Luzy Bloom - Komm mit mir

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ich hob meinen Rock und spreizte die Beine.

„Riech doch mal.“

„Spinnst du? Hier im Taxi?“

„Ja klar, sei doch nicht so klemmig. Ich bin schließlich deine Freundin. Jetzt riech mal.“

Ich schob seinen Kopf in Richtung meiner Schenkel und hoffte auf Desire 22. Nach maximal drei Sekunden richtete David- Alexander sich wieder auf.

„Ich rieche nichts.“

„Gar nichts?“

„Gar nichts.“

Ich kuschelte mich an ihn, nahm seine Hand und legte sie mir zwischen die Beine.

„Aber fühlst du was?“

„Luzy!“ Er zog seine Hand zurück. „Hast du zu viel getrunken? Oder ist dir dein Techtelmechtel mit Rudolf zu Kopf gestiegen?“

Zuhause im Bett sprang David-Alexander übrigens auch nicht auf Desire 22 an, obwohl ich zur Sicherheit nachgesprüht hatte. Als ich neben ihm lag und meine Hand zu ihm rüberwandern ließ, rollte er sich zur Seite und murmelte:

„Samstag ist doch erst morgen.“

Damit erklärte ich mein Duft-Experiment für beendet und warf Desire 22 am nächsten Tag in den Müll.

Gegen 19 Uhr klingelt Carmen.

„Luzy-Darling!“

Sie strahlt mir entgegen. Carmen nennt jeden Darling. Das macht das Leben ihrer Meinung nach einfacher.

Meine Freundin sieht wie immer fantastisch aus: schlank, aber muskulös, lange Beine, fast schwarzes, wunderschönes dickes und langes Haar, das sich leicht wellt. Ihr Gesicht ist schmal, die Nase ganz leicht gebogen, der Mund voll und sinnlich, die Wangenknochen hoch, die Augen dunkel und geheimnisvoll. Und immer perfekt gestylt, heute ganz in Orange. Für mich ist Carmen eine perfekte Frau.

„Bis auf das kleine Ding zwischen meinen Beinen“, würde sie antworten und dabei lachen.

Carmen fühlt sich als Frau, ist aber als Zwitter zur Welt gekommen. Sie hat ein ganz eigenes Geschlecht – keinen Penis, eher eine vergrößerte Klitoris. Als sie geboren wurde, sahen ihre Eltern allerdings nur ein Zipfelchen und nannten sie Carlos.

„Aber ich habe mich, seit ich denken kann, wie ein Mädchen gefühlt und mich auch so verhalten. Ich habe nur mit Mädchen gespielt, Puppen geliebt und die Kleider meiner großen Schwester angezogen.“ Irgendwann dämmerte den Eltern, dass Carlos anders war als andere Jungs. Sie gingen mit ihm zum Kinderpsychologen.

„Der meinte, dass ich wahrscheinlich schwul sei – ich wusste überhaupt nicht, was das heißen sollte.“

Aber in der Pubertät wurde allen, vor allem Carlos selbst, klar, dass er ein Mädchen war, denn jetzt wuchsen ihm Brüste. Und er wurde sich auch bewusst darüber, dass er wie ein Mädchen fühlte.

„Wir gingen zur Frauenärztin und bekamen die Diagnose ‚intersexuell‘.“ Das heißt: Carmen hat die Veranlagung zu beiden Geschlechtern, aber die Frau in ihr dominiert.

„Die Natur konnte sich wohl nicht entscheiden“, meinte die Ärztin. Carlos war erleichtert, endlich zu wissen, was mit ihm los war und entschied sich für eine neue weibliche Identität unter dem Namen Carmen. Seit sie volljährig ist, kann sie entscheiden, ob sie ihr Geschlechtsteil operativ angleichen will, aber Carmen ist zufrieden mit ihrem Körper. Sie nimmt weibliche Hormone.

„Mehr brauche ich nicht. Ich liebe das kleine Teil zwischen meinen Beinen, es bereitet mir viel Freude“, sagt sie. „Eigentlich haben nur andere ein Problem damit.“

Carmen ist wie gesagt bisexuell, obwohl sie das so nie ausdrücken würde.

„Ich bin in alle Richtungen und Öffnungen offen.“

Bei ihrem Aussehen mangelt es ihr nicht an Angeboten.

„Probleme gibt es eigentlich nur mit heterosexuellen Männern. Am Anfang hab ich vorher nix gesagt und gedacht, das bereden wir dann, wenn’s so weit ist. Aber das war ein Fehler. Viele Typen sind regelrecht schockiert, wenn sie feststellen, dass sich zwischen meinen Beinen etwas anderes befindet, als sie erwartet haben.“

Carmen hat schon die unmöglichsten Situationen erlebt: Sie wurde ausgelacht, stehen gelassen oder beschimpft.

„Einmal hat ein Typ mir eine gescheuert“, hat sie uns erzählt. „Der war so entsetzt, weil wir uns schon geküsst hatten, der ist völlig ausgeflippt. ‚Du hast mich hinters Licht geführt, du Schlampe!‘“

„Und wie hast du reagiert?“, wollte ich wissen.

„Och, da war ich schon cool. Ich hab ihm gesagt: ‚Darling, du willst mich doch gar nicht schlagen. Du willst dich selber schlagen, weil’s dir peinlich ist, dass du richtig Lust hättest, mit einer Interfrau Sex zu haben. Aber du verbietest es dir, aus Schamgefühl.‘ Daraufhin hat er kein Wort mehr gesagt, und ich hab ihm zum Abschied eine zurückgescheuert.“

Seit weiteren ähnlichen Erfahrungen geht Carmen offensiv mit ihrem Geschlecht um. Wenn ein Typ sie anmacht, sagt sie:

„Darling, überleg es dir gut, denn du spielst mit dem Feuer. Ich bin zu 98 % das, was du siehst, aber die restlichen 2 % befinden sich zwischen meinen Beinen. Also überleg mal.“

Viele Kerle sind zuerst perplex und checken es nicht.

„Nachdenken!“, wiederholt Carmen dann, und meistens fällt der Groschen.

„Wenn er nicht fällt, hat es sowieso keinen Zweck. Ich will ja niemanden traumatisieren“, sagt Carmen. „Und wenn er fällt, sind 95 % auf der Stelle weg. Meistens murmeln sie irgendeine blöde Entschuldigung wie: ‚War nett, dich kennenzulernen, ich muss jetzt leider los.‘ Aber die restlichen 5 % machen richtig Spaß. Ist ja logisch: Wer sich auf eine Interfrau einlässt, ist experimentierfreudig. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für guten Sex.“

Wenn Carmen so aus dem Nähkästchen plauderte, habe ich mir oft gewünscht, ich wäre wie sie. So offen, direkt und frei.

„Darling“, sagt sie beim Reinkommen, „du siehst gut aus. Viel besser als beim letzten Mal. Was ist passiert? Bist du endlich über diesen Idioten hinweg? Hast du dich etwa verliebt?“

„Nicht direkt“, antworte ich. „Aber es ist tatsächlich etwas passiert.“

Ich erzähle ihr alles: von meinem langweiligen Sex mit David-Alexander, meiner jämmerlichen erotischen Vergangenheit, meinem Zukunftsplan, meiner 10-Punkte-Liste, meiner Begegnung mit Ramon …

„Ramon!“, kreischt sie begeistert. „Der Salsatänzer? Den kenne ich. Ein fantastischer Liebhaber. Sehr gute Wahl!“

Hab ich’s mir doch gedacht: Ramon lässt nichts anbrennen.

„Ich bin so froh, dass du über diesen Idioten hinweg bist. Wir haben uns immer gefragt, wie der wohl im Bett war. Man konnte sich das einfach nicht vorstellen.“

„Na ja“, sage ich betreten, „er war im Bett nicht anders als im normalen Leben. Insgesamt eher trocken.“

„Oh, Luzy-Darling, warum hast du nie etwas gesagt?“

„Am Anfang dachte ich, es ist normal, wie es ist. Dann hoffte ich, dass der Sex sich mit der Zeit verbessert, und zuletzt war es mir einfach nur peinlich.“

„Hatte er wenigstens einen schönen Schwanz?“, will Carmen wissen.

„Ich fand schon, aber ich habe ja noch nicht allzu viele Exemplare live gesehen. Auf jeden Fall war er gerade!“

Wir lachen.

„Und?“, fragt sie. „Wen legst du als Nächstes flach?“

„Keine Ahnung.“

Ich zähle meine Optionen auf, und als ich bei Gary aus dem Café ankomme, unterbricht Carmen mich.

„Luzy, die können alle warten, die laufen ja nicht weg. Jetzt gehst du erst mal am Samstag mit mir auf einen Kostümball. Die Sängerin aus unserem Ensemble feiert ihren 40. Geburtstag, und ich habe noch keine Begleitung!“

Carmen arbeitet als Kostümbildnerin beim Musical und hat wirklich verrückte Kollegen: Tänzer, Sänger, Bühnenarbeiter. Wann immer ich sie dort besucht habe, hatten wir jede Menge Spaß. Wobei …

„Sind die meisten Typen bei euch am Theater nicht schwul?“, frage ich besorgt.

„Ach, Darling, nicht nachdenken! Du willst doch Erfahrungen sammeln. Also lass dich einfach drauf ein.“

„Was ist denn das Motto?“, will ich wissen.

„Tanz der Vampire“, sagt Carmen. „Unser neues Musical. Kennst du den Film?“

Klar kenne ich den: Transsylvanien, Vampire, die Szene im Ballsaal.

„Als was gehst du?“

„Als Graf von Krolock, der Obervampir. Und du gehst als die schöne Sarah, auf die der Obervampir scharf ist.“

Carmen stürzt sich auf mich und beißt mir in den Hals.

„Ich sauge dich aus.“

Mir läuft ein kurzer Schauer über den ganzen Körper – aber ich lache ihn weg.

Carmen hat Zugang zu sämtlichen Kostümverleihen der Stadt, und wir treffen uns am nächsten Tag an der Oper, um mich für den Vampirball einzukleiden. Den ganzen Nachmittag schwelgen wir in einer Märchenwelt aus Perücken, Federboas, Korsetts, Schuhen aus allen Jahrzehnten und zauberhaften Ballkleidern. Wir verkleiden uns abwechselnd als Dienstmädchen, Gouvernanten, Prinzessinnen, Operndiven, Nonnen, Prostituierte und wählen für mich am Ende ein rotes Ballkleid aus, mit freien Schultern und einem bauschigen Rock aus Tüll, der sich unter dem Korsett opulent ausbreitet. Ich komme mir vor wie eine Königin.

„Perfekt!“ Carmen strahlt und verspricht, mir bei Make-up und Styling zu helfen.

Am Samstag vor der Party stehe ich nachmittags mit einer Flasche Prosecco vor der Haustür meiner Freundin. Sie öffnet mir in einem asiatischen Seidenkimono, hellblau mit pinken Blumen, darunter trägt sie nur einen Slip. Ihre Brüste sind straff mit kleinen dunklen Nippeln. Das Haar ist hochgesteckt, sie ist noch ungeschminkt, und sie sieht einfach wunderschön aus.

„Du brauchst dich gar nicht umzustylen“, sage ich.

Wir öffnen die Flasche, stoßen auf den Abend an und setzen uns vor Carmens dreiflügeligen, beleuchteten Schminkspiegel.

„Wir verpassen dir den Sechzigerjahre-Look aus dem Film“, sagt sie.

„Schwarzer Oberlidstrich, lange Wimpern, volle rote Lippen. Du wirst so verführerisch aussehen, die Vampire werden sich deinetwegen gegenseitig zerfleischen.“

 

Meine Freundin stellt sich hinter mich und hebt mein Haar.

„Fangen wir mit der Hochsteckfrisur an.“

Carmen ist in Sachen Maske, Make-up und Kostüm eine Meisterin. Als sie mich fertig gestylt hat, bin ich begeistert.

„So sollte ich immer rumlaufen!“, sage ich.

„Darling, überleg dir das gut! Dann wäre die halbe Stadt hinter dir her – das willst du auch nicht!“

Wir lachen, trinken Prosecco, und Carmen schminkt sich wie ein Vampir. Weißes Gesicht, kohlschwarze Augen, blutrünstiger roter Mund. Sie will zwar als Graf von Krolock gehen, ihm aber eine weibliche Seite verpassen. Sie toupiert ihr volles schwarzes Haar zu einer dramatischen Mähne. Ihr Kostüm besteht aus Netzstrümpfen, einem schwarzen Body und einem Frack. Megasexy!

„Sieht man mein Teil?“, will sie wissen.

„Kein bisschen. Wie machst du das?“

„Ich muss eigentlich nur einen hautengen Slip anziehen, dann legt es sich ganz brav in seine Höhle. Ich darf nur keine Erektion bekommen.“ Wir kichern bei der Vorstellung.

Dann bin ich an der Reihe. Ich ziehe mich bis auf meinen Stringtanga aus, aber Carmen besteht darauf, dass ich mich vollständig entkleide.

„Darling, der Sex beginnt in deinem Kopf. Du musst dich scharf fühlen, um andere scharfzumachen.“

Sie reicht mir einen Strumpfhalter aus roter Spitze. „Zieh den an, ohne Höschen.“

Als sie mir hilft, die Strümpfe an den Klammern zu befestigen, steigt mir ihr verführerischer Duft in die Nase – eine Mischung aus Jasmin und Sandelholz! Carmen weiß eben, was erotisch ist. Ich betrachte mich mit Strumpfhalter und Strümpfen bekleidet im Spiegel, und ja, ich finde mich verführerisch.

„Und von hinten?“, frage ich unsicher.

Carmen fasst mich an den Schultern und dreht mich um, sodass ich meinen Po im Spiegel sehen kann.

„Fantastisch“, sagt sie. „Und das Gute ist: Nur du weißt, dass du kein Höschen trägst. Das wird dir ein erhabenes Gefühl geben.“

Ich hoffe, sie behält recht. Carmen stellt sich hinter mich, um mir das Korsett zu schnüren. Wieder beißt sie mir halb aus Spaß, halb verführerisch in den Hals. Es gefällt mir und irritiert mich zugleich.

„Du hast schöne Haut, Darling.“

Sie kratzt mit ihren langen Fingernägeln sanft über meine Schultern. Mir wird heiß. Dann gleiten beide Hände langsam und zärtlich vorne unter mein Korsett und umschließen meine Brüste.

„Wir müssen deine süßen Titten mehr zur Geltung bringen, Darling. Dein Dekolleté muss richtig provozieren“, sagt sie.

Mein ganzer Körper reagiert auf ihre Berührungen.

„Du wirst Draculas heißeste Braut auf dem Ball sein“, flüstert sie in mein Ohr und leckt mir kurz wie eine Katze über den Hals.

Ich genieße diese kleinen, provokanten Zärtlichkeiten, die so anders sind als die, die ich bisher von Männern kenne: spielerisch und ohne Erwartung. Carmen schiebt sich ihr Vampirgebiss in den Mund, reißt dramatisch die Zähne auseinander und tut so, als würde sie mir die Hauer in den Hals rammen. In diesem Moment möchte ich von ihr ausgesaugt werden. Ich möchte ihr Opfer sein, sie soll mich besitzen. Ich pendele noch zwischen Atemlosigkeit und Lust, weiß nicht, wie ich reagieren soll, als Carmen in mein Ohr raunt: „Auf geht’s, Darling. In fünf Minuten kommt das Taxi.“

Diese Frau ist wirklich einmalig.

Kapitel 6

Die Glut ist heißer als das Feuer

Gegen 22.30 Uhr treffen wir im Theater ein. Die Taxifahrt dorthin war schon ein Abenteuer für sich: Es fing damit an, dass weder Carmen mit ihrer Mega-Frisur noch ich mit meinem bauschigen Ballkleid in den ersten Wagen passten, ohne unsere Outfits zu ruinieren. Nach ein paar Anläufen gaben wir auf, und der Fahrer rief uns einen Kleinbus. „Schade“, sagte er beim Abschied. „Wäre bestimmt lustig mit euch geworden.“

Das glaubten wir auch, denn er war wirklich süß – Student, vielleicht Mitte 20, ein bisschen Welpe, ein bisschen Mann. Er gab uns seine Karte.

„Falls ihr sonst mal jemanden braucht.“

Wir warfen ihm zum Abschied Kusshände zu.

Zur Freude vieler Passanten – wobei einige auch ihre Missbilligung über unseren Aufzug durch Kopfschütteln ausdrückten – mussten wir etwa fünfzehn Minuten warten, ehe Fahrer Nummer Zwei eintraf. Ein älterer Glatzkopf mit Backenbart und Funktionsweste. Er ließ das Fenster auf der Fahrerseite herunter, musterte uns abschätzig, tippte sich mit dem Finger an die Stirn, murmelte „Scheiß-Transen“ und trat das Gaspedal durch. Wir überlegten noch, ob wir ihn bei seiner Firma wegen sexistischer Beleidigung anschwärzen sollten, als auf der anderen Seite ein Taxibus vorbeifuhr. Zum Glück sah uns der Fahrer mit den Armen fuchteln. Er drehte und ließ uns einsteigen.

„Wo soll’s denn hingehen, ihr Hübschen?“

Als wir gegen 23 Uhr auf der Party eintreffen, sind wir wieder mit der Welt versöhnt.

Uns erwartet eine atemberaubende Kulisse: Die Bühne ist in rotes Licht getaucht, von der Decke hängen schwarze und rote Vorhänge aus halbdurchsichtigem Tüll, die den gesamten Raum in eine Art Labyrinth voller geheimnisvoller Nischen verwandeln. Auf Sofas und an Bartischen offenbaren sich mindestens zehn weitere Grafen von Krolock und Sarahs aus dem Film beziehungsweise dem Musical „Tanz der Vampire“. Obwohl die Konkurrenz gewaltig ist, schlägt Carmen mit ihrer weiblichen Interpretation des Blutsaugers ihre Doppelgänger um Längen. Ich fühle mich ebenfalls großartig – vor allem das Wissen darum, unter meinem Ballkleid nur Strapse und Strümpfe zu tragen, gibt mir ein heimliches Gefühl der Erhabenheit. Ansonsten befinden wir uns in Gesellschaft von mindestens zehn Grafen Dracula, vielen Jokern, Batmans, Frankensteins, Freddy Kruegers, verschiedenen Schlangenfrauen, Hexen und Prinzessinnen und ein paar undefinierbaren Fabelwesen – wahlweise mit oder ohne Vampirgebiss. Carmen nimmt meine Hand, und wir bahnen uns unseren Weg durch die mystische Szenerie Richtung Bar. Unterwegs müssen wir immer wieder anhalten, weil Carmen mit lautem Gekreische begrüßt wird. Auch ich ernte anerkennende Blicke und schreite wie eine Königin durch den Saal. Nach „Haunted“ von Beyoncé läuft Michael Jacksons „Thriller“. Jubel schallt durch den Raum, und aus allen Nischen strömen Maskierte auf die Tanzfläche. An der Bar wird passend zum Motto des Abends Bloody Mary ausgeschenkt. Es gibt auch andere Drinks, aber Carmen und ich beschließen, stilecht zu trinken. Endlich treffen wir auch die Gastgeberin Liz, die ein Mischwesen aus Rokokodame, Operndiva und Vampir darstellt. Sie trägt eine pinkfarbene Perücke mit bombastischer Hochsteckfrisur, seitlich fließen ein paar Korkenzieherlocken über ihre Schultern. Die Augen sind dunkelviolett ummalt, die Wimpern unendlich lang mit glitzernden Spitzen, ihr Mund ist silbern geschminkt. Unter ihrem Samtkorsett in dunklem Violett entfaltet sich ein pinkfarbener Seidenrock, der gefühlt drei Meter Durchmesser hat. Trotz der Fülle schafft sie es irgendwie, Carmen zu umarmen.

„Süße, du bist mal wieder die Schönste der Nacht.“

„Liz, Darling, sei nicht albern. Dieser Titel gebührt dir allein.“

„Toll, dass ihr da seid.“

„Liz, das ist Luzy. Ihr habt euch schon mal gesehen, bei der letzten Premiere.“

„Luzy! Hammer! Ich hätte dich nicht wiedererkannt! Du siehst aus wie …“

„… Sarah aus Tanz der Vampire“, ergänzt Carmen den Satz.

Liz zieht mich auf Armlänge zu sich heran.

„Ich würde eher sagen, Cinderella. Oder noch besser: Pretty Woman.“

„Alles Carmens Werk“, gebe ich zu.

„Hast du ein Glück! Ich musste mich ganz allein zurechtmachen.“ Sie zieht einen Flunsch.

„Voll gelogen“, wendet Carmen sich an mich. „Ich hab ihr meine Hilfe angeboten, aber sie hat sich für unsere Maskenbildnerin entschieden.“

„Du kleine Petze!“ Liz lacht. „Amüsiert euch, ihr fantastischen, fulminanten Fabelwesen. Wir sehen uns später.“

Sie wendet sich den nächsten Gästen zu.

Im Hintergrund läuft jetzt „Sexual Healing“ von Marvin Gaye, und wir überlegen gerade, tanzen zu gehen, als es plötzlich leiser wird und klassische Musik den Raum erfüllt.

„Das Menuett“, flüstert Carmen. „Komm mit.“

Wir lassen uns von dem Sog der Menge Richtung Tanzfläche treiben.

„Warte mal.“ Ich fasse Carmen am Arm. „Ich habe keine Ahnung, wie man ein Menuett tanzt.“

Ich will mich schließlich nicht gleich am Anfang der Party blamieren.

„Keine Sorge, das ist eine Aufführung, da müssen wir nicht mitmachen. Unser Ensemble hat das seit Wochen heimlich für Liz einstudiert.“

Auf der Tanzfläche bilden jeweils zehn Frauen und zehn Männer zwei Reihen, die sich gegenüber aufstellen. Die Damen machen einen Knicks, die Herren stellen den linken Fuß nach vorn, küssen die Hand ihres Gegenübers und verbeugen sich elegant. Jetzt gehen beide Reihen aufeinander zu, fassen sich an den Händen, drehen sich einmal im Kreis, wobei sie sich aber nicht anschauen, sondern in dieselbe Richtung blicken. Danach stehen sie wieder auf ihrem Platz.

Nun bilden die Paare ein Spalier, durch das ein letztes Paar, sich elegant an den Händen haltend, schreitet.

Am Ende stellen sie sich wieder gegenüber in die Reihe, bis das letzte Paar das Spalier durchschritten hat. Dann wird irgendwie gemischt, und es bilden sich neue Paare.

‚Eigentlich ein altmodisches Balzritual’, denke ich. Die Tänzer und Tänzerinnen bewegen sich mit Anmut und Leichtigkeit, sie flirten, bezirzen sich, streifen wie Katzen umeinander. Koketterie schwängert die Luft.

Am Ende des Tanzes brechen alle in begeisterten Applaus aus, und als der DJ „Sex with me“ von Rihanna auflegt, erobert auch der letzte Gast die Tanzfläche. Angesteckt von dem flirrenden Gefühl der geheimnisvollen Erotik, die in dem Tanz lag, gleiten wir wie Fledermäuse durch die Nacht, fliegen umeinander. Hier streift eine Hand eine Schulter, dort legen sich Arme um Hüften, ein sanftes Flirren und Raunen erfüllt die Luft, das durch „Do it“ von Chloe x Halle weiter angeheizt wird.

Ich bin völlig losgelöst, bewege mich wie auf Wolken, hauche Küsse auf fremde Münder, fühle Hände über meinen Körper gleiten, umgarne wildfremde Menschen. Wir sind schwerelos, berauscht, lassen uns treiben, ohne Hast, ohne Ziel. Wir schwirren ohne Zeitgefühl durch die Nacht, als plötzlich ein Gong dem scheinbar endlosen Flow ein Ende bereitet. Wie Gestalten aus der Unterwelt, die aus einer Trance geweckt werden, weichen wir an den Rand der Tanzfläche.

Der Raum verdunkelt sich, und nach einer kurzen Pause erleuchtet ein heller Spot die Bühne, in deren Mittelpunkt ein glänzender schwarzer Sarg steht. Das Surren verstummt nun endgültig, alle halten den Atem an. Unter lautem Knirschen und Quietschen öffnet sich der Sargdeckel in Zeitlupe, und noch langsamer erhebt sich Graf Dracula mit einem unheimlichen Grinsen aus den roten Kissen. Er zieht elegant seinen Zylinder und verbeugt sich kurz vor seinem Publikum.

Die Boxen untermalen die Szene mit „After Dark“ von Tito & Tarantula. Graf Dracula wirft seinen Zylinder in die Menge und beginnt mit einem ultralangsamen Strip. Geschickt öffnet er den Verschluss seines langen schwarzen Umhangs, der mit rotem Satin gefüttert ist. Eine elegante Drehung, und das Cape gleitet zu Boden. Ein Knopf nach dem anderen öffnet sich und gibt seine unbehaarte, sehr trainierte Brust frei. Seine Hände streichen lasziv über den glänzenden Oberkörper bis zum Bund seiner Hose.

„Wow, der ist so heiß“, murmelt Carmen und bewegt sich mit schwingenden Hüften Richtung Bühne.

Grazil umtanzt sie den Vampir, legt ihm von hinten die Hände auf die nackte Brust, deutet einen Biss in seinen Hals an, umschlängelt ihn, geht vor ihm auf die Knie, lässt ihre Hände über seinen Schritt gleiten, erhebt sich mit vollkommener Anmut und schreitet unter Applaus wieder von der Bühne. Sie zwinkert mir zu, und Graf Dracula vollendet sein Werk allein. Was wir zu sehen bekommen, kann sich sehen lassen. Graf Dracula hat einen perfekten Körper, lange schlanke Gliedmaßen, ist gut bemuskelt und auch sonst bemerkenswert bestückt. Seine Show ist so lässig, so sexy, so scharf – ich hätte nie gedacht, dass ein strippender Mann mich so anmachen könnte. Ein entzückter Seufzer entfährt meiner Kehle. Carmen legt den Arm um meine Schultern.

„Ich weiß, Darling.“ Sie ist jetzt ganz nah an meinem Ohr. „Aber der gehört heute mir.“

 

Sie beißt mir zärtlich in den Hals und taucht in der Menge ab.

Ich schaue mich um und frage mich: ‚Aber welcher ist meiner?‘ Gar nicht so einfach zu entscheiden, denn wer weiß schon, wer sich hinter welcher Maske verbirgt? ‚Ist das wirklich wichtig, Luzy? Du willst doch Abenteuer erleben, also trau dich. Such dir den zweitschönsten Vampir.’

Der steht an der Bar, im Outfit des Jokers. Lässig, dieses unverschämte Grinsen im Gesicht, mit zerzaustem, halblangem Haar und ebenfalls einem Topbody.

‚Wahrscheinlich Tänzer hier am Theater’, denke ich, als ich mich neben ihn an den Tresen stelle und mir eine Bloody Mary bestelle. Ich überlege noch, wie ich ihn anspreche, als ein Frankenstein auftaucht.

Er legt seine Hand unter das Kinn des Jokers, dreht dessen Gesicht zu sich und küsst ihn wild und leidenschaftlich. Pech gehabt! Während ich noch mit meiner Naivität hadere, flüstert jemand auf der anderen Seite neben mir:

„Guten Abend, hab vor mir keine Angst.

Ich bin der Engel, nach dem du verlangst.

Das Warten ist bald vorüber,

denn ich lade dich ein.

Beim Ball des Jahres tanzen wir durch die Nacht,

bis deine Sehnsucht eine Frau aus dir macht.“

Die Worte kommen aus dem Mund eines anderen Grafen von Krolock, und was soll ich sagen? Er wäre nicht meine erste Wahl, auch nicht meine zweite – aber in der Not …

Nein, so schlimm ist er nun auch wieder nicht. Etwa so groß wie ich, Hakennase, kleine lustige Augen, Oberlippenbärtchen, ein bisschen verschlagen, vielleicht ja ganz witzig.

„Ein Feuer brennt das andre nieder, ein Schmerz kann eines andern Qualen mindern …“, erwidere ich, und bin ein bisschen stolz, dass mir diese Zeilen aus Romeo und Julia eingefallen sind.

„Kein Hindernis aus Stein hält Liebe auf, was Liebe kann, das wagt sie auch“, erwidert er prompt.

„Eure Lordschaft, was verschafft mir das Vergnügen?“ Ich bin mit meinen Zitaten am Ende.

„Ich erkenne einen hungrigen Blick, Mylady.“

„Dann erweisen Sie mir doch die Ehre eines Tanzes“, schlage ich vor.

„Wenn Mylady sich das antun will …“

Er lacht, und kurz darauf weiß ich, was er damit meinte. Er tanzt grauenhaft, steht einfach nur da und wiegt seinen Oberkörper hin und her. Dabei schlackern seine Arme rechts und links, als gehörten sie gar nicht zu ihm, und er wiegt seinen Kopf selbstvergessen, als wäre er ein Wackeldackel. Nach dem Strip von Graf Dracula liegt die Latte natürlich hoch. Aber das hier ist wirklich der Gipfel des unerotischen Ausdruckstanzes. Ich weiß gar nicht, wie ich mich bewegen soll – plötzlich kommen mir meine eigenen Bewegungen affig vor, als würde er mich spiegeln. Nach einem Song ziehe ich die Reißleine.

„Diese heftigen Freuden haben heftige Enden“, fällt mir noch aus Romeo und Julia ein. Ich verabschiede mich unter dem Vorwand, Carmen zu suchen, und bewege mich zu den Nischen.

Ich halte die Augen weiter offen. Überall huschen mystische Wesen zwischen flatternden Vorhängen hin und her, es wird gekichert, geknutscht, gefummelt. Hinter einem Vorhang entdecke ich Carmen und ihren Grafen Dracula. Sie liegen selbstvergessen auf einem Sofa und küssen sich – ich spüre einen kurzen Stich. Meine Eifersucht geht in alle Richtungen: Graf Dracula hätte ich auch gerne vernascht, mit Carmen hätte ich vielleicht heute Nacht etwas angefangen, und überhaupt, warum sind hier alle erotisch versorgt, nur ich laufe allein durch die Nacht? Bevor mich mein Selbstmitleid wieder an die Bar treibt, spricht mich jemand von der Seite an.

„Nicht erschrecken, Königin der Nacht“, raunt Freddy Krueger. „Nichts ist, was es scheint.“

Er sieht so schrecklich aus, dass ich lachen muss. Seine aufgemalte Maske besteht aus einer Mischung aus Adern, Furchen und Gewebe. Dazu trägt er stilecht einen schwarz-rot gestreiften Pullover und eine schwarze Hose.

„Kommt es nicht auf die inneren Werte an?“, frage ich lächelnd.

„Oder darauf, was darunter ist“, antwortet er.

„Oder darauf, was nicht darunter ist“, sage ich in Anspielung auf meine leichte Bekleidung unter dem Rock, den ich bei der Gelegenheit ein wenig anhebe.

„Oh, là, là – da würde ich gern mal nachschauen.“

„Manchmal ist die Vorstellung reizvoller als die Wirklichkeit“, gebe ich zu bedenken.

„Vielleicht …“, murmelt er und streicht mit dem Finger meine Taille entlang Richtung Hüfte bis zu meinem Oberschenkel. „Vielleicht aber auch nicht …“

Es ist seltsam, aber sein hässliches Äußeres törnt mich an. Er wirkt männlich und auch ein bisschen brutal. Da ist nichts Nettes, nichts Vertrauenerweckendes, nur pure Rohheit. Seine Lippen sind schmal, die Augen starren mich durch Schlitze unverwandt an.

‚Er wird sich diese Rolle nicht umsonst ausgesucht haben’, denke ich. Mit der Hand, die auf meinem Oberschenkel liegt, schiebt er mich in eine Nische, wo er mich an die Wand drängt und seine harten Lippen auf meinen Mund presst. Seine Zunge ist fast unverschämt: dominant und kompromisslos. Seine Hände sind groß und zupackend. Er umfasst meinen Hals, nicht zu fest, aber fest genug, um mich zu fixieren.

„Zieh den Rock hoch“, befiehlt er mir leise.

Während mein Kopf und meine Schultern an die Wand gepresst sind, löse ich mein Becken, greife mit beiden Händen zur Seite und raffe den Stoff. Dafür muss ich mich so weit vorschieben, dass ich ihm nahe genug komme, um seine Erektion zu spüren, die wie eine Eisenstange in seiner engen Hose steckt.

„Braves Mädchen“, flüstert er. „Das gefällt mir.“

Und ganz ehrlich: Mir gefällt es auch. Ich reibe mich ein bisschen an ihm.

„Mach weiter“, murmelt er, und während er meinen Hals mit einer Hand umfasst hält, wandert die andere zwischen meine Beine. Er schiebt seinen Mittelfinger in mich hinein, und ich stöhne leise auf.

„Das macht dich scharf, stimmt’s?“

Ich nicke und öffne die Augen, um mich noch einmal an seiner hässlichen Maske zu ergötzen.

Freddy Krueger lässt kurz von mir ab, tritt einen Schritt zurück und betrachtet mich durch seine Schlitze.

„Geil“, entfährt es ihm, als er mich fast nackt sieht. Er geht auf die Knie. Ich fühle seinen Atem und stöhne leise auf. Im Hintergrund ruft eine Stimme:

„Hey Leute - alle zur Tanzfläche!“ ‚Umso besser’, denke ich. ‚Dann können wir es ungestört machen.‘

Doch Freddy Krueger springt wie von der Tarantel gestochen auf und stürzt aus der Nische.

‚Was war das denn?‘, frage ich mich. ‚Ist ihm übel geworden?‘

Ich bin so angeheizt, dass ich kurz überlege, es mir selbst zu machen, aber dann richte ich mir den Rock und werfe mich, nennen wir es ‚vorgeglüht’, ins Getümmel.

‚Krass’, denke ich. ‚Ich hätte beinahe mit Freddy Krueger gevögelt.’

Als ich die Tanzfläche erreiche, geht das Licht wieder aus. Ein Scheinwerfer erleuchtet das Mikrophon in der Mitte. Davor steht eine Schlangenfrau in einem grün-silber-goldfarben gemusterten Ganzkörperbody. Sie dreht uns den Rücken zu, der bis zum Ansatz ihres megasexy Hinterns nackt ist. Sie trägt goldene Plateau High Heels mit Riemchen. Ihr goldenes Haar legt sich wie eine weiche Welle über eine ihrer Schultern. Klaviermusik ertönt, und mit dem ersten Ton dreht sich die Schlangenfrau dem Publikum zu. Wir erkennen an den Konturen, die sich unter dem Body abzeichnen, dass die Schlangenfrau ein Mann ist. Mit rauchiger, leicht brüchiger Stimme stimmt sie an:

„She wore blue velvet,…“

Alle sind verzückt, als Liz in all ihrer Pracht auf die Bühne steigt, sich neben die Schlangenfrau ans Mikrophon stellt und die beiden in einem so wunderschönen Duett den Song zu Ende bringen, dass es im ganzen Saal knistert. Ich wünsche mir, Freddy Krueger hätte unsere kleine heiße Einlage nicht so plötzlich abbrechen müssen und frage mich, was ihn in die Flucht geschlagen hat.

Noch bevor ich der Antwort nachgehen kann, nimmt mich der schönste Mann des Abends, Carmens Graf Dracula, an der Schulter und zieht mich ganz dicht an sich heran. Mir schießen tausend Gedanken auf einmal durch den Kopf. ‚Oh ja, bitte nimm mich! Das kann ich Carmen nicht antun! Vielleicht wollen die einen Dreier? Oh mein Gott, will ich das?’

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?