Die Chroniken der drei Kriege

Tekst
Autor:
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Kirin begriff, noch ehe sie geendet hatte: »Du glaubst, die Schattenjünger wissen von dieser Geschichte und haben vor, sie zu wiederholen. Sie wollen, dass dieser andere ‹Auserwählte’ Elouané schwängert und ihr Gott in einem Kind wiedergeboren wird.«

»So oder so ähnlich«, nickte Megan, deren Begeisterung über ihre Entdeckung verblasste. »Und zwar, wenn ich das richtig deute, in dieser einen bestimmten Nacht, in der ‹der Blutmond am Himmel erstrahlt’, was auch immer das bedeutet.«

Kirin rieb sich die Stirn. »Als ich in der Bibliothek in Aléh war, hat mir einer der Astronomiemeister erzählt … lass mich überlegen … dass es bei einem bestimmten Stand der Sonne dazu kommen kann, dass ein Schatten auf den Mond fällt und es so aussieht, als wäre er rot. Er meinte, in den alten Geschichten hätten die Leute dann von einem Blutmond gesprochen.«

Megan zog die linke Augenbraue hoch. »Großartig, und woher wissen wir, wann wieder so eine Erscheinung auftritt?«

Kirin schnippte mit den Fingern. »Es gibt einige Gelehrte am Hof, die sich mit solchen Dingen beschäftigen. Ich schicke Larniax zu ihnen, er soll sie fragen.«

Megan nickte. »Und außerdem würde ich mich noch einmal mit diesem reizenden Ordensvorsteher befassen – er soll uns sagen, was genau bei diesem Ritual geschieht – und vor allem, wo es stattfindet.«

Megan hatte kaum den Mund geschlossen, als die Tür zum Beratungszimmer aufgerissen wurde.

Mìszak kam hereingeplatzt, für einmal völlig außer sich.

»Exzellenz, vergebt mir die Störung«, stammelte er, »aber Ihr solltet sofort kommen … der Priester, Exzellenz … er hatte eine Art Anfall … Seine Wachen sind ratlos …«

Schreckliches ahnend, folgte Kirin Mìszak im Laufschritt hinunter in die Kerker. Schon von weitem schlug ihm der Gestank von verbranntem Fleisch entgegen. Als er den Kerker betrat, hatten sich die Windreiter um einen riesigen schwarzen Brandfleck am Boden versammelt, die Schilde aus Stahl lagen nutzlos neben ihnen auf dem Boden.

Bei seinem Anblick richteten die Krieger sich auf.

»Herr«, sagte einer von ihnen, »es ist uns unerklärlich, Herr … wir haben ihn bewacht, wie Ihr sagtet, und auf einmal ist er zusammengebrochen. Wir haben nicht gewagt, uns ihm zu nähern, aus Angst, es wäre eine List … und dann, aus dem Nichts, ist er in Flammen aufgegangen, als ob ihn jemand mit Pech übergossen hätte. Es hat nur wenige Lidschläge gedauert.«

»Ihr habt keine Schuld«, beruhigte ihn Kirin. »Vermutlich wollte er verhindern, dass wir ihm noch mehr Geheimnisse abpressen.« Er stieß einen wüsten yoreninischen Fluch aus, dann wandte er sich von der verbrannten Fläche am Boden ab. »Kehrt auf eure Posten zurück. Und trommelt Larniax, Monzù und Rhùk zusammen – wir haben ein Problem.«

Aufbruch

Die Stimmungen, die die fünf anwesenden Personen ausstrahlten, hätten kaum unterschiedlicher sein können: Monzù wirkte ungläubig, Larniax besorgt, Rhùk nachdenklich und Kirin, der seinen Gefährten während der vergangenen Viertelstunde die neuesten Ereignisse geschildert hatte, war mittlerweile so heiser, dass er nicht mehr sprechen konnte. Megan für ihren Teil schien die Bibliothek des Palastes geradezu geplündert zu haben: Ein ganzer Stapel von Geschichts- und Mythologiewerken, Aufzeichnungen und Überlieferungen lagen um ihren Stuhl herum am Boden und auf dem Tisch verteilt, während sie selbst mit gerunzelter Stirn über dem dicksten davon brütete. Der Hofastronom hatte ein wahres Glanzstück vollbracht und Kirin binnen kürzester Zeit berechnen können, dass der nächste Blutmond in genau drei Monden aufgehen würde, und zwar am besten sichtbar im Nordwesten des Kontinents. Das Besondere an diesem Ereignis, hatte der Mann Kirin mit glänzenden Augen verkündet, war außerdem, dass es einen Vollmond treffen würde, etwas, was laut den arachinischen Aufzeichnungen seit tausenden von Jahren nicht mehr vorgekommen war. Für Kirin und Megan war das ein weiteres, unheilvolles Zeichen dafür, dass ihre Schlussfolgerungen korrekt waren.

»Also haben diese Spinner im Sinn, Elouané irgendwohin zu schleppen, damit der Oberste und Verrückteste von ihnen sie vergewaltigen kann. In der Hoffnung, dass eine Art Ungeheuer aus dieser Verbindung entsteht.« Rhùk lachte schnaubend auf. »Ha! Wenn ich gewusst hätte, dass es so einfach ist: Ficke ein kleines Mädchen und ein mächtiger Gott wird dafür sorgen, dass die Welt genauso wird, wie du sie dir wünschst.«

»Aber Ihr glaubt nicht wirklich, dass so etwas geschieht?«, warf Monzù sehr vorsichtig ein. »Dass ein lange geächteter Gott sich erhebt und die Herrschaft über die Welt an sich reißt?«

Kirin sah ihn an.

»Ich habe in den letzten Monden Dinge erlebt, die mich an meinem Verstand haben zweifeln lassen. Aber jetzt weiß ich: Was ich gesehen habe, war real, und all das, wogegen wir bisher zu kämpfen hatten, nur die Vorbereitung auf das, was kommt. Wenn es den Schattenjüngern gelingt, ihr Ritual durchzuführen, sind die Folgen davon schrecklicher, als wir es uns ausmalen können.«

Monzù räusperte sich. »Exzellenz, ich stimme mit Euch überein, dass es furchtbar ist, was sie mit diesem armen Mädchen vorhaben – aber die Morde, die die Schattenjünger an Eurem Volk verübt haben, waren es ebenso, ohne dass dadurch der ganze Kontinent untergegangen wäre. Tatsächlich scheint es so, als ob diese schattenverehrenden Kreaturen sich mit dem Mädchen auf und davongemacht hätten – das gibt Euch Gelegenheit, die Wunden der Bevölkerung zu heilen und die Stadt für ihre eventuelle Wiederkehr zu wappnen.«

Megan sah von ihrem Buch auf. »Also schlagt Ihr vor, gar nichts zu tun?«

»Ich will nur nicht, dass Seine Exzellenz den Fehler macht, eine überstürzte Verfolgungsjagd in die Wege zu leiten. Woher wollen wir wissen, ob für uns eine Gefahr besteht? Er hat mehr als genug Feinde, die wirklich und nahe sind!«

Kirin holte tief Luft. »Die Schattendiener schrecken vor nichts zurück, um ihren Plan zu verwirklichen. Der alte Ordensführer hat sich umgebracht, um zu verhindern, dass wir ihm noch mehr Wissen abpressen! Glaubt Ihr, er hätte das getan, wenn er sich seiner Sache nicht absolut sicher wäre?«

»Natürlich sind diese Fanatiker davon überzeugt, dass diese Schandtat ihnen dazu verhilft, ihren Gott in die Welt zurückzurufen«, entgegnete Monzù und machte einen ungeduldigen Schritt auf Kirin zu. »Aber das heißt nicht, dass wir ebenfalls ihrem Wahn verfallen sollten!«

»Auch von der Magie hieß es lange, sie sei bloße Erinnerung, vielleicht nichts als ein Märchen«, warf Rhùk leise und erstaunlich überlegt ein. »Ihr seht, wie viele Tote sie gestern gefordert hat.«

»Trotzdem könnt Ihr nicht einfach eine Truppe von Kriegern hinter diesen Ketzern herschicken – wir wissen nicht einmal, wo sie hinwollen!«

»An die Ufer des Verlorenen Meeres«, warf Megan ein und tippte mit einem dünnen Finger auf eine Seite ihres Buches. »Zu einem Berg, der Amodros heißt – auch wenn ich diesen Namen noch nie gehört habe. Genauso wenig wie irgendeiner eurer Gelehrten hier.«

Monzù schnaubte. »Gut, dann braucht Ihr nur noch die iliantische Küste nach einem unbekannten Berg abzusuchen! Exzellenz, das ist Wahnsinn! Selbst wenn Ihr sämtliche verfügbaren Truppen entsenden würdet, würden sie Wochen brauchen, bis sie das Verlorene Meer erreichen, geschweige denn seine Gestade in Augenschein genommen haben.«

»Ich habe nicht vor, meine Truppen dorthin zu schicken«, sagte Kirin, und Monzù schloss den Mund, sichtbar erleichtert.

»Ich werde selbst gehen.«

Die Züge des älteren Mannes entgleisten, und auch Larniax trat bei diesen Worten erschrocken vor. »Exzellenz!«, rief er, »das ist viel zu gefährlich! Denkt an die Magie dieser Ungeheuer! Ihr könntet getötet werden!«

»Außerdem habt Ihr einen Weg von mehr als tausend Meilen zurückzulegen!«, warf Monzù ein. »Ein Marsch durch kaum bewohntes Land Richtung Norden, jetzt, wo der Winter hereinbricht! Ihr wärt Monde unterwegs!«

»Deswegen muss ich so schnell wie möglich aufbrechen«, erwiderte Kirin. »Und ich werde nur ein paar Leute mitnehmen, je weniger wir sind, desto eher entgehen wir vielleicht den Spähern des dunklen Ordens.«

»Exzellenz, für so ein Unternehmen müssen Vorbereitungen getroffen werden, Tage und Wochen der Planung …«

»Wir brechen morgen auf«, unterbrach Kirin den Adeligen, ohne auf sein ersticktes Keuchen zu achten. »Die Schattendiener haben schon einen Vorsprung von mindestens einem Tag, wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren. Larniax?«

Der junge Krieger trat vor.

»Bitte informiert meine Leibwache und die Windreiter in den Kasernen, dass sie zwanzig ihrer besten Krieger bereitstellen lassen sollen.«

»Ich werde Euch begleiten, Exzellenz«, sagte Larniax beherzt und schlug sich mit der Faust auf die Brust.

Kirin musterte ihn einen Moment, dann nickte er. »Gut. Bereitet Euch vor, esst und schlaft Euch aus. Es wird ein harter Weg werden, und was uns an seinem Ende erwartet …« Er brach mit einem Schulterzucken ab. Der blauäugige Soldat nickte nur, dann eilte er davon, um Kirins Befehle auszuführen.

Kirin wandte sich nach Rhùk um. »Ich weiß, ich habe kein Recht, dich zu fragen …«

»Kleiner, du wärst schon beim ersten Regenschauer verloren ohne mich«, meinte Rhùk lässig und legte die Beine auf die Tischplatte.

Trotz seiner Anspannung brachte Kirin ein Lächeln zustande. »Danke.«

Megan stand auf.

»Wir müssen noch einiges packen«, sagte sie und klemmte sich ihr Buch unter den Arm. »Ich hoffe, ich bekomme unterwegs Gelegenheit, die Untersuchungen zur Zweigeborenenlegende genauer durchzusehen. Irgendwo muss ein Hinweis auf diesen Amodros-Berg zu finden sein.«

 

»Das schlag dir lieber gleich aus dem Kopf«, fuhr Rhùk dazwischen, von einem Moment auf den anderen ernst. »Wir reiten gegen Götter und hexende Irre, du wirst den Schatten tun und mit uns kommen!«

Megan sagte einen langen Moment nichts, aber ihr Gesichtsausdruck ließ Kirin zurückweichen.

»Ich werde ganz bestimmt nicht hier im Palast hocken, während meine Familie in den Krieg zieht.«

Kirin war seltsam gerührt von dem Wort, und auch Rhùks strenge Miene bröckelte einen Moment. Dann jedoch schüttelte er den Kopf.

»Das ist kein Spiel, Megan. Ich habe dich einmal in den Händen von Mördern und Monstern gesehen, das werde ich nicht noch einmal erleben.«

Megan hob die Augenbrauen. »Und wie wollt ihr gegen die magischen Kräfte der Hexer bestehen ohne mich?«

»Sie hat Recht, Rhùk«, warf Kirin vorsichtig ein, doch der Blick, der ihn traf, war aus Stahl.

»Misch du dich da nicht ein, Bürschchen. Weib, die Hexer sind nicht die einzige Gefahr bei dieser Sache. Ich rede von Stürmen, wilden Tieren, Hunger, Wegelagerern … Du könntest sterben!«

»Jeder von uns könnte das – und wird es irgendwann. Und lieber sterbe ich an deiner Seite als mit achtzig allein in einem nach Motten stinkenden Bett.«

Daraufhin blieb Rhùk nichts mehr zu sagen.

»Also, bereiten wir uns vor«, sagte Kirin in die Stille hinein, und einer nach dem anderen verließen sie das Zimmer.

Als Kirin vor Monzù die Schwelle überschreiten wollte, hielt dieser ihn zurück.

»Wenn Ihr jetzt fortgeht, Exzellenz, wird Tumàsz nicht zögern, den Thron an sich zu reißen!«

Kirin fasste den alten Adeligen an der Schulter.

»Und wenn es den Schattendienern gelingt, ihr Ritual durchzuführen, wird es bald keinen Thron mehr geben, den man an sich reißen könnte, und auch kein Aracanon und auch sonst nichts mehr!«

Monzù schwieg einen Moment, dann sagte er leise: »Ich habe bisher zu Recht auf Euch vertraut, Exzellenz. Ich will auch jetzt an meinem Glauben festhalten. Aber ich sorge mich – um Euch, um Euer Land und die Zukunft.«

»Das tue ich auch, mein Freund«, erwiderte Kirin ernst. »Das tue ich auch.«

Kirin musterte den Schlafenden, das Kinn auf die Fäuste gestützt und in seine eigenen Gedanken versunken. Er hatte keine Ahnung, was ihn auf der Jagd nach den Schattendienern erwartete, aber er wusste instinktiv, dass er keine andere Wahl hatte als sie zu verfolgen. Die Geschichte in diesem uralten Buch, das Megan gefunden hatte, hatte in ihm die furchtbaren Bilder seiner Träume wachgerufen, den blutroten Ozean, den schwarzen Turm … und auf einmal hatte ihn die Vorstellung gepackt, dass die Sonne draußen verdunkelt wurde und der See vor der Stadt zu kochen begann, bis eine schwarze Turmspitze aus seinen Tiefen auftauchte.

Auch Nardéz war aus schwarzem Stein erbaut, aber der Turm, den er damals im Traum gesehen hatte, war ungleich finsterer gewesen, und er wusste, dass die Kraft, die dieses Unding hervorgebracht hatte, um jeden Preis aufgehalten werden musste.

In seinem Rücken ging die Sonne unter und zauberte Wärme auf seinen Hinterkopf; er beschloss, ins Bett zu gehen, damit sie morgen so früh wie möglich aufbrechen konnten. Eben als er gehen wollte, rührte sich der Mann im Bett, stöhnte und öffnete die Augen einen Spaltbreit.

»Exzellenz«, raunte Aderuz heiser, als er Kirin sah.

Kirin brachte ein Lächeln zustande. »Ihr seht besser aus«, log er. »Megan meinte, dass Ihr bald wieder ganz gesund werdet.«

»Nicht ganz«, berichtigte Aderuz und berührte mit zittrigen Fingern seinen Oberschenkel. »Ich werde lernen müssen, mit Holzbein zu gehen wie ein Freibeuter. Aber vielleicht ist das ganz gut; in Zukunft werden den Kriegsversehrten, die Gliedmaßen eingebüßt haben, meine Trostworte sicher überzeugender erscheinen.«

Ein Funken seiner alten Ironie blitzte in den dunklen Augen des Heilers auf.

»Ihr werdet nichts von Eurem Können einbüßen«, bestätigte Kirin.

Aufmerksam musterte ihn der Heiler. »Ihr habt vor, fortzugehen.«

Kirin nickte, die Fäuste geballt. »Die Schwarzmagier haben vor, durch Elouané den Schatten selbst in unsere Welt zu holen. Ich muss sie befreien. Die fähigsten Windreiter von Nardéz begleiten mich und meine beiden Freunde.«

Aderuz‹ Hand klammerte sich um die Bettdecke.

»Ja … Etwas Böses regt sich in der Welt, ich spüre es jetzt deutlich – auch wenn meine Einsicht zu spät kam. Vernichtet diese Kreaturen, ehe sie noch mehr Unheil anrichten.« Er hielt inne und Kirin sah in seinen Augen dieselbe Angst aufblitzen, die auch er fühlte. »Der Lichte möge Euch beistehen, Exzellenz; der Gott, gegen den Ihr Euch stellt, ist rachsüchtig und grausam – um es mit ihm aufnehmen zu können, ist mehr nötig als Mut und Entschlossenheit.«

»Ich weiß. Aber wenn wir nichts tun, bedeutet das das Ende von uns allen.«

Urplötzlich kam er ins Stocken; er wusste nicht, ob er den Heiler jemals wiedersehen würde und wollte ihm sagen, dass ihm leid tat, was passiert war, dass er niemals wirklich daran geglaubt hatte, Aderuz könnte in das Geheimnis des schwarzen Orden eingeweiht sein, aber dass er zu verloren gewesen war, dass er nicht mehr gewusst hatte, wem er vertrauen konnte, und dass er nie gewollt hatte, dass ihm etwas so Schreckliches widerfuhr.

Aderuz jedoch schien zu spüren, was in ihm vorging; mit einem kleinen Ächzen hob er die Hand und legte sie auf Kirins Unterarm.

»Ihr braucht nichts zu sagen, Exzellenz«, sagte er leise.

Kirin legte seine eigene Hand auf Aderuz‹. »Ihr versteht meine Gründe. Nicht wahr?«, fügte er fast flehend hinzu.

Der Heiler zwang sich zu einem Lächeln. »Ich verstehe Eure Gründe, Exzellenz. Auch wenn ich Euch erneut meiner unerschütterlichen Treue versichere.«

Kirin nickte. »Ich weiß.«

Langsam zog Aderuz seine Hand zurück und ließ seinen Kopf schwer ins Kissen zurücksinken. »Die junge Heilerin wird Euch begleiten? Und ihr Gefährte ebenfalls?«

»Ja«, bestätigte Kirin. »Larniax auch, und Asusza.«

»Nehmt auch Mìszak mit«, schlug Aderuz vor, die Augen schon wieder halb geschlossen. »Auch wenn ich nicht weiß, wie nützlich er Euch sein wird.«

»Mìszak?« Kirin sah ihn überrascht an. »Ich dachte, Ihr vertraut ihm nicht?«

»Das tue ich auch nicht«, entgegnete Aderuz. »Deswegen würde ich ihn während Eurer Abwesenheit auch nicht in der Hauptstadt haben wollen. Wer weiß, was Tumàsz oder Aszka alles anrichten könnten, wenn sie ihn als Verbündeten gewännen. Auf der Reise mit Euch, wo Ihr zudem von vielen schützenden Gefährten umgeben sein werdet, kann er weniger Schaden anrichten.«

»Wie Ihr meint«, sagte Kirin; der Heiler atmete flacher, als würde er gleich einschlafen. »Danke«, fügte er leise hinzu.

Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Winter im Jahr 1098 des zweiten Zyklus

Die Lebensmittel für die Reise waren in allergrößter Eile zusammengerafft worden und – das wusste Kirin – ziemlich knapp berechnet. Er tröstete sich jedoch damit, dass jedes Mitglied ihrer Gruppe zäh und an Entbehrungen gewöhnt war. Außerdem waren die meisten Windreiter nicht nur hervorragende Krieger, sondern auch geschickte Jäger und Fallensteller, sodass sie bestimmt ein Mittel gegen den Hunger finden würden. Die Stimme in seinem Hinterkopf, die ihm sagte, dass weiter im Norden vielleicht schon Schnee lag und viele Tiere sich in den Winterschlaf zurückgezogen hatten, ignorierte Kirin hartnäckig. Wenn es so war, konnten sie nichts daran ändern – sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren.

Trotzdem war es bereits früher Nachmittag, als Kirin an der Spitze eines Zuges aus zwanzig Kriegern aus der Stadt hinausritt, die Hälfte an Packpferden mit sich führend. Als er das Tor passierte, war ihm, als sähe er aus dem Augenwinkel eine einsame graugekleidete Gestalt, die an der Straße stand und ihm hinterherschaute, doch da war er schon an ihr vorbei und draußen vor den Stadtmauern.

»Dir ist klar, dass es hunderte von diesen Schattenjüngern gibt«, sagte Megan ruhig, als sie zu ihm aufschloss und einen raschen Blick zurück auf die anderen aus ihrer Gruppe warf. »Und jeder Einzelne von ihnen beherrscht Magie.«

Kirin nickte unwillig.

»Das weiß ich, aber wenn ich mit einer ganzen Armee nach Sri Iliant marschieren würde, wüsste bald jedes Kind in Aracanon darüber Bescheid, und wie lange würde es wohl dauern, bis die Schattenanbeter davon Wind kriegen?«

Megan sagte nichts mehr; Kirins Hengst wich vor ihr zurück, den Kopf hochgerissen, die Augen und Nüstern geweitet. Auch die anderen Windpferde, abgesehen von denen, die Rhùk gehörten, waren nicht begeistert davon, das Halbblut in ihrer Mitte zu haben, aber die Bindung zu ihren Reitern hielt sie mehr oder weniger ruhig. Megan selbst ritt noch immer das rundliche kleine Pferd, das sie aus der Großen Bibliothek mitgenommen hatte und das auf den Namen Bìlash hörte. Trotz seines weniger edlen Blutes hielt er gut Schritt, und als sie am Abend ihre erste Rast einlegten, hatten sie bereits eine ordentliche Strecke zurückgelegt.

»Das wäre noch erfreulicher, wenn ich wüsste, dass wir den Schattendienern auf den Fersen sind«, sagte Kirin, als er sich neben Megan ans Lagerfeuer setzte; trotz des anstrengenden Rittes war er rastlos und gereizt und hatte das Gefühl, mit seinem Herumsitzen unnütz Zeit zu vertun.

»Woher wissen wir, dass ihr Gott ihnen nicht irgendwelche Kräfte verliehen hat, damit sie nicht müde werden?«

Megan, die mit zusammengekniffenen Augen im Schein des Feuers versuchte, die winzige Schrift in dem Buch auf ihren Knien zu entziffern, hob den Kopf.

»Aber wir werden müde, Kirin, und es bringt nichts, wenn du uns alle weiterhetzt, bis irgendjemand vom Pferd fällt.«

Kirin wusste, dass sie Recht hatte, aber deswegen fühlte er sich nicht besser; unruhig stand er auf und entfernte sich ein Stück vom Feuer. Sie waren dem Lauf des Flusses Namìk nach Norden gefolgt, der sie durch fruchtbares, bewaldetes Gebiet führte. Dadurch bot sich ihnen einerseits eine natürliche Nahrungsquelle und andererseits liefen sie auch weniger Gefahr, von neugierigen Augen gesehen zu werden.

Kirin steuerte auf den Rand des Lagers zu, wo Rhùk Wache stand. Ohne sich nach ihm umzudrehen, sagte der Windreiter: »Es gibt Siedlungen hier in der Nähe. Wir sollten jemanden hinschicken und fragen, ob man die Schwarzmäntel gesehen hat.«

Kirin stimmte zu, auch wenn er glaubte, dass das nicht viel nützen würde. Als er den Kopf hob, sah er in der Krone des nächsten Baumes eine Krähe sitzen.

»Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns etwas über die Uniformen ziehen. Es muss nicht gleich jeder wissen, wer wir sind und woher wir kommen.«

»Windreiter erkennt man in Aracanon überall«, schwächte Rhùk diesen Vorschlag ab. »Aber wenn es kalt wird, werde ich der Erste sein, der sich in einen Überwurf stürzt, Junge.«

Kirin sah ihn an, während er mit Daumen und Zeigefinger am Griff seines Dolches entlangfuhr. »Wird es sehr kalt in Aracanon?«

Rhùk verzog das Gesicht. »Ich bin im Norden des Landes aufgewachsen – ich weiß noch, wie oft mir im Winter fast der Arsch abgefroren ist, weil mein Alter irgendwo besoffen in einer Ecke lag und vergessen hatte, das Feuer zu schüren. In der Nacht gefriert der Tau in den Gräsern, und es ist auch schon vorgekommen, dass Teiche und Tümpel zufrieren.«

»Gibt es auch Schnee?«, fragte Kirin.

»Nur, wenn wir sehr viel Pech haben.«

Ohne Vorwarnung zog Kirin seinen Dolch und warf ihn durch die Luft; ein Krächzen, ein Flügelschlagen, dann stürzte der Aasvogel tot vom Baum. Kirin ging auf ihn zu und zog seine Waffe aus dem Kadaver, wobei er letzteren mit seinem Fuß am Boden festhielt.

»Du wirst niemandem mehr etwas erzählen«, sagte er verbittert und spuckte einen Klumpen Rotz in das schwarze Gefieder.

In den Tagen, die darauf folgten, stellte Kirin überrascht fest, dass er zwar den Kriegern um sich herum sein Leben anvertraute, die meisten von ihnen aber gar nicht kannte. Krìszan, Iszmet, Amired, Fazìd, Zàsz, Lerka, Nenad, Eranùsz, Szét, Dàkesz, Szét› Kélek, Àrat, Feriz, Asusza und Mìszak gehörten alle zu den besten Kriegern Aracanons und zu seiner persönlichen Leibwache, dennoch hatte er mit den meisten von ihnen noch nie ein persönliches Wort gesprochen.

Tatsächlich war er maßlos überrascht, als an einem Abend Krìszan eine Flöte hervorholte und anfing zu spielen, so schön, dass es einem beinahe die Tränen in die Augen trieb. Er war derjenige, der Kirin damals im verbrannten weißen Tempel das Amulett überreicht hatte. Kirin trug es jetzt an einer Lederschnur um seinen Hals, als hoffte er, dass es ihn zu Elouané führen würde.

 

Auch die anderen Windreiter verhielten sich vor allem während der Stunden vor dem Einschlafen überraschend menschlich, unterhielten sich miteinander über ganz nebensächliche Dinge, scherzten und lachten sogar.

Nur Rhùk gegenüber blieben sie äußerst distanziert, aber Kirin nahm an, dass er dafür schon fast dankbar sein konnte – immerhin hatte noch keiner von ihnen versucht, den Überläufer zu massakrieren. Megan begegneten alle mit einer Art misstrauischem Respekt, am ehesten zu vergleichen mit der Art, wie man mit einer angeblich gezähmten Wildkatze umgeht. Sie wiederum verhielt sich allen gegenüber freundlich, aber zurückhaltend; es war offensichtlich, dass sie die Zeit in Gefangenschaft noch nicht vergessen hatte. Insgesamt war die Stimmung unter den Reisegefährten verhalten, sodass Kirin nur hoffen konnte, dass Pflichtgefühl und das Bewusstsein ihrer Aufgabe größere Reibereien verhindern würde.

Am meisten Sorgen bereitete Kirin bei diesen Überlegungen Mìszak – seinem Gelehrtengesicht traute er kein bisschen über den Weg, und er tat alles, um ihn von den übrigen Windreitern fernzuhalten. Sie würden genügend Schwierigkeiten zu meistern haben, auch ohne irgendwelche Intrigen.

Die Landschaft um sie her wurde immer flacher und eintöniger; waren sie zunächst noch öfter auf Siedlungen gestoßen, wurden Menschen mit der Zeit immer seltener, und wenn sie es für ratsam hielten, manche von ihnen anzusprechen, erfuhren sie immer dasselbe: Dass Kirins Reisegruppe die erste Schar von Fremden war, die man seit langer Zeit hier gesehen hatte. Die fruchtbaren Haine, Graslandschaften und kleinen Seen des arachinischen Mittellandes wurden rarer, und jetzt ließ sich nicht mehr leugnen, dass es kälter geworden war. Trotzdem folgten sie unbeirrt den Biegungen des Flusses, tagelang, bis sie sein Ende erreichten. Nun, tatsächlich endete der Fluss nicht, sondern änderte mit einem Knick seine Richtung nach Osten, aber für Kirin und die anderen hieß das, dass sie seine ruhig dahinfließenden dunklen Fluten verlassen mussten, um ins trockene Unterland Aracanons zu gelangen. An einer seichten Stelle setzten sie über und ritten gen Norden davon, und von diesem Tag an machte sich der Winter richtig bemerkbar; mit scheußlichen Winden jagte er sie vor sich her, riss ihnen die Umhänge nach hinten und die Kapuzen vom Kopf, und manchmal, wenn er ganz genau hinhörte, war Kirin, als hörte er aus den Böen heraus ein hämisches Lachen. Schließlich, eines Morgens, wachte er auf und bemerkte zu seinem Entsetzen Raureif überall um seinen Lagerplatz, in den Trockenmoosen und den Spalten des steinigen Bodens um ihn herum. Den Pferden machte das nichts aus, im Gegenteil; die Kälte beflügelte sie und ließ sie schneller vorankommen, doch ihren Reitern tat der kalte, beißende Wind nicht gut.

»Es weht ein Wind aus dem Norden«, meinte Rhùk, als sie an diesem Tag zwischen mehreren kleinen Hügeln rasteten. Kirin sagte nichts dazu.

Auch er hatte ihn bemerkt, den einzigartigen, unverkennbaren Geruch von Schnee.

Wenn er sich in den Weiten Yorenins jemals einsam gefühlt hatte, dann war das nichts gegen das, wie ihm jetzt zumute war; inmitten dieses großen, halb entvölkerten Landes kam er sich so fehl am Platz vor wie ein verirrter Landvogel weit draußen auf dem Meer. Ein ähnliches Gefühl hatte er nur einmal gehabt, damals, als er sich in den Steppen von Anorahtìn verirrt hatte und nachts durch die Dünen gewandert war. Doch damals hatte er nur gegen Verletzungen, Kälte und Hunger zu kämpfen gehabt – diesmal, das spürte er deutlich, war es etwas weit Größeres, weit Schlimmeres, das seinen Willen gegen ihn richtete und ihn auf seinem Weg aufzuhalten versuchte.

Es war fast zehn Tage her, dass sie den Lauf des Flusses verlassen hatten, und bis auf ein paar karge Bäume und harten, zunehmend ebenen Boden gab es um sie herum nicht viel.

»Dort drüben sollten wir Rast machen«, rief Kirin an diesem Nachmittag gegen eine besonders hartnäckige Windböe an und deutete auf ein winziges Grüppchen entblätterter Bäume in der Ferne. »Vielleicht finden wir dort eine Stelle, an der wir ein wenig geschützt sind.«

Sie taten wie geheißen und erreichten etwa eine halbe Stunde später die Baumgruppe. Auf einem Flecken spärlichen Grases saßen sie ab und banden die Pferde fest, dann machten sie sich auf zwischen die Bäume, um einen geeigneten Rastplatz zu suchen.

Sie waren erst wenige Schritte gegangen, als Kirin unerwartet ein bekanntes, schauriges Kribbeln überkam, als ob ihm tausend Insekten über die Haut krabbelten; seine Ohren begannen zu klingeln, und hinter seiner Stirn pulsierte es bedrohlich.

»Was machst du?«, fragte Rhùk, der stehengeblieben war.

Kirin drehte sich um, die Hände an den Schläfen, und sah Megan hinter sich stehen, die Stirn gerunzelt.

»Das bin nicht ich«, sagte sie langsam. Mit dem Kinn deutete sie auf den nächststehenden Baum, eine alte, knorrige Kiefer. Ihre verkrümmten Äste deuteten anklagend auf die Gruppe, und von ihr kam auch die stärker werdende Welle aus Grauen.

»Was ist das?«, fragte Mìszak, seine Schwerter kampfbereit erhoben.

»Ich habe eine Vermutung«, sagte Megan leise. Sie ging den anderen voran, mit ausgebreiteten Armen und gut sichtbar, als ob sie den Baum davon überzeugen wollte, dass sie unbewaffnet war. Kirin bedeutete Mìszak, seine Waffen zu senken, dann folgten er und die anderen in respektvollem Abstand.

Mittlerweile hatte die Heilerin den Baum erreicht; drei Schritte davon entfernt blieb sie stehen und spähte mit zusammengekniffenen Augen hoch ins Geäst.

Kirin sah überhaupt nichts, doch einen Herzschlag später rief sie: »He, du da oben! Hör auf damit!«

»Haut ab!«

Kirin biss unwillkürlich die Zähne zusammen; die Stimme, die von dem Baum herunterwehte, klang wie eine Mischung aus Zischen und dem nervenzerreißenden Summen von Mücken.

Megan zeigte sich unbeeindruckt: »Hör auf damit, habe ich gesagt. Wir wollen dir nichts tun.«

»Ihr sollt verschwinden!«

Eine neue Woge aus Schmerz und Entsetzen rollte über Kirin hinweg, und im absoluten Gleichschritt wichen er und die Windreiter zurück.

Einzig Megan blieb stehen; sie legte eine Hand an den Baumstamm und reckte das Kinn. »Hör zu, entweder du hörst auf mit dem Unsinn und kommst runter oder ich komme rauf!«

Einen Moment herrschte Schweigen. Dann ertönte ein leises Rascheln, und Kirin sah einen Schatten, der sich hoch oben in den Ästen bewegte.

»Was wollt ihr?«, fragte die Stimme, und nun, da das Grauen allmählich nachließ, erkannte Kirin, wie hoch und zittrig sie klang. Die Stimme eines Kindes.

»Nur, dass du aufhörst, meine Begleiter anzugreifen.«

Wieder das Knacken von Zweigen, dann ließ sich allmählich eine kleine, magere Gestalt erkennen, die auf halber Höhe im Baum herumturnte.

»Du«, krächzte es von dort oben, »wieso macht es dir nichts aus?«

»Ich bin wie du«, erklärte Megan und hob die Hände. »Wir werden dir ganz bestimmt nichts tun. Was machst du hier draußen ganz allein?«

Kirin machte einen vorsichtigen Schritt an Megans Seite und spähte nach oben: Etwa acht Schritte über seinem Kopf hing ein Junge von höchstens dreizehn Jahren in den Ästen, der zerfetzte Lumpen an seinem mageren Körper trug und dessen verfilzte Haare wie Schlingpflanzen um seinen Kopf wucherten. Selbst auf die Entfernung konnte Kirin hässliche Male erkennen, die das ansonsten recht hübsche Gesicht entstellten. Das Grün seiner Augen leuchtete in einer Mischung aus Furcht und Hass auf ihn hinunter, und auch seine Haut hatte einen leicht grünlichen Teint, als wäre er krank. Als er Kirin näherkommen sah, zog er sich ein wenig hinter seinen Ast zurück.