Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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„Hoffentlich bekommt er nur eine Bewährungsstrafe und muss nicht ins Gefängnis. Daran zerbricht der arme Junge. Das dürfen sie einfach nicht tun!“, hatte meine Mutter gejammert.

Zum ersten Mal, vielleicht weil ich mit Marcel glücklich bin und Ellen und Erik zusammen erlebe, möchte ich ihm auch eine Chance geben. Ich will wieder meinen alten Bruder zurückhaben. Dass Tim für ihn in unerreichbarer Entfernung ist, lässt mich hoffen, dass wir nach seiner Verhandlung in sechs Wochen einen Versuch starten können. Zumindest Tim wäre vor ihm sicher.

Ich hatte meiner Mutter daraufhin gesagt, dass ich das nächste Mal mit zu ihm fahre.

Das hatte viele Wogen unseres vorherigen Gespräches geglättet und ich hatte ihnen außerdem versprochen, dass ich ihnen immer schreibe oder sie anrufe, wenn ich bei Marcel bleibe.

„Bitte auch, wenn du bei Ellen bist“, hatte meine Mutter weinerlich gebeten.

„Natürlich!“, hatte ich geantwortet. Aber ich bin mir sicher, dass das so schnell nicht wieder vorkommen wird. Zu einem wegen Erik und zum anderen, weil Marcel das bestimmt nicht mehr zulässt und ich das somit auch nicht möchte.

Als endlich mein Handy klingelt, gehe ich sofort ran. Schon den grünen Hörerknopf drückend, fällt mir ein, dass es noch vor zehn ist und eigentlich noch etwas zu früh für Marcels Anruf. Aber mein Kopf und meine Zunge sind in diesem Moment nicht kompatibel und ich rufe ein freudiges: „Hallo Schatz!“, in mein Handy, weil die Sehnsucht zu Marcel mich überwältigt. Aber ich bin nicht mal übermäßig überrascht, als ich nicht Marcels Stimme höre, weil meinem Kopf das schon klar war.

„Was für eine Begrüßung! Da könnte ich mich dran gewöhnen“, brummt eine dunkle Stimme ins Telefon.

Verdammt!

„Ach Erik, du bist das“, blaffe ich übertrieben enttäuscht. Was will der denn schon wieder?

„Ja, Schatz. Ich bin´s“, brummt er verstimmt. „Wer ist Schatz?“, fragt er hinterher.

Mann, ist der Typ neugierig. Unglaublich!

„Mein Freund“, drücke ich ihm rein.

„Du hast keinen, hast du am Samstag gesagt.“

„Das war Samstag. Sonntag war das dann nicht mehr so“, säusele ich süßlich. „Dank dir und deiner Drogenaktion. Mein Exfreund meinte daraufhin, dass es besser ist, nicht mehr mein Exfreund zu sein, damit ich bei euch nicht unter die Räder komme.“

Einige Zeit ist es still in der Leitung.

„Erik, bist du noch dran? Sonst lege ich jetzt auf, wenn du nichts weiter willst, damit mein Schatz mich auch erreichen kann.“

Ich bin böse! Tim hat recht. Und es fühlt sich hier und heute und in meinem Zuhause, weit weg von allem, gut an. Aus irgendeinem Grund drängt mich etwas dazu, Erik herauszufordern.

„Nein, ich will noch was. Wir beide haben noch etwas offen“, knurrt der in seiner unfreundlichen Art.

Mir wird mulmig. Seine Stimme und seine Worte schaffen es ganz schnell mich wieder runterzuholen. „Ich wüsste nicht was“, sage ich und versuche meine plötzlich aufkeimende Unsicherheit nicht zu offensichtlich erscheinen zu lassen.

„So, willst du jetzt kneifen? Du hast gesagt, ich soll das mit dir, statt mit Ellen, klären.“

Hm, naja, am Telefon kann er mir erzählen, was er will.

„Stimmt, dann spreche dich aus. Was müssen wir klären?“

„Du stehst also zu deinem Wort, dass ich, wenn ich ein Problem mit dir habe, das mit dir, statt mit Ellen, besprechen soll?“

Ich muss an Ellens blaue Flecken denken und ihr trauriges Gesicht, als sie mir erzählte, wie sie an die gekommen war.

„Ja, klar! Aber bitte schnell. Ich habe nicht ewig Zeit“, brumme ich.

Es erklingt ein leises, überhebliches Lachen, und ich fühle mich in der Falle, trotz der gefühlten 1000 KM zwischen uns.

„Gut zu wissen. Wir sehen uns dann. Und bring etwas Zeit mit.“

Ich bin verwirrt. „Was?“

„So etwas bespricht man doch nicht am Telefon. Das macht man Auge in Auge. Und schauen wir mal, wann. Am besten dann, wenn du am wenigstens damit rechnest.“ Das klingt in meinen Ohren wie eine Drohung. Was habe ich dem eigentlich getan?

„Also bis dann, mein Schatz!“ Er lacht dieses gehässige, dunkle Lachen und legt auf.

Psychoscheiß! Ellen hat recht.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, obwohl Erik gar nicht mehr am Handy ist. Seine Worte treffen mich wie Hagelkörner in einem Sommergewitter. Ich lege das Handy weg, weil meine Hand leicht zittert und komme mir idiotisch vor. Was kann er mir schon tun? Nichts!

Ich habe mich noch nicht ganz von dem Anruf erholt, als es erneut klingelt. Diesmal schaue ich erst auf das Display und es ist wirklich Marcel. Glücklich nehme ich ab.

„Hi Süße, du fehlst mir“, raunt er und ich kann das nur erwidern. Dann erzähle ich ihm alles über meine Auseinandersetzung mit meinen Eltern, und dass ich eingeräumt habe, mit ihnen das nächste Mal Julian zu besuchen. „Darauf haben sie dann grünes Licht gegeben und ich darf öfters bei dir schlafen“, sage ich und kann es kaum abwarten, endlich wieder in seinen Armen zu versinken.

Marcel freut es, dass wir einige Nächte mehr einplanen können. Aber er brummt auch wütend, dass ich auf keinen Fall mit zu Julian fahren werde.

„Schatz, ich will sehen, ob das stimmt, dass er sich so verändert hat. Bitte sei nicht sauer“, versuche ich ihn zu besänftigen.

Es dauert einige Zeit, bis er ein „Okay, du musst das selbst wissen“, ins Telefon brummt. Aber ich höre an seiner Stimme, dass er es hasst, wenn ich eigene Entscheidungen gegen seinen Willen treffe.

Tja, egal was ich ab jetzt entscheide, ich muss es von nun an bei ihm durchboxen. Hatte ich meine Eltern soweit, sich nicht mehr überall einzumischen, so habe ich nun Marcel, der mein Leben bestimmt. Aber im Moment ist mir das egal. Ich bin viel zu glücklich, ihn wiederzuhaben. Dafür bin ich sogar bereit, meine ganze Freiheit aufzugeben, die ich mir erkämpft habe. Nichts ist mehr wichtiger als er und ich.

Als wir am Freitag aus dem Schulgebäude in den hellen Sonnenschein treten, freue ich mich wie ein kleines Kind auf mein bevorstehendes Wochenende. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, es wird das schönste meines Lebens.

Aber da Marcel erst nach 22 Uhr zu Hause sein wird, habe ich noch den ganzen Nachmittag Zeit für meine Mädels und einen Gang durch die Stadt. Nach einer ziemlich lernintensiven Woche sind wir alle überdreht und froh, dem Schulalltag zwei Tage entfliehen zu können. Die Mädels haben beschlossen, am Samstag geschlossen die Stadt unsicher zu machen und ich werde nicht dabei sein können.

Das ist ein Wehmutstropfen, der mir mein Wochenende mit Marcel etwas verleidet. Aber ich habe mir halt ein schlechtes Wochenende ausgesucht, an dem einiges in der Stadt los ist.

Aber an diesem Freitag möchte ich zumindest die letzten Stunden meine Freiheit genießen, wie ich Ellen und Sabine mit einem Augenzwinkern mitteile.

Sie nehmen den Spruch lachend auf und wissen nicht, wie ernst er werden kann. Sie kennen Marcel nicht … und wie häuslich ich werde, wenn ich mit ihm zusammen bin.

Diesmal gesellen sich zu Ellen und mir auch Andrea, Sabine, Michaela, Ursula und Susanne. Michaela will sich später noch mit ihrem Bruder in der Stadt treffen und Ursula traut sich das erste Mal mit uns mit, angezogen von unseren Geschichten, die wir in der Schule von unseren bisherigen gemeinsamen Unternehmungen preisgaben.

Mit dem nächsten Bus fahren wir in die Stadt und steigen am Hasetor Wall aus. Von dort aus gehen wir wieder in den kleinen Park, aus dem Ellen und ich am Montag geflüchtet waren, weil uns Daniels SMS dazu aufgefordert hatte. Heute gibt es kaum eine freie Stelle und wir ziehen weiter in die Innenstadt. Bei McDonald essen wir Burger, Salat oder worauf der einzelne Appetit hat und beschließen hinterher die Sonne im Botanischen Garten zu genießen. Später wollen wir die Innenstadt unsicher machen, bevor ich am Abend wieder mit dem Zug um zehn nach Bramsche fahre.

Ich hatte Marcel gestern meinen Hausschlüssel gegeben, damit er heute Vormittag vor der Arbeit bei mir zu Hause vorbeifahren und einige Sachen von mir in sein Auto laden konnte. Ich werde in nächster Zeit einiges an Kleidung und Schulsachen bei ihm brauchen.

Wow, dass sieht schon ganz nach zusammenziehen aus und fühlt sich auch so an. Endlich!“, hatte er mir in einer SMS am Mittag geschrieben, nachdem er die Sachen aus meinem Zimmer geholt hatte.

Ich schrieb ihm nur zwei Wörter zurück: „Ja, endlich.“

Er hatte mir voller Stolz am Mittwochabend seinen Kleiderschrank präsentiert - eigenhändig zusammengebaut. Und eine Seite ist für mich.

Ich bin aufgedreht und etwas nervös, als stände ich vor einem Urlaubsantritt in die Karibik. Die Mädels merken das auch und lassen sich von mir und meiner guten Laune mitreißen. Nur Ellen weiß wirklich, warum ich so überdreht bin und kann darüber nur nachsichtig lächeln.

So liegen wir in der Sonne und unterhalten uns über Gott und die Welt. Aus irgendeinem Grund finden die Stadtmädels es interessant, mich aus meinem Leben berichten zu hören, dass nach ihrer Meinung so ganz ab von jeglicher Zivilisation stattgefunden hat. Die Geschichten über unsere Scheunenfeste und Jugendtreffen verblüffen sie. Nur Andrea und Michaela sind solche Partys nicht ganz fremd.

So erzähle ich an diesem Nachmittag meinen Zuhörern von meiner ersten Scheunenfete und meiner Begegnung mit Timothie, und von Tim und unserem ersten „netten“ Treffen und der unglaublichen Anziehungskraft, die uns zueinander hinzog.

Die neugierige Sabine fragt mich, warum er allein von Wolfsburg nach Alfhausen zog und alle sind auf den Fortgang meiner Geschichte gespannt.

 

„Naja, er wollte mich halt unbedingt treffen“, sage ich nur überheblich grinsend, um es als Scherz zu kaschieren. Natürlich nimmt das auch keiner für bare Münze und die Wahrheit würden sie sowieso nicht glauben.

Langsam in Fahrt kommend, erzähle ich ihnen auch von Julian, der mit Tim gar nicht einverstanden war und mir Marcel vorsetzte. Dann berichte ich ihnen von dem Tag, an dem ich mich mit Tim in der Hütte traf und später von Marcel zu ihm nach Hause mitgenommen wurde, wo ich dann die Nacht verbrachte.

Ich habe die ungeteilte Aufmerksam meiner Mitschülerinnen und bin mir nicht ganz sicher, ob nicht sogar einige der um uns liegenden gebannt meine Geschichte verfolgen. Dass ich mich so gut zu einer Geschichtenerzählerin eigne war mir bisher nicht klar gewesen. Auch Ellen hängt fasziniert an meinen Lippen, obwohl sie schon das eine oder andere von mir weiß.

„Mein Bruder holte mich am nächsten Tag von Marcel ab“, führe ich meine Erzählung fort. „Er war schrecklich wütend … auf mich, Marcel und auf Tim. Und dann klickte er aus, fuhr Tim über den Haufen und verletzte mich mit einem Messer am Hals“, bringe ich meine Geschichte wage weiter auf den Weg.

Voller Entsetzen werden die ersten ungläubigen Ausrufe laut und ich zeige ihnen meine Narbe, die sich immer noch rot auf meinem Hals abzeichnet.

„Marcel hatte sich mit der Polizei auf die Suche nach mir gemacht und kam gerade rechtzeitig. Sie schnappten sich meinen Bruder und man brachte mich und Tim in ein Krankenhaus, in dem Marcel tagelang an meinem Bett blieb, bis meine Eltern aus dem Urlaub zurückkehrten. Mein Bruder sitzt seitdem in Untersuchungshaft.“

Alles schmilzt angesichts Marcels Tat dahin und ich kann nur lächelnd hinzufügen, dass ich ab dieser Zeit in ihn verliebt bin.

Es gibt keine in der kleinen Gruppe, die das nicht verstehen kann, außer Susanne, die nur schnippisch lacht.

„Aber Tim wollte nicht so schnell aufgeben“, fahre ich mit meiner Erzählung fort, als erzähle ich aus einem Roman. Und so erfahren sie von der nächsten Scheunenparty und dem Lehrling aus Marcels Arbeit, der mir den Hof machte, dem Übergriff von Tim auf der Tanzfläche und dem Lied auf seinem MP3 Player.

Wieder schmilzt alles dahin. Diesmal zu Tims Gunsten.

„Ich stand völlig neben mir, von Tim und dem Lied gefangen, und das merkte Marcel, als ich aus der Dunkelheit zu ihm ging. Er setzte mich in ein Taxi und wir fuhren nach Hause. Auch da war ich noch nicht zu einer vernünftigen Reaktion fähig und er machte sich schwere Vorwürfe, dass er nicht besser auf mich aufgepasst hatte. Er ging davon aus, dass mir einer an die Wäsche gegangen war. Dass ich ihm aber nichts erzählen wollte, machte ihn ziemlich wütend …“

Meine Geschichte lasse ich mit Marcels Gespräch mit einem Bekannten fortfahren, der ihm steckte, dass ich mich auf der Tanzfläche nur schwer eines sehr anhänglichen jungen Mannes erwehren konnte und dieser Typ mir dann nach draußen gefolgt war.

„Da die Beschreibung auf den Lehrling aus seinem Betrieb passte, obwohl das Tim gewesen war, prügelte sich Marcel mit ihm und brach ihm die Nase. Daraufhin verlor Marcel fast seinen Job, weil man natürlich keine Arbeitskollegen verhauen darf“, beende ich diese Episode.

„Oh Mann!“, raunt Andrea kopfschüttelnd. „Und das alles wegen Tim.“

Ich beginne die nächste Geschichte, die auf der Jugendfete weitergeht, an der Tim erneut das Lied spielte, als Musikwunsch für eine Carolin und dass Marcel darüber so verwirrt war.

Wieder schmelzen meine Zuhörerinnen seufzend dahin.

„Marcel machte sich voll die Sorgen, was das mit dem Lied bedeuten könnte und ob es nicht doch für mich war und ich das nur nicht zugeben wollte. Ich hatte ganz schön zu kämpfen, ihm das auszureden. Und dann nahm er mich am nächsten Tag das erste Mal mit zu seinen Eltern zum Kaffeetrinken.“

Ich lasse die Fahrt zu Marcels Eltern folgen, seine Übergabe des Vorverlobungsringes und der Aussage von Marcel vor seinen Eltern, dass er und ich verlobt sind, und er mich heiraten wird … statt Katja.

„Statt wem?“, kommt es fast gleichzeitig aus den Mündern.

Ich erzähle ihnen, dass seine Eltern Marcel mit der Tochter einer Freundin zusammen sehen wollen und dass diese Tochter Marcel auch unbedingt haben will. Und damit habe ich den Grundstein für die nächsten Begebenheiten und der nächsten Scheunenfete gelegt.

Völlig gebannt hören sie sich meine Ausführung von Katjas Auftritt an und wie ich alles an diesem Abend erlebt hatte.

„Tim tauchte plötzlich auf und wollte mich sofort wegbringen. Aber ich wollte wissen, wo Marcel mit dieser Katja abgeblieben war. Tim konnte mich nicht aufhalten und dann sah ich sie … Marcel und Katja zusammen hinter dem Zelt.“

„Ach du Scheiße!“, entfährt es der sonst so sittsam sich ausdrückenden Michaela, während ihre großen, blauen Augen auf mich gerichtet sind und sie ihr langes, blondes Haar zurückwirft. Und auch alle anderen sind außer sich.

„Tim packte mich und brachte mich weg … zu sich nach Hause.“

„Herrje! Und dann? Das war doch seine Chance!“, stößt Andrea mit roten Wangen hervor.

„Joop!“ Ich erzähle ihnen von den vielen SMSen von Marcel und seinen Anrufen, und dass Tim mein Handy davon säuberte. Ich berichte ihnen von dem tränennassen Kissen in meinem Bett, und dass Marcel die Nacht letztendlich dort verbracht hatte, statt bei Katja und mir einen Brief geschrieben hatte, der in meinem Zimmer auf mich wartete. Dass ich das alles entdeckte, als ich mir meine Sachen holen wollte, ließ ich folgen … und unsere darauffolgende Verfolgungsjagt, als Marcel mich und Tim einholen wollte, um mich zu einem Versöhnungsgespräch zu bewegen. Die Geschichte mit den Bildern, die herumgingen und in der Katja allen mitteilte, dass sie mit Marcel zusammen ist, nimmt meinen Zuhörerinnen den Atem. Erboste Ausrufe werden laut.

Ich fahre fort, selbst von den Gefühlen wieder niedergedrückt: „Das wusste ich aber alles nicht, weil Tim darauf achtete, dass mich ja nichts erreicht. Und dann, nur durch Zufall und über eine Freundin, bekam ich die Bilder doch zu sehen und schickte Marcel eine böse SMS, dass ich bedauere, je mit ihm etwas angefangen zu haben. Naja, und Tim war nach zwei Tagen völlig fertig, weil er mit meiner Nähe nicht klarkam, ohne mich anrühren zu dürfen und ich beschloss, mit ihm zu schlafen. Ich weiß nicht genau wieso, vielleicht um besser mit dem Verlust von Marcel fertig zu werden.“ Wieder kann ich ihnen nichts von dem Fluch erzählen, der Tim zugesetzt hatte. „Das war aber irgendwie nicht so wie bei Marcel und so versuchten wir es noch ein paar Mal. Aber er konnte Marcel nicht das Wasser reichen.“ Ich grinse alle frech an. Hier bin ich die Coole und kann auch so tun, als wäre alles nicht so schlimm gewesen.

Marcels Widerruf, dass er nicht mit Katja zusammen ist und auch nie sein wird und dass er nur mich liebt, lässt wieder der einen oder anderen einen Seufzer über die Lippen rinnen wie flüssige Erdbeersoße.

„Und dann wisst ihr ja, dass Marcel mich hier an der Schule abgepasst hat. Er konnte mir glaubhaft versichern, dass Katja alles inszeniert hatte, um uns auseinanderzubringen und ich wurde schwach. Aber Tim war sauer, als er hörte, dass wir uns ausgesprochen hatten und noch wütender, dass ich mein Wochenende mit Ellen im Nachtleben Osnabrücks verbrachte, statt wie abgesprochen mit ihm zusammen. Er rief mich den ganzen Abend an und bombardierte mich mit SMSen. Als er mich endlich erreichte, wollte er mich sofort abholen. Voll stalkermäßig. Und dann traf ich mich am nächsten Tag mit Marcel zum Eis essen. Daraufhin drehte Tim durch.“

Ich sehe an den Gesichtern der Mädels, dass es nach deren Meinung nicht noch schlimmer kommen kann. Aber als ich dann von dem Nachmittag berichte, an dem Tim und meine bis dahin beste Freundin sich in der Eisdiele zu uns gesellten und er mich so böse Angriff und sogar unter dem Tisch drangsalierte, wurden sie eines Besseren belehrt.

„Marcel war an diesem Nachmittag sowieso schon völlig durcheinander, weil ihm meine Mutter versehentlich Tims MP3 Player mit seinem Liebeslied in die Hand gedrückt hatte, in der Annahme, es sei seiner. Ihr könnt euch denken, was in ihm vorging, als er das Lied hörte, dass auf der Jugendparty für eine Carolin gespielt wurde. Außerdem wusste er, dass ich das Gerät in der Nacht der ersten Scheunenfete in der Tasche hatte, als ich so neben mir stand. Mir war klar, dass ich ihm eine Erklärung schuldig war … und dann Tim noch dazu, der mich fast schon erpresste. Ich sage euch! Ich beschloss, dort an dem Tisch dieser Eisdiele, Marcel alles über mich und Tim zu erzählen.“

Und so lasse ich die Geschichte mit Marcel und meiner Aussprache mit ihm am See folgen, in der er von mir und Tim erfuhr, und dass Marcel mich daraufhin einfach stehenließ. Und mit trauriger Stimme, die meine Gefühle von diesem Tag wiederspiegeln, erzähle ich von Tim, der mich auf meinem Nachhauseweg aufgriff und dem ich sagte, dass es zwischen uns ein für alle Male aus ist.

„Ich beschloss an diesem Sonntagnachmittag, völlig erschüttert von allem, nie wieder etwas mit einem Kerl anzufangen“, sage ich in einem unumstößlichen Ton und sehe von einer zur anderen.

„Poor! Das kann ich nur zu gut verstehen“, raunt Susanne, während alle anderen mich nur groß anstarren.

Meine Geschichte soll natürlich mit einem Happy End enden und ich fahre fort: „Und dann war ich letztes Wochenende mit Ellen in Osnabrück unterwegs und obwohl sie immer aufpasst wie ein Luchs, hat mir jemand etwas ins Glas getan und ich war völlig stoned.“

Ich zwinkere Ellen zu, die hellhörig diese Version meiner Geschichte verfolgt, ein leichtes Schmunzeln in den Mundwinkeln. Ich kann schließlich nicht sagen, dass es ihr Bruder bei ihr zu Hause war, während sie irgendwelche Junkies retten wollte.

„Ellen rief Marcel an, damit er mich abholt. Ich konnte so weder zu ihr noch zu mir nach Hause. Und der ist tatsächlich gekommen. Er hat mich in seine neue Wohnung mitgenommen und dort schlimm zusammengefaltet und mir vorgehalten, dass ich ohne ihn im Nullkommanichts unter die Räder komme. Das musste ich natürlich einsehen … und so sind wir halt wieder zusammengekommen“, beende ich meine Geschichte ziemlich lapidar.

Einige Zeit ist es still um mich herum. Selbst die Vögel auf den Bäumen scheinen sich erst mal fangen zu müssen. Auch die Gruppen um uns herum erwachen nur langsam wieder zum Leben. Oder meine ich das nur? Auf jeden Fall sind meine Zuhörerinnen ziemlich mitgenommen.

„Manometer! Das ist unglaublich, was bei euch auf dem Land so alles abgeht. Ich glaube, ich ziehe um“, sagt Sabine, die sich am schnellsten wieder einkriegt, lachend.

Ellen steht auf. „Kommt, Mädels. Ich denke, wir genehmigen uns in der nächsten Kneipe einen Drink. Das war Stoff für einen Film. Das muss man erst mal verkraften!“

Sie zwinkert mir zu und weiß, dass ich vieles, was die Mädels noch mehr aus der Bahn geworfen hätte, weggelassen habe. Aber selbst die Softvariante hatte selbst mich in meinen Tiefen erneut erschüttert. Ich merke, ich bin da noch lange nicht drüber weg.

Ich halte Ellen meine Hand hin und sie zieht mich hoch. Die anderen folgen uns und wir schlendern wieder Richtung Altstadt. Vielleicht bekommenen wir einen Platz im „Kleinen Lord“, der kleinsten Kneipe der Welt? Mit uns ist die schon voll.

Aber wir kehren dann doch schon in einer anderen Kneipe ein, weil wir alle durstig sind und nicht weiterlaufen wollen. Dort spielt schöne Musik und sie haben einen kleinen Gastgarten, in dem wir es uns bequem machen. Außerdem ist das eine Kneipe, die Ellen kennt.

Ich bestelle mir ein großes Alster und die anderen sich Cola, Orangensaft mit Wodka oder ein Bier. Da ich noch später auf Marcel treffe, verkneife ich mir den Orangensaft mit Wodka lieber.

„Mann, willste jetzt wirklich brav werden?“, fragt mich Ellen aufgebracht und zieht ihr Handy aus der Tasche, das einen Anruf ankündigt.

Ich schmunzele nur und wende mich an Andrea, die auf der anderen Seite neben mir sitzt und mich am Arm zu sich zieht. „Und seid ihr jetzt wieder richtig zusammen, du und Marcel?“, fragt sie. Scheinbar lässt sie die Geschichte nicht mehr los.

„Joop! Ich fahre heute Abend zu ihm und wir werden unser erstes gemeinsames Wochenende in einer eigenen Wohnung verbringen.“

„Wow! Das wird bestimmt heiß!“ Sie grinst mich an.

Ich grinse zurück. „Bestimmt! Deshalb kann ich dieses Wochenende auch nicht mit euch mitgehen. Wir wollen einfach wieder unsere Zweisamkeit genießen.“

„Das verstehe ich“, raunt sie träumerisch. „Das wird bestimmt toll … nach all dem Stress.“

 

Ich nicke, werde aber auf Ellen aufmerksam, die ins Telefon brummt: „Das ist eigentlich schlecht. Ich bin noch mit den Mädels unterwegs. Wir sind jetzt erst mal in unserer Kneipe … am Bocksturm.“

Ich sehe sie fragend an und sie sagt zu mir, nur die Lippen bewegend: „DANIEL!“

„Okay, wenn du meinst! Wir treffen uns dann an dem Taxistand am Wall. Ich komme da hin. Aber erst später.“

Sie hört erneut zu und antwortet genervt: „Ich möchte Carolin hier nicht allein lassen. Sie kennt sich hier kaum aus und ich weiß nicht, was die anderen vorhaben.“

Ich sehe Ellen irritiert an. Dass sie schon wegmuss gefällt mir gar nicht. Nach einiger Zeit sagt sie: „Ja, gut. Ich komme ja. In 10 Minuten, okay?“ Sie wirkt beunruhigt.

„Was ist los?“, frage ich, als sie auflegt.

„Keine Ahnung. Daniel hat irgendetwas Wichtiges. Was, sagt er nicht. Aber ich muss sehen, was los ist. Ich kann also nicht länger bleiben. Meinst du, du kommst klar?“

„Sicher!“, beteuere ich. „Überhaupt kein Ding. Die anderen müssen doch bestimmt auch zum Bahnhof. Ich gehe einfach mit denen mit. Ich komme schon klar und wir telen einfach später noch, wenn du willst.“

Ellen trinkt aus und steht auf. Sie will an der Theke bezahlen und dann zu dem Taxistand aufbrechen … wo auch immer der ist.

Ich stehe auch auf und drücke sie kurz. „Dann wünsche ich dir einen schönen Abend“, raune ich und zwinkere ihr zu. Schließlich verbringt sie ihn mit ihrem Daniel.

„Dir auch“, brummt Ellen, durch den Anruf beunruhigt.

Sie geht, den anderen auch noch einen schönen Abend wünschend und ich sehe ihr hinterher. Was Daniel wohl für einen Stress hat, dass er Ellen sofort abholen muss? Hoffentlich nicht wieder ein Drogenproblem ihren alten Freundinnen?

Die Kellnerin kommt und ich bestelle mir doch noch einen Wodka-Orangensaft. Ohne Ellen bin ich hier in der Stadt nur halb so locker und mir fehlt der Halt. Damit das nicht auffällt hilft mir hoffentlich der Alkohol.

Die anderen fühlen sich auch ohne Ellen wohl und beginnen eigene Geschichten aus ihren bisher missratenen Liebesleben zum Besten zu geben. Auch Michaela ist eine gute Erzählerin und hat auch schon einiges mit dem anderen Geschlecht erlebt. Aber das hätte mich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Sie hat eine super Figur, ist groß und mit ihren langen, blonden Haaren und den blauen Augen wirkt sie wie einem Modemagazin entsprungen. Dass ihr die Männer zu Füßen liegen ist klar. Auch wenn ihre überhebliche Art bestimmt den einen oder anderen abschreckt.

Eine halbe Stunde, nachdem Ellen sich auf den Weg zu Daniel machte, werde ich unruhig. Irgendetwas macht mich nervös, ohne dass ich weiß was es ist.

Andrea bestellt sich das dritte Bier und ich mir noch ein kleines Alster bei der netten Bedienung, die alles ordentlich in ein Gerät eintippt. Ich sehe ihr immer noch seltsam beunruhigt hinterher, als sie den Gastgarten verlässt. Als sie durch die Tür in die Kneipe tritt, erstarre ich.

Völlig ruhig und relaxt steht Ellens Bruder Erik im Türrahmen, ein Bier in der Hand, und prostet mir zu.

Scheiße! Wie von allen Arterien und Venen abgekappt sinkt mein Herz in den freien Fall. Ich schlucke schwer und spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht.

Sabine erzählt gerade, wie sie und ihr Freund Guido sich gefunden haben und richtet das Wort an mich. „Also bei uns gibt es solche Partys nicht, wo sich alle Jugendlichen treffen können und jeder jeden kennt. Aber wir haben uns im Ostbunker kennengelernt. Das ist ein Jugendtreff hier in der Stadt.“

Ich nicke ihr zu. Aber meine Gedanken sind bei Erik, dessen Blick ich direkt auf mir spüre.

Was soll ich jetzt nur tun? Ellen ist nicht da und sonst auch keiner, der mich beschützen kann. Von den Mädels weiß bestimmt keiner, wer das überhaupt ist. Außer Susanne vielleicht … hoffe ich.

Ich würde sie gerne fragen, aber zwischen mir und ihr ist Ellens Platz frei.

Ich versuche mich zu beruhigen. Bisher macht Erik keinerlei Anstalten, mich ansprechen zu wollen. Am liebsten würde ich schauen, was er macht. Aber ich traue mich nicht. Ich habe sein Zuprosten einfach ignoriert und bin mir nicht sicher, wie er das aufnimmt.

Als Sabine ihre Geschichte beendet hat und Andrea mit roten Wangen völlig hin und hergerissen seufzt: „Oh Mann! Ich will auch mal so etwas erleben“, sehe ich doch zur Tür.

Erik ist nicht mehr da.

Ich atme auf. Vielleicht ist er wieder gegangen? Aber tief in meinem Inneren glaube ich das nicht.

Wir bekommen unsere Getränke und ich sehe mich verstohlen um. Aber ich sehe erneut nichts von ihm und werde langsam ruhiger. Dennoch trinke ich mein Alster ziemlich hektisch und viel zu schnell aus. Das zeigt mir, dass mir immer noch nach Mut antrinken ist. Der bloße Anblick von Ellens Bruder hatte mich mehr erschreckt, als ich zugeben möchte.

„Das ist ja schon so spät!“, höre ich Ursula eine viertel Stunde später ausrufen. „Ich muss los! Tut mir leid, Mädels. Will jemand mit? Ich muss zum Busbahnhof in der Johannesstraße.“

„Gut! Ich kann auch mitgehen“, sagt Andrea, aber wenig begeistert.

„Ich muss auch los. Aber ich treffe mich gleich mit meinem Bruder“, meint Michaela, mit einem Blick auf ihre Armbanduhr.

Ich sehe Susanne und Sabine an. „Und was machen wir?“, frage ich verunsichert.

„Wir gehen auch“, sagt Susanne. „Ich habe Hunger. Hat jemand Lust mit mir zum Burger King oder Kochlöffel zu gehen?“

Sabine winkt ab. „Ich esse gleich noch bei Guido.“

Die Kellnerin kommt und wir zahlen alle. Ich nutze die Unruhe am Tisch und sehe mich erneut verstohlen um. Aber von Erik fehlt jede Spur. Dennoch befürchte ich, er könnte noch irgendwo auf mich lauern.

Auch als wir alle aufstehen, lasse ich vorsichtig den Blick durch den Gastgarten schweifen. Mich in der Mitte meiner Mädels haltend, hoffe ich, dass wir hier gut rauskommen und noch ein Stück zusammenbleiben. Ich weiß gar nicht, wo die jetzt alle hinmüssen. Noch nicht einmal, wohin ich eigentlich muss. Aber das verdränge ich erst mal. Ich muss hier nur heile rauskommen.

Der getrunkene Alkohol wirkt und um mich herum zwitschert es überdreht, wie in einem Spatzenhaufen. Wenn Erik nicht aufgetaucht wäre, könnte ich es sogar genießen, dass alle so gut drauf sind.

Tatsächlich verlassen wir ohne Probleme die Kneipe und mir fällt ein, dass ich besser noch zur Toilette hätte gehen soll. Aber mich bringen keine zehn Pferde dazu zurückzugehen.

Etwas irritiert wird mir klar, dass wir, ohne behelligt zu werden, durch die Altstadt gehen, den Domvorplatz überqueren und beim Theater in die Fußgängerzone einbiegen. An Schaufenstern, an denen die Mädels stehen bleiben, um sich die Auslage anzuschauen, sehe ich mir im Fenster die gespiegelten Gesichter der Leute hinter uns an und bin beruhigt. Erik ist nicht da.

Die Fußgängerzone ist endlos lang und als wir beim Burger King ankommen, bleiben nur noch Susanne und ich übrig. Ich wage ihr eine Frage zu stellen, die mir die ganze Zeit auf der Seele brennt. „Sag mal, warst du schon mal bei Ellen zu Hause?“

Susanne schüttelt den Kopf und hält mir die Tür auf.

„Kennst du ihren Bruder?“

Susanne lacht seltsam und ich atme auf. Also kennt sie ihn wohl, was mir eine gewisse Sicherheit gibt. Erik wird mich nicht ansprechen, wenn er Gefahr läuft, dass jemand das sofort Ellen steckt. Das hoffe ich zumindest.

„Setz dich. Ich hole uns etwas. Ich lade dich ein“, sagt Susanne. „Was möchtest du?“

„Oh, das ist aber nett. Danke! Egal! Was du nimmst.“ Ich schenke ihr ein Lächeln. Susanne ist selten so gut gelaunt und freundlich. „Ich gehe eben für kleine Mädchen.“

Als ich von der Toilette wiederkomme, nimmt sie das Tablett mit dem Essen von dem Tresen und kommt an unseren Tisch. Statt mir gegenüber, setzt sie sich neben mich und ich bedanke mich noch einmal für das Essen.