; mehr als einer schüttelte seinen Schrecken allzu schnell ab und feuerte daraufhin mit neuer Entschlossenheit Energiebälle auf seine Gegner und in die wuselnden Leiber aus Flüchtenden. Sie zwang sich, einen tiefen Atemzug zu nehmen und spürte dabei, wie die Säure in ihrem Inneren kochte.

›Mach schon‹, schien sie ihr zu sagen, ›los, mach! Du weißt, dass du es tun musst! Tun willst!‹

Megan hatte Angst, aber eine Wahl blieb ihr nicht; unter Aufbietung all ihrer Willenskraft ließ sie das Übel los, aber in dem Moment, in dem sie es tat, merkte sie, dass sie die Kontrolle verlor; wie eine schäumende Woge stürzte das Übel über ihr zusammen, raste durch ihre Venen, ihre Hände und Finger, durch ihren Mund und ihre Augen nach draußen und verschlang alles, was es erreichen konnte. Megan keuchte und stürzte in die Knie, die Arme um sich geschlungen, den Mund zu einem Schrei geöffnet, den sie unter keinen Umständen ausstoßen durfte. Sie kauerte im Mittelgang des Tempels wie eine Kreißende, die versuchte, die ungeborene Frucht in sich zurückzuhalten, ebenso gequält und ebenso ohne jede Hoffnung auf Erfolg. Ihr Leib glühte und brodelte, und es hätte sie nicht überrascht, wenn die Steine, auf denen sie kniete, geschmolzen wären.

Das geschah jedoch nicht, und als die Schmerzen allmählich nachließen, erschien ein vertrautes Gesicht in ihrem Blickfeld.

»He Kleine«, sagte Rhùk besorgt und streckte die Hand nach ihr aus.

»Fass mich nicht an!«, schrie sie und wich vor ihm zurück. »Geh weg von mir! Niemand darf mir zu nahe kommen!«

Rhùk gehorchte und trat einen Schritt zurück, eine tiefe Falte auf der Stirn. »Kannst du es zurückhalten?«, fragte er.

Megan nickte, ohne zu antworten; langsam klärte sich ihre Sicht, und das letzte Aufbegehren ihrer Kräfte erstarb. Dennoch würde es eine Weile dauern, bis sie gefahrlos wieder jemanden berühren konnte. Es war keine gute Idee, das Übel zweimal hintereinander einzusetzen, erkannte sie. In den vergangenen Monden hatte sie zu oft und zu großzügig davon Gebrauch gemacht; sie hätte es wissen müssen.

»Was ist mit den anderen?«, fragte Megan, »mit den Magiern? Sind sie tot?«

»Die meisten«, erwiderte Rhùk ruhig, in dem Moment, in dem Kirin in den Tempel gestürmt kam, dicht gefolgt von seinem Freund von den Òrrowe-Inseln. »Auch wenn ich glaube, dass einige dieser Bastarde irgendwo zwischen den Leuten versteckt gehockt und von dort aus ihre Magiegeschosse geschleudert haben, um Panik zu verbreiten. Weiß der Schatten, wo die hin sind.« Rhùk wandte sich zum Tempeleingang um und spähte nach draußen.

»Die Stadtwache muss sofort alarmiert werden, damit sie die Menschen beruhigen und noch mehr Tote und Plünderungen verhindern.«

Der junge Mann namens Larniax atmete schwer; er wies einige Schürfungen und Prellungen im Gesicht auf, schien ansonsten jedoch unverletzt zu sein.

»Veranlasst das«, nickte Kirin. »Sofort. Und schickt auch Boten zur Windreiterkaserne, wir brauchen jeden Einzelnen, für den Fall, dass die übriggebliebenen Schattenjünger weitere Übergriffe auf die Leute planen.«

Larniax salutierte und eilte nach draußen.

Mittlerweile hatte Megan sich soweit erholt, dass sie aufstehen konnte; Rhùk und Kirin wichen vor ihr zurück, und erst in diesem Moment erinnerte sie sich wieder an die beiden Ordensjünger, die von ihrer Attacke überrascht worden und zu Boden gestürzt waren. Sie lagen beide am Ende des Mittelganges beim Gottesaltar, und noch ehe sie sie erreicht hatte, war ihr klar, dass einer von ihnen tot war. Es war der Jüngere, und so wie es aussah, war irgendetwas in seinem Kopf geplatzt, als Megan ihn angegriffen hatte; Blut strömte aus seinen Ohren, seinen Augenhöhlen, Mund und Nase, und die Hände hatte er in einer letzten abwehrenden Geste um seinen Schädel geschlungen.

 

Der andere hingegen, der, der Megan bei den Haaren gepackt hatte, schien zu leben; in dem Moment, in dem Megan und die beiden anderen sich ihm näherten, zuckte er und schlug nur einen Moment später die Augen auf; das Weiße darin war blutunterlaufen, und auch aus seiner Nase floss ein dünnes rotes Rinnsal, doch noch in dem Augenblick, in dem er sie bemerkte, hob er die Hände, wie um einen magischen Angriff vorzubereiten.

Rhùk war so schnell, dass sie es von bloßem Auge kaum mitbekam; wie ein Sturmwind fegte er an ihr vorbei und versetzte dem Mann mit der flachen Seite seiner Klinge einen Schlag auf die Finger, dass sie Knochen brechen hörte.

Der Mann heulte auf, verstummte jedoch einen Herzschlag später, als Rhùk ihm seine Waffe an die Kehle setzte. Kirin kam von der anderen Seite her auf ihn zu und hielt ihm seinerseits beide Schwerter vor die Augen.

»Du wirst uns einiges erzählen«, erklärte er mit schneidender Kälte in der Stimme. »Wir haben Fragen, die du uns beantworten wirst. Tote, für die du dich zu rechtfertigen hast. Wir drei«, er beschrieb mit der Klinge einen Bogen, der ihn selbst, Rhùk und Megan einschloss, »werden dich in den Palast eskortieren. Überleg dir gut, ob du uns Schwierigkeiten machen willst. Wir wissen, womit wir es zu tun haben, und ich hoffe für dich, dass du es jetzt auch weißt.«

Eine der Klingen berührte die Stirn des Alten und hinterließ einen winzigen Blutstropfen. Seine Brust hob und senkte sich rasch unter seinen pfeifenden Atemzügen. Er blickte von einem zum anderen, dann nickte er.

Zum Palast zurückzukommen, war schwierig; überall wimmelte es von panischen, schreienden Menschen, obwohl Larniax seinen Auftrag sehr schnell ausgeführt und die Stadtwache mobilgemacht hatte, die die Leute zusammentrieb und zur Ordnung rief. Während sie gingen, ließen Rhùk und Megan den Ordensvorsteher keinen Augenblick aus den Augen, und auch Kirin nahm sein Schwert nicht von dessen Kehle. Dennoch breitete sich in seinem Magen ein altbekanntes Gefühl aus, ein Gefühl der Vorahnung, das den Sieg, den sie gerade errungen hatten, bitter schmecken ließ.

Etwas war falsch an dieser Sache.

Sicher, die List war lange geplant gewesen; dass Megan sich als Elouané verkleiden und die Schwarzmagier anlocken würde, damit sie sie im entscheidenden Moment angreifen und die anderen einen von ihnen gefangen nehmen konnten. Aber irgendwie hatte er damit gerechnet, dass die Hexer mehr Widerstand leisten würden. Das war vielleicht zynisch, denn die Verluste, die es unter den Windreitern gegeben hatte, waren schlimm, ganz zu schweigen von der übrigen Bevölkerung. Trotzdem …

Sie passierten die Tore des ersten Stadtrings, die wegen der Unruhen hinter ihnen geschlossen wurden, und in dem Moment, als der Riegel zuschnappte, jagte ein Stich durch Kirin, der ihn nach Luft schnappen ließ.

»Was ist?«, fragte Megan, als Kirin abrupt stehenblieb. Rhùk legte seine beiden Schwerter um den Hals des Ordensmannes wie eine Schere, damit dieser nicht auf dumme Gedanken kam, und fixierte nur das alte, runzlige Gesicht, als er fragte: »Stimmt was nicht, Kleiner?«

Kirin konnte nicht antworten; auf der Ringmauer hinter ihm saß eine Schneeeule, und die Art, wie sie ihn ansah, ließ ihm das Herz gefrieren.

›Ein Fehler‹, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, ›du hast einen Fehler gemacht!‹

Die Eule beobachtete ihn.

Doch nicht nur sie.

Die Eule hatte ihm Hinweise gegeben, hatte den schwarzen Orden verraten. Woher wollte er wissen, dass andere Vögel nicht genauso viel wussten? Und woher wollte er wissen, dass andere Vögel nicht ebenfalls Verräter waren?

»Ich muss sofort in den Palast zurück!«, rief er und rannte los, so schnell wie nie zuvor in seinem Leben. Er achtete nicht auf die Rufe seiner Gefährten hinter ihm, denn ihre Stimmen wurden verdrängt von der einen, die in seinem Kopf war und die nur noch einen Gedanken zuließ:

Elouané.

Fort

Sie wandelte durch die Straßen der schwarzen Stadt, die Arme vor sich ausgestreckt; sie ahnte ihren Weg mehr, als dass sie ihn sah, nur geleitet vom glatten, feuchten Boden unter ihren Füßen. Unzählige Augen ruhten auf ihr, doch seltsamerweise machten sie ihr in diesem Moment keine Angst. Sie war auf dem Weg nach Hause, spürte sie, und auf diesem Weg konnte ihr nichts und niemand gefährlich werden. Wie immer war die Stimme allgegenwärtig, doch sie klang sanfter, freundlicher als sonst, als wüsste der, der dort rief, dass sie endlich den richtigen Weg gefunden hatte und nicht mehr davon abweichen würde.

›Komm‹, sagte sie, ›komm nach Hause. Komm.‹

»Ich komme«, antwortete Elouané und schloss lächelnd die Augen, als ein sanfter Wind ihr Gesicht streifte. Sie hob die Arme und fühlte, wie sie wie ein Blatt im Wind davongetragen wurde. Sie tanzte, schwebte, folgte dem Wind, ohne sich zu widersetzen. Sie fühlte die warme Feuchtigkeit an den Wänden der Häuser, die an ihr vorbeizogen, und schon von weitem sah sie den Turm, der über alles andere hinausragte wie ein Speer, der auf das Herz des Himmels zielte. Sie erkannte, wie schön er eigentlich war, wie vollkommen, und ihr Herz begann zu klopfen, als sie immer schneller darauf zuflog, sie streckte die Hände danach aus, wünschte ihn sich näher, brannte darauf …

Elouané wachte auf.

Zu ihrem Schrecken stellte sie fest, dass sie die Hände im Schlaf vor sich ausgestreckt hatte, als wollte sie tatsächlich nach dem schwarzen Turm greifen, der ihr im Traum so wirklich vorgekommen war. Sie ließ die Arme sinken, nur um im nächsten Augenblick zusammenzuzucken: Sie war nicht im Schrein der Waage, wo sie sich nach Kirins Aufbruch hinbegeben hatte, um zu beten, sondern stand auf einem verlassenen, mit Platten ausgelegten Pfad, der links und rechts von hohen Hecken umgeben war und den sie nicht kannte.

Entsetzt fuhr sie herum; wo auch immer sie hinsah, erstreckten sich nur gleichförmige, von Hecken umgebene Wege, und sie waren menschenleer. Sie zitterte, und als sie an sich hinuntersah, bemerkte sie, dass sie barfuß war und auch ihr Gebetstuch nicht mehr bei sich trug.

›Was geht hier vor?‹

Sie hob ihre bebende Hand an die Stirn, um sich zu beruhigen, und versuchte sich zu erinnern, wie sie hierhergekommen war. Sie hatte beim Schrein gekniet und gebetet und war plötzlich so müde geworden … danach erinnerte sie sich an nichts.

Undeutlich fiel ihr ein, dass Megan ihr einmal von sogenannten Schlafwandlern erzählt hatte, die sie in der Bibliothek von Aléh hatte behandeln müssen. Als Elouané ihr von ihren Träumen berichtet hatte, hatte sie ihr beruhigende Kräutersäfte zubereitet, die die Wirkung dieser Erscheinungen hatten mildern und verhindern sollen, dass sie in der Nacht herumlief. Gegen die Träume hatten sie zwar nicht geholfen, aber zumindest war Elouané dabei ruhig liegengeblieben. Jetzt aber schien die überwältigende Kraft der Traumgebilde sie eingeholt zu haben. Sie atmete tief ein und aus und versuchte sich zu beruhigen.

›Ich muss noch irgendwo in den Gärten des Palastes sein‹, überlegte sie, ›ansonsten wäre ich irgendwann gegen Mauern oder Gitter gestoßen.‹

Aber wo? In den kurzen Wochen, die sie im Haus des Großfürsten verbracht hatte, hatte sie nur zu erahnen begonnen, wie weitläufig die Parkanlagen wirklich waren; sie beherbergten ein Theater und Wasserspiele und unzählige kleine Pergolen, die als Rückzugsorte dienten und die gut versteckt in entlegenen Winkeln der Gärten lagen. Sie hatte einmal ein Bild gesehen, nach dem die Außenanlagen angelegt worden waren, und dabei hatte sich ihr ein unübersichtliches, verwinkeltes Labyrinth präsentiert, in dem man sich tagelang aufhalten konnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen.

›Aber Kirin hat überall Wachen aufstellen lassen‹, dachte sie. ›Sogar vor dem Heiligtum standen welche. Wo sind sie?‹

Sie warf einen hilfesuchenden Blick zum Himmel; sie hatte sich vor Sonnenaufgang zum Gebet niedergelassen, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass seither eine Menge Zeit verstrichen war. Die Sonne war nirgends zu sehen, und mit jedem Herzschlag, den sie weiter so verharrte, schien es dunkler zu werden.

Ein Krächzen in ihrem Rücken ließ sie zusammenfahren, und als sie hinsah, erkannte sie eine riesenhafte Krähe, die in den Ästen der nächstgelegenen Hecke hockte und sie mit boshaftem Vergnügen beobachtete.

Elouané wich zurück, bis sie die gegenüberliegenden Büsche im Rücken spürte.

»Geh weg von mir, Vogel der Finsternis«, wisperte sie und machte unbewusst das Zeichen der Drei über ihrer Stirn. Sie hatte früher Zuneigung zu jeder Art von Lebewesen empfunden, aber seit sie gesehen hatte, wie die Hexer des schwarzen Ordens diese Tiere für ihre Zwecke manipulieren konnten, waren Abscheu und Argwohn in ihr gewachsen. Der Vogel rührte sich nicht, sondern erwiderte stumm ihren Blick, ein hämisches Glitzern in den Augen.

Zu ihrer Linken raschelte ein Zweig, und Elouanés Herz machte einen Satz in ihre Kehle; die Dunkelheit wurde dichter auf diesem Teil des Weges, und während sie hinsah, war ihr, als kröchen lebende Schatten über den Boden auf sie zu, um ihre Fußgelenke zu packen. Sie wirbelte herum und rannte los, das alarmierte Krächzen des Vogels ignorierend. Bei der nächsten Wegkreuzung stürzte sie blindlings nach rechts, während ein dunkler Lufthauch ihren Nacken streifte.

Raus hier – sie musste raus aus den Gärten und jemanden finden!

Da trat jäh vor ihr eine Gestalt auf den Weg.

Elouané sah nur das Wirbeln von Roben und das Blitzen eines Messers in der Hand des Mannes – und noch ehe sie bremsen konnte, prallte sie gegen ihn. Der Mann strauchelte und fluchte, wedelte mit den Armen durch die Luft und versuchte sein Gleichgewicht wieder zu finden. Elouané fuhr auf dem Absatz herum, um davonzurennen, doch in diesem Augenblick schlossen sich kräftige Finger um ihren rechten Oberarm und zogen sie zurück. Elouané schrie und kämpfte wie wild und zerkratzte ihm mit ihren Fingernägeln das Gesicht.

»Aua! Verflucht, Mädchen, wartet doch mal! Beruhigt Euch!«

Elouané zögerte; sie blinzelte heftig, und als ihr Blick sich klärte, erkannte sie ein bärtiges Gesicht mit deutlich arachinischen Zügen, außerdem fiel ihr auf, dass die Robe, die der Mann trug, nicht schwarz, sondern braun war. An seiner rechten Wange prangte eine hässliche Kratzspur, doch als sie aufhörte sich zu wehren, lockerte er seinen Griff ein wenig.

Verwirrt musterte er sie.

»Seid Ihr nicht die junge Novizin, die der Großfürst unter seinen Schutz gestellt hat?«, fragte er. »Was, bei den Dreien und all ihren Geschöpfen, macht Ihr hier?«

Elouané musterte sein Gesicht; sie glaubte, den Mann schon einmal im Palast gesehen zu haben, wie er flüchtig mit Megan sprach. Er war ein Heiler, seiner Robe nach zu schließen. Kirin hatte ihn aus seinem Kreis ausgeschlossen, weil … Elouanés Herz zog sich zusammen; weil er dem schwarzen Orden zur Rückkehr verholfen hatte.

Sie riss ihren Arm von ihm los und wich zurück.

Der Heiler betastete seine verletzte Wange und verzog das Gesicht. Dann sah er sich um, sichtbar irritiert. »Ihr solltet nicht hier herumwandern, ganz allein! Wo sind Eure Wachen? Seine Exzellenz hat ausdrücklich befohlen, dass Ihr stets unter Aufsicht bleiben müsst.« Einen Moment lang dachte der Mann nach, dann fuhr er mit gerunzelter Stirn fort: »Überhaupt dachte ich, Ihr wäret heute mit Seiner Exzellenz fortgegangen, um Euren Tempel einzuweihen? Die ganze Stadt spricht davon. Seine Exzellenz hat zwar in letzter Zeit davon abgesehen, mich persönlich über seine Vorhaben zu informieren, aber …« Erst jetzt bemerkte er ihren Gesichtsausdruck. »Kind, was ist mit Euch? Ist Euch nicht gut? Ihr seht aus, als hättet Ihr ein Gespenst gesehen!«

Elouané antwortete nicht; ihr Blick hing starr an der Waffe in den erdverklebten Fingern des Heilers; es war ein gebogener, brutal aussehender Dolch, in dessen Griff Runen und Verzierungen eingraviert waren.

Schattenrunen.

Derselbe Dolch, den der Dunkle Gott auf vielen Darstellungen bei sich trug.

Sie wich zurück, sämtliche Muskeln angespannt.

 

Der Heiler folgte ihr.

»Was habt Ihr denn? Wo ist Asusza? Wo sind Eure Leibwächter?«

Elouané antwortete noch immer nicht, und endlich schien der Mann zu begreifen; er folgte ihrem Blick und ließ hastig den Dolch sinken. »Habt keine Angst«, versuchte er es und verstaute die Waffe an seinem Gürtel. »Ihr habt nichts zu befürchten. Aber es ist dennoch besser, wenn ich Euch …«

Einen Herzschlag wandte er den Blick ab, und Elouané nutzte ihre Chance; ohne auf seinen überraschten Ruf zu achten, rannte sie los, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie stürmte auf den kleinen Kreuzweg hinaus, an dem sie zuvor rechts abgebogen war, hetzte ohne nachzudenken weiter – und prallte zum zweiten Mal binnen weniger Minuten mit jemandem zusammen, diesmal so heftig, dass es sie rücklings hinschlug. Die Luft wich aus ihren Lungen, und einen Augenblick sah sie nichts außer verschwommenen Schlieren, während sie verzweifelt versuchte, wieder zu Atem zu kommen. In dem Augenblick, als sie sich auf den Bauch drehte, senkte sich ein schwarzer Stiefel vor ihr ins Gras.

»Nun seht, wie unser Gebieter stets über uns wacht«, sagte eine schnarrende Stimme. »Von Seinem Willen geführt, läuft das ersehnte Gefäß uns direkt in die Arme.«

Elouané sah hoch und schauderte, als der schwarzgekleidete Mann sich über sie beugte; sein hageres Gesicht war verzerrt und wirkte in dem seltsamen Zwielicht des Gartens kaum lebendig.

»Kaum zu glauben, welche Mühe es einigen meiner Brüder bereitet hat, dich zu finden«, meinte er weich, »wo du dich doch so bereitwillig in unsere Obhut begibst.«

Wieder raschelte es hinter ihr, und einen Augenblick später erschien der Heiler zwischen den Hecken. Sein Blick wanderte von Elouané zu dem Schwarzgekleideten, und während er noch hinsah, tauchten aus den angrenzenden Wegen weitere Schatten auf.

»Sieh da«, höhnte der mit dem verwischten Gesicht und erhob sich. »Ein Zuschauer.«

»Das ist der Mann, der unserem Oberen Stilicho die falschen Versprechungen gemacht hat«, wisperte einer seiner Gefährten, die jetzt einen engeren Kreis zogen, sodass weder Elouané noch der Heiler einen Fluchtweg hatten. »Der Heiler.«

Hämisches Kichern breitete sich unter den Männern aus, dass sich Elouané die Nackenhaare sträubten.

Der Heiler trat vor, während er argwöhnisch von einem zum anderen blickte. »Was habt ihr hier zu suchen? Wie seid ihr an den Wachen vorbeigekommen?«

Wieder lachten die Männer.

»Nun, das mit deinen Wachen hat sich erledigt«, erwiderte der Mann mit den deformierten Zügen. »Der kleine Junge, dem du dienst, dachte wohl, wir wären dumm genug, auf seine Täuschung hereinzufallen – es war ein Fehler von ihm, so viele seiner Soldaten abzuziehen. Es braucht viele gewöhnliche Menschen, um mit wenigen von uns fertigzuwerden.«

Der bärtige Heiler machte einen weiteren vorsichtigen Schritt nach vorn, sodass er an Elouanés Seite stand. »Falls ihr es auf Seine Exzellenz abgesehen habt, ist euer Vorgehen dennoch töricht: Die Palastsoldaten werden mit ihm kommen, wenn er zurückkehrt.«

»Falls er zurückkehrt«, berichtigte der Schwarzgewandete, und seine Gefährten lachten wieder. Dann jedoch wurden die verwischten Züge ernst. »Aber genug mit dem Geschwätz; dein Großfürst ist nicht von Belang für mich – mein Gott wird ihn früh genug verschlingen, weil er es wagte, sich gegen Ihn zu erheben. Alles, was mich interessiert, ist das Gefäß. Wir werden sie in die Heimat unseres Gottes bringen, und du wirst uns dabei nicht im Weg sein, oder auch du wirst Seinen Zorn auf dich ziehen.«

Der Heiler sagte nichts und sah sich langsam nach Elouané um; sie hatte sich auf die Füße gekämpft, doch sie wusste, dass sie nirgendwohin fliehen konnte. Der Heiler erwiderte ihren Blick einen Augenblick lang mit undeutbarer Miene, dann machte er einen einzigen, demonstrativen Schritt zwischen sie und die Männer in Schwarz.

Erneut brandete hie und da Gelächter auf, Elouanés Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Das ist eine sehr dumme Entscheidung«, sagte der Mann mit dem entstellten Gesicht kalt und hob die Hand.

Es war, als sähe Elouané dabei zu, wie sich zwischen ihr und dem Mann in Schwarz ein Wasserfall auftat; die Luft um seine Hände wurde flüssig, dann ertönte ein fürchterliches Brausen, und im nächsten Augenblick traf ein magischer Schlag den Heiler, mit solcher Wucht, dass er nach hinten in die Hecke geschleudert wurde und sie umriss; Äste und Strauchwerk regneten auf ihn nieder und begruben ihn augenblicklich unter sich.

Er bewegte sich nicht mehr.

»NEIN! NEIN! MÖRDER! UNGEHEUER!«

Elouané schrie und weinte wild durcheinander, aber ehe sie irgendetwas tun konnte, schob sich wie eine Wand aus Finsternis der Mann mit dem furchtbaren Gesicht in ihr Blickfeld. Mit eiskalten Händen packte er ihr Gesicht und verschloss ihr den Mund, sodass sie kaum noch Luft bekam. Sie schüttelte den Kopf, wollte sich freimachen von ihm und seinen grässlichen Fingern – und dann sickerte etwas in ihren Verstand wie kühler, flüssiger Honig, ihre Augen rollten nach innen und alles wurde schwarz.

»Sie ist fort.«

Kirin hatte damit gerechnet, von dem Moment an, als er die Schneeeule gesehen hatte, aber es laut zu hören, war trotzdem unsagbar grausam. Das Gesicht in den Händen vergraben, saß er am Kopfende eines von scheußlichen medizinischen Düften umgebenen Bettes, während draußen eine blutrote Sonne unterging.

Der Kampf in der Stadt hatte lange gedauert, und noch länger die Suche nach Elouané, bei der sie den gesamten Palast auseinandergenommen hatten. Schließlich hatte man weit in den westlichsten Ausläufern der Gärten Aderuz gefunden, von einer völlig zerstörten Hecke begraben, an ihm die deutlichen Spuren schwarzer Magie. Als die Windreiter festgestellt hatten, dass der Mann entgegen aller Hoffnung noch lebte, hatten sie ihn so schnell wie möglich in den Palast gebracht, wo Megan und einige Heilergehilfen sich seiner angenommen hatten. Der Unterschenkel, der von einem magischen Angriff komplett zerfetzt worden war, hatte bis zum Knie amputiert werden müssen, außerdem waren laut Megan mehrere Wirbel gebrochen und Gewebe verätzt, das sie ebenfalls entfernt hatte. Trotzdem glaubte sie, dass Aderuz überleben konnte.

Wenn er Glück hatte.

Larniax, der die bitteren Worte ausgesprochen hatte, verharrte reglos an der Tür und blickte einigermaßen hilflos von einem zum anderen. »Was tun wir jetzt?«

Monzù stand mit finsterer Miene am Fußende des Bettes und hielt den Blick starr auf das Gesicht des ohnmächtigen Heilers gerichtet. »Die Stadt quillt über vor panischen Menschen, Plünderern und Soldaten. In diesem Durcheinander werden wir sie nie finden.«

»Wahrscheinlich ist sie ohnehin längst tot«, entgegnete Rhùk ohne eine Spur seines üblichen Spotts. Bei diesen Worten zogen sich Kirins Eingeweide zusammen, doch ehe er etwas entgegnen konnte, hob Megan den Kopf: »Wenn sie tot wäre, hätten sie sich wohl kaum die Mühe gemacht, sie mitzunehmen. Die anderen haben sie auch einfach liegenlassen.«

Unweit der westlichen Gartenmauer hatte man vier tote Windreiter gefunden, die offensichtlich völlig überrascht worden waren; nur einer von ihnen war noch dazu gekommen, seine Schwerter zu ziehen. Offenbar hatten die Schwarzmagier gewusst, wo im Palast sich am wenigsten Wachen befinden würden. Was allerdings Elouané dazu bewogen hatte, derart weit vom Palast entfernt in den Gärten herumzuirren, wusste niemand.

Asusza stand grimmig schweigend an der Tür; sie hatte über Elouané gewacht, als sie in dem Schrein gebetet hatte. Das Mädchen sei eingeschlafen, berichtete sie, und urplötzlich habe Asusza schreckliche Geräusche gehört, die aus den Fürstengemächern gekommen seien. Sofort hatte sie sich aufgemacht, um nachzusehen, nur um von den dortigen Wachen versichert zu bekommen, dass alles ruhig sei und keiner von ihnen auch nur im Entferntesten Lärm gehört habe. Als sie daraufhin zum Schrein zurückgekehrt war, war Elouané weggewesen, und wie sehr sie auch nach ihr gesucht hatte, sie hatte sie nicht mehr finden können.