Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga

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»Meine Entscheidung steht«, sagte der Schatten vor mir, und sofort war es wieder still. Einen Moment betrachtete er mich. »Ihr seid frei. Aber seid Euch bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir uns wiedersehen.«

Ich biss mir auf die Zunge, um nicht aus Versehen etwas zu erwidern. Dann straffte ich die Schultern, denn ich wollte auf keinen Fall, dass die Schatten meine Angst sahen. Ich griff nach meinem Inflammator und ging langsam auf Gabriel und Joshua zu. Dabei ließ ich den Schatten nicht aus den Augen. Er stand weiterhin bewegungslos an derselben Stelle, und auch die anderen Schatten rührten sich nicht.

»Was ist hier los?«, fragte Joshua leise, während Gabriels intensiver Blick auf mich geheftet war.

Richtig. Manchmal vergaß ich einfach, dass die beiden die Sprache der Schatten nicht verstehen konnten. Und ich selbst hatte wahrscheinlich zu leise gesprochen oder zu weit weg gestanden. Vorerst antwortete ich jedoch nicht, denn es gab Wichtigeres.

»Kommt schnell. Und haltet das Feuer nach unten.«

Vorsichtig lief ich weiter, gefolgt von den beiden Jungs. Die Schatten rückten wie schon zuvor zur Seite, sodass sich ein Durchgang bildete. Eng aneinandergerückt nahmen Gabriel, Joshua und ich die wenigen Stufen, die vom Platz hinunterführten, und gingen langsam und angespannt durch die Schattenmenge. Wir erwarteten jeden Moment einen erneuten Angriff. Jeder von uns war bereit, sofort zuzuschlagen. Aber es geschah nichts. Regungslos standen die Schattensoldaten links und rechts von uns. Schließlich hatten wir die letzten Schatten hinter uns gelassen.

»Lauft«, rief ich, und wir rannten so schnell wir konnten in den dunklen Wald hinein.

»Du hast was?«, schrie Gabriel. »Das darf doch nicht wahr sein. Ich glaub das einfach nicht.« Wütend stapfte er im Schnee auf und ab und hinterließ dabei eine Spur wie ein wild gewordenes Tier.

»Was hätte ich denn machen sollen?«

Joshua seufzte. »Es waren einfach zu viele Schatten. Wir wären nicht lebend da raus gekommen.« Nun sah er mich an. »Trotzdem, das war echt leichtsinnig von dir. Du kannst doch nicht einfach dein Leben aufs Spiel setzen, nur weil du glaubst, dass die anderen bluffen. Das hätte auch ganz anders ausgehen können.«

Ich verdrehte die Augen. Die beiden brauchten nicht zu wissen, dass ich selbst große Angst gehabt hatte. »Aber ich wusste doch, dass die nicht bluffen. Aus irgendeinem Grund will der Schatten mich lebend.«

Gabriel blieb vor mir stehen und griff nach meiner Hand, während er mich ansah. In seinem Blick lagen Angst, Wut und Erleichterung. »Hast du eigentlich eine Ahnung, wie kritisch die Situation war? Mein Gott, das war ein Alpha-Schatten. Die diskutieren in der Regel nicht, die machen kurzen Prozess. Nur wenige Schattenwächter haben eine Begegnung mit einem Alpha-Schatten überlebt, geschweige denn ihn getötet. Bis heute hatte ich noch nie einen gesehen, und ich kann nicht sagen, dass ich darüber unglücklich war.«

»Es ist doch alles gut gegangen«, sagte ich und bemühte mich, ruhig zu sprechen, obwohl ich vor Angst immer noch zitterte.

Gabriel seufzte leise. »Trotzdem, tu so was nie wieder, hörst du? Es ist keine Alternative, dass du dich in Gefahr bringst.«

»Es geht mir gut, Gabriel«, erwiderte ich sanft.

»Ja, ich weiß.« Ohne Rücksicht auf seinen Bruder zog er mich in seine Arme.

Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und hörte ihn erleichtert ausatmen. Wie sehr hatte ich mich nach seiner Nähe gesehnt. Außerdem spürte ich die Kälte nun doch. Die Sonne war immer noch nicht aufgegangen, und ich hatte keine Jacke dabei. Ich fror, aber Gabriels Körper war warm. Ob vor Wut, Anstrengung oder Aufregung wusste ich nicht.

»Wir müssen herausfinden, was die Schatten von Emmalyn wollen«, sagte Joshua mit kühler Stimme.

Gabriel ließ mich wieder los. Bevor er sich jedoch von mir abwandte, warf er mir noch einen kurzen Blick zu, in dem so viel Sehnsucht lag, dass ich für einen Moment die Kälte vergaß. Ich seufzte unwillkürlich. Nur zu gerne hätte ich ihm endlich gesagt, dass ich mit ihm zusammen sein wollte, und nach diesen Erlebnissen wollte ich es umso mehr. Aber irgendwie schien nie der richtige Zeitpunkt zu sein.

»Es ist offensichtlich, dass sie einen Plan verfolgen, aber wir müssen vorher Vater finden«, fuhr Joshua unbeirrt fort.

Vielleicht ignorierte er uns aber auch nur, um den Schmerz nicht spüren zu müssen. Er liebte mich, das wusste ich. Ich hatte ihn auch sehr gern, aber meine Gefühle für Gabriel waren nun mal stärker. Das wusste Joshua noch nicht. Trotzdem war ich sicher, dass es schmerzhaft für ihn war, mich in Gabriels Armen zu sehen. Wie sollte es nur für ihn werden, wenn ich wirklich mit Gabriel zusammen sein würde? Daran wollte ich lieber nicht denken.

Gabriel zog sein Handy aus der Hosentasche. »Lass uns erst mal zu Hause anrufen. Vielleicht kann Mutter uns ja weiterhelfen.«

Joshua sah auf seine Uhr. »Es ist noch nicht mal halb acht. Wenn wir sie jetzt wecken und nach Vater fragen, macht sie sich bloß einen Haufen Sorgen.«

»Ich mach das schon. Außerdem ist Freitag, Lilly hat heut noch mal Schule, bevor's in die Weihnachtsferien geht.« Gabriel drückte ein paar Tasten und hielt sich das Handy ans Ohr. »Hey Lilly, wie geht's dir?«, sagte er schließlich. »Uns geht's auch gut. Ja, es ist toll hier. Ach weißt du, um diese Uhrzeit ist es in Mexiko auch nicht viel wärmer als in Deutschland.«

Das sah ich aber anders. In Mexiko war es selbst nachts deutlich wärmer gewesen als es hier in Heidelberg war. Ich schlang meine Arme um mich und spürte, wie Joshua mich mit einem Mal in die seinen zog.

»Ich würd dir ja meinen Pulli geben, aber ich trag leider nichts drunter«, sagte er leise.

Ich sah an ihm hinunter. Er hatte ein langärmeliges Oberteil an, das eine Mischung aus T-Shirt und Pullover war. »Ist schon gut«, erwiderte ich und fing einen genervten Blick von Gabriel auf.

Früher hatte es mich nicht gestört, wenn Joshua meine Nähe gesucht hatte, aber das war jetzt anders. Ihn wegzuschubsen war allerdings auch keine Alternative, dann wäre ich mir schäbig vorgekommen. Ich wollte ihm behutsam beibringen, dass ich mich in seinen Bruder verliebt hatte.

»Kann ich dir das später erzählen, Lilly?«, fragte Gabriel nun. »Ich müsste mal dringend mit Vater sprechen. Okay, dann gib mir Mutter. Ja, danke.« Es entstand eine kurze Pause, schließlich schien seine Mutter endlich am Apparat zu sein. »Hallo. Ja, es geht uns gut. Sag mal, wo ist Vater denn? Echt? Du weißt nicht zufällig, wer das war? Und dann? Ach was, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bin sicher, es geht ihm gut. Ja, mach ich. Bis später dann.« Er legte auf und steckte das Handy zurück in seine Tasche. Dann zog er seinen Pullover über den Kopf, kam auf mich zu und reichte ihn mir.

»Das geht nicht, du holst dir bloß 'ne Erkältung.« Ich war froh, endlich einen Grund zu haben, mich aus Joshuas Armen lösen zu können und sah Gabriel an. Jetzt trug er nur noch ein enges, schwarzes T-Shirt und dunkelblaue Jeans. Selten hatte er besser ausgesehen als in diesem Moment. Immer noch hielt er mir seinen Pullover entgegen.

»Nun zieh ihn schon an, ich frier nicht so schnell«, sagte er und drückte mir den Pullover in die Hand.

Ich war sicher, dass Gabriel nur vermeiden wollte, mich noch einmal in Joshuas Armen zu sehen, und er würde nicht locker lassen. Also gab ich mich geschlagen und zog den Pullover über, ohne auf Joshuas Blick zu achten. Sofort umfing mich Gabriels charakteristischer Geruch, eine Mischung aus Zitrone, schwarzem Pfeffer und seinem unwiderstehlichem Eigenduft.

»Also, Vater hat heut Morgen ganz früh einen Anruf bekommen«, berichtete Gabriel nun. »Von der Heidelberger Polizei, aber Mutter wusste leider nicht, wer genau angerufen hat. In der Gaststätte hier oben nahe der Thingstätte kam's wohl zu Ausschreitungen, und Vater sollte nach dem Rechten sehen. Mehr wusste sie auch nicht.«

»Dann sollten wir dort mit unserer Suche beginnen«, meinte Joshua und ging voran.

»Hier gibt's 'ne Gaststätte? Wo soll die denn sein?«, fragte ich.

»Nicht weit von hier«, antwortete Gabriel und schenkte mir ein kleines Lächeln, bevor wir Joshua folgten.

Es dauerte nicht lange, bis wir das große weiße Gebäude erreichten. Ich war erleichtert. Der viele Schnee machte uns den Weg nicht leichter, und mir war immer noch kalt. Hoffentlich würde die Sonne bald aufgehen.

Etwas abseits blieben wir stehen. Gabriel wollte nicht, dass wir auffielen, also schlich er sich alleine an eines der Fenster, während Joshua und ich in sicherer Entfernung auf ihn warteten.

»Geht's dir gut?«, fragte Joshua mich, nachdem er mich einen Moment gemustert hatte. »Du hast ganz blaue Lippen.«

»Es geht schon«, log ich. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so gefroren, aber das wollte ich nicht zugeben. Dann hätte mich Joshua nur wieder in den Arm nehmen wollen. Ich wünschte, Gabriel hätte mit mir gewartet. In seinen Armen fühlte ich mich wohl, und ein Kuss hätte bei diesen Temperaturen wahrscheinlich wahre Wunder bewirkt. Allein der Gedanke daran half schon.

»Wir sollten trotzdem zusehen, dass wir schnell nach Hause kommen«, riss Joshua mich aus meinen Tagträumen.

»Das wird auch nicht viel bringen. Mein dicker Wintermantel liegt im Hotel in Palenque. Außerdem müssen wir Noah finden, das ist jetzt am wichtigsten.«

Joshua seufzte. »Ich weiß. Ich will nur nicht, dass du dir noch 'ne Lungenentzündung oder so was holst.« Er machte eine kurze Pause. »Wir bitten José, uns unsere Sachen zu schicken. Es wird zwar 'ne ganze Weile dauern, bis sie hier sind, aber wir werden so lang schon was für dich finden.«

 

Ich nickte und entdeckte Gabriel, der schnellen Schrittes auf uns zukam. »Und, was ist los?«, wollte ich wissen.

»Da ist alles ruhig. Um diese Uhrzeit haben die noch gar nicht auf.«

»Die ganze Sache ist ziemlich seltsam. Gibt's hier oben vielleicht noch was anderes, wo dein Vater sein könnte?«

»Nicht, dass ich wüsste. Mutter hat außerdem explizit von dieser Gaststätte gesprochen.«

»Ich ruf jetzt bei der Polizei an«, meinte Joshua und zog sein Handy aus der Tasche. Er lief im Schnee auf und ab, während er darauf wartete, dass jemand abnahm. »Guten Morgen, Joshua Lennert hier. Es geht um meinen Vater …«

»Gott, du hast ja ganz blaue Lippen«, flüsterte Gabriel. Er legte seine Arme um mich und zog mich ganz nah an sich. »Wir müssen nach Hause und dir eine Jacke besorgen.«

»Das hat Joshua auch schon gesagt, aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich bin jetzt nicht wichtig.«

»Sag so was nicht, natürlich bist du wichtig.« Er sah mich einen Moment an. »Geht's dir wirklich gut? In der letzten Stunde ist ziemlich viel passiert.«

»Geht schon«, antwortete ich leise. Ich wollte jetzt nicht daran denken, was alles passiert war, denn nun brauchte ich meine ganze Kraft, um Noah zu finden. »Frierst du gar nicht?«, fragte ich Gabriel, um das Thema zu wechseln. Immerhin trug er nur noch das dünne T-Shirt.

»Ein bisschen, aber das macht nichts.«

Ich löste mich von ihm. »Du solltest deinen Pullover wieder anziehen, warte.«

Doch Gabriel zog mich zurück in seine Arme. »Kommt gar nicht in Frage, du behältst ihn an.«

Ich schmiegte meinen Kopf an seine Brust und schlang meine Arme um seine Taille. »Dann mach dir warme Gedanken. Stell dir zum Beispiel vor, wir würden am Strand liegen.«

»Glaub mir, das mach ich bereits. Aber an den Strand hatte ich da weniger gedacht«, hauchte er mir ins Ohr.

Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper, die nicht nur von der Kälte kam. Um ihn ansehen zu können, hob ich den Kopf ein wenig. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich spürte seinen warmen Atem, der kleine Wölkchen in der Luft bildete. Ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken.

Wie leicht wäre es jetzt gewesen, Gabriel einfach zu küssen, und ich wollte es so sehr. Ich hätte mich nur ein wenig auf die Zehenspitzen stellen müssen, und schon hätten meine Lippen seine berührt …

Geständnisse

Gabriels Augen wanderten von meinen Augen zu meinem Mund. Ich verspürte ein solches Verlangen, ihn zu küssen, dass es fast wehtat. Aber es ging nicht. Nicht hier, nicht jetzt. Das konnte ich Joshua nicht antun.

Es kostete mich all meine Kraft, mich von ihm zu lösen. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment legte Joshua auf und drehte sich wieder zu uns um. Er betrachtete uns einen Moment skeptisch. Gabriel und ich standen jetzt ziemlich unverfänglich nebeneinander, aber ich war sicher, Joshua konnte unser beider Verlangen spüren. Das sah ich an seinem Blick. Ich fühlte mich schrecklich. Noah war verschwunden, wir hatten keine Ahnung, ob es ihm gut ging. Die Schatten fielen in unsere Welt ein, und ich dachte nur an mich. Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich schluckte sie hinunter und ging auf Joshua zu. Vorsichtig legte ich ihm meine Hand auf den Arm.

»Was hat die Polizei gesagt? Können Sie uns helfen?«

Joshua wandte seinen Blick von Gabriel ab und sah nun mich an. »Sie haben das GPS von Vaters Handy geortet.«

»Warum sagst du das nicht gleich?«, meinte Gabriel und kam auf uns zu. »Wo ist es?«

Joshua drehte Gabriel sein Handy zu und zeigte ihm einen roten Punkt auf einer Karte. »Ganz in der Nähe der Thingstätte. Wir müssen vorsichtig sein. Wer weiß, ob die Schatten uns noch einmal gehen lassen.«

Bei dem Gedanken daran lief mir ein Schauer über den Rücken. Schnell folgte ich Gabriel und Joshua. »Was hat die Polizei denn noch gesagt?«

»Nicht viel. Sie wussten leider auch nicht, wer genau Vater angerufen hat, und von einem Vorfall in der Gaststätte ist ihnen auch nichts bekannt. Der Wachleiter wird der Sache aber nachgehen und sich dann wieder bei uns melden.«

»Na hoffentlich lässt er sich nicht zu viel Zeit«, murmelte Gabriel und blieb stehen. Nun sah er mich an. »Hörst du was?«

Ich blieb ebenfalls stehen, schloss die Augen und konzentrierte mich. Es war komisch, denn normalerweise musste ich mich konzentrieren, um die Geräusche auszublenden. »Nein, da ist nichts.«

Gabriel ging weiter. »Wenn wir Glück haben, sind die Schatten schon weg.«

»Ich würd das nicht als Glück bezeichnen, denn wenn sie nicht mehr hier oben sind, verteilen sie sich in der ganzen Stadt und beschatten Menschen«, meinte Joshua.

»Und was passiert dann?«, fragte ich, obwohl ich mir die Antwort schon denken konnte.

»Früher oder später wird sehr wahrscheinlich Chaos ausbrechen.«

»Wir müssen sie aufhalten«, sagte ich. Ich hatte heute erlebt, zu was die Schatten fähig waren. Sie durften nicht noch mehr unschuldige Menschen töten.

»Du hast die Schattenmengen gesehen«, erwiderte Gabriel. »Allein packen wir das nicht. Theoretisch bräuchten wir die Unterstützung von allen Schattenwächtern, die's gibt, und das ist unmöglich, denn die werden auch anderswo gebraucht.«

Ich dachte einen Moment darüber nach, was die Schatten alles anrichten konnten. Prügeleien, Raubüberfälle, Mord. Und wenn sie Politiker oder Staatschefs beschatteten, konnte es sogar zum Krieg kommen. Mir wurde mit einem Mal ganz schlecht. Würde uns etwa doch der Weltuntergang bevorstehen, wenn wir die Schatten nicht zurück in ihre eigene Welt schicken konnten?

»Ganz ruhig«, meinte Gabriel nun. Er musste meine Gedanken gelesen haben. »Ich weiß noch nicht wie, aber ich bin sicher, wir können die Schatten aufhalten.«

Wir näherten uns der Thingstätte und hatten nun die Mauer erreicht, die uns die Sicht auf die Freilichtanlage verbarg.

»Hier muss es irgendwo sein«, flüsterte Joshua mit einem Blick auf sein Handy.

Ich warf einen vorsichtigen Blick durch die Öffnungen in der Mauer, während Gabriel und Joshua nach Noahs Handy suchten. Noch immer waren einige Schatten auf dem Platz, doch es waren lange nicht mehr so viele wie noch kurz zuvor. Ob das Portal noch offen war?

»Ich hab's«, hörte ich Gabriels leise Stimme hinter mir.

Ich drehte mich zu ihm um. Triumphierend hielt er das Handy in der Hand. Wir entfernten uns wieder ein Stückchen von der Thingstätte, dann betrachtete er das Telefon etwas genauer.

»Laut Display telefoniert er immer noch mit mir.« Gabriel sah uns an, in seinem Blick lag Angst. »Wahrscheinlich wurde er überrascht und hatte keine Zeit mehr, zu reagieren. Aber was ist passiert?«

»Im Schnee waren nur Vaters Spuren, also müssen ihn definitiv Schatten angegriffen haben.«

Die Schatten hinterließen keine Spuren im Schnee? Ich sah mich kurz um und entdeckte tatsächlich nur unsere und noch eine weitere Spur, die sich an der Mauer zur Thingstätte verlief. »Aber wo ist Noah? Müsste er nicht hier irgendwo sein, wenn er angegriffen wurde?«

»Exakt«, antwortete Gabriel. »Ich versteh das nicht, was hat das alles zu bedeuten?«

»Lasst uns erst mal nach Hause gehen und dann dem Rat Bescheid geben. Hier oben können wir vorerst nichts mehr tun.«

Gabriel stimmte ihm, wenn auch widerwillig zu, und wir machten uns auf den Weg in die Innenstadt. Von unterwegs aus rief Gabriel uns ein Taxi, das in der Bergstraße auf uns warten sollte.

Bei der Witterung und dem ganzen Schnee war der Abstieg ziemlich mühsam, und ich trug auch nicht die passenden Schuhe. Mehr als einmal stolperte ich, und ich wäre sicherlich hingefallen, hätten mich Joshua oder Gabriel nicht jedes Mal in letzter Sekunde gehalten. Einen Vorteil hatte das Ganze aber: Mir war nicht mehr ganz so kalt, und ich konzentrierte mich so auf den Weg unter meinen Füßen, dass ich kaum noch an die schrecklichen Erlebnisse denken musste, die wir nun vorerst gemeinsam mit der Thingstätte hinter uns ließen.

Die Stimme des Nachrichtensprechers war bis in den Flur zu hören, als wir die Wohnung im Schloss-Wolfsbrunnenweg betraten. Es roch vertraut, als wir zielstrebig ins Wohnzimmer gingen. Gabriels und Joshuas Mutter saß auf dem Sofa, eine gelbe Tasse in der Hand. Der Fernseher lief, und im Kamin prasselte ein warmes Feuer. Am liebsten hätte ich mich auf den Teppich davor gesetzt. Es wirkte so einladend, und mir war immer noch kalt. Überhaupt hatte die Szenerie auf den ersten Blick etwas ungemein Gemütliches an sich, doch das täuschte. Wenn man genauer hinsah, erkannte man die Wahrheit. Frau Lennert sah nervös aus. Sie starrte auf den Fernseher und nahm gar nicht wahr, dass wir da waren. Ihre Hände zitterten, sodass sie mit Sicherheit etwas verschüttet hätte, wäre die Tasse voller gewesen. Ihre Aufmerksamkeit galt einer Nachrichtensendung.

»… kommt es auch in den USA in New York zu Ausschreitungen«, sagte der Nachrichtensprecher in diesem Moment. »Damit sind weltweit bereits sechs Städte betroffen. Die Gründe für die Ausschreitungen sind noch unbekannt, offizielle Stellungnahmen seitens der Regierungen gibt es bisher nicht. Unklar ist auch, ob Zusammenhänge zwischen den Ausschreitungen bestehen.« Der Mann legte eine kleine Karte beiseite, von der er bis jetzt abgelesen hatte, und sah direkt in die Kamera. »Und nun zum Wetter.«

Ich spürte, wie auch ich unruhig wurde. Es ging also bereits los, die Schatten verbreiteten Chaos. Wie wohl die Lage hier in Heidelberg war? Zumindest schien es bisher noch relativ ruhig zu sein, ansonsten hätte der Nachrichtensprecher sicher etwas gesagt. Aber das konnte sich jederzeit ändern. Ich musste unbedingt meine Mutter und Hannah anrufen und sie warnen.

Frau Lennert stellte ihre Tasse auf den Tisch und griff nach der Fernbedienung. Erst jetzt bemerkte sie uns. Die Fernbedienung rutschte ihr aus der Hand, lautlos landete sie auf dem Teppich. »Mein Gott, ihr habt mich vielleicht erschreckt«, sagte sie und griff sich ans Herz. »Was macht ihr hier?«

Joshua ging zu seiner Mutter, hob die Fernbedienung auf und schaltete den Fernseher aus. Dann sah er sie einen Moment schweigend an, während Gabriel und ich im Türrahmen stehen blieben.

Frau Lennert sah von Joshua zu uns und wieder zurück. Nun wirkte sie noch nervöser als zuvor. »Es ist etwas passiert, oder? Warum seid ihr nicht in Mexiko?«

Joshua setzte sich neben seine Mutter auf das Sofa. »Ich weiß nicht, wie ich's dir schonend beibringen soll, also sag ich's einfach gradeheraus. Heute Nacht haben sich alle Portale der Welt gleichzeitig geöffnet.«

Sie wurde bleich. »Aber … warum?«

»Das wissen wir nicht. Klar ist nur, dass die Schatten zu Zehntausenden durch die unbewachten Portale in unsere Welt übertreten konnten.«

Frau Lennert sah Joshua einen Moment sprachlos an, dann trat Entsetzen in ihren Gesichtsausdruck. »Oh mein Gott, Noah war in der Nähe der Thingstätte. Wenn ihm nun etwas passiert ist.« Joshua und Gabriel tauschten einen unauffälligen Blick, doch Frau Lennert entging er nicht. »Ihr wisst, was mit ihm ist, oder?«, fragte sie fast etwas atemlos und sah von einem Sohn zum anderen. »Wo ist er? Es geht ihm doch gut?« Ihre Stimme klang hektisch.

Gabriel ging nun ebenfalls zu seiner Mutter und setzte sich auf ihre andere Seite. »Wir wissen es nicht«, antwortete er ruhig und legte eine Hand auf ihren Arm.

Er erzählte ihr, was genau in den letzten zwei Stunden geschehen war. Seine Mutter riss sich zusammen, doch schließlich verlor sie jegliche Kontrolle. Sie begann zu weinen und legte ihren Kopf an Joshuas Schulter. Ich fühlte mich schrecklich. Nicht nur, weil ich mir vorstellen konnte, wie es ihr in diesem Moment ging. Nein, ich kam mir vor wie ein Eindringling in ihre Privatsphäre. Und das war ich wirklich. Noch nie hatte ich Gabriels und Joshuas Mutter so gesehen, so verletzlich. Ich hatte bisher nie viel mit ihr zu tun gehabt und wenn, dann hatte sie einen kühlen Eindruck auf mich gemacht. Ich hatte sie nicht sonderlich gemocht und mich schon mehrmals gefragt, was Noah überhaupt an ihr fand. Schuldgefühle überkamen mich bei der Erinnerung daran. Wie ein Liebespaar waren die beiden mir nie vorgekommen, aber scheinbar hatte ich mich gründlich getäuscht.

Unwohl trat ich von einem Fuß auf den anderen. Was sollte ich jetzt machen? Ich hätte den dreien gerne ein wenig Zeit für sich gegeben, aber das war schließlich nicht mein Zuhause. Ich konnte doch nicht einfach in Gabriels oder Joshuas Zimmer gehen und dort warten, oder? Aber schließlich tat ich genau das. Ich ging in Gabriels Zimmer und stellte mich vor die Heizung. Einen Moment blickte ich mich um. Das Zimmer sah genauso aus wie immer, was irgendwie merkwürdig war. Schließlich war nichts wie immer.

 

Seufzend holte ich mein Handy aus meiner Hosentasche und wählte die Nummer meiner Mutter. Ich wusste, dass sie auf der Arbeit war, aber sie nahm bereits nach dem zweiten Klingeln ab.

»Emmalyn, schön, dass du anrufst. Ist alles in Ordnung?«

Ich wollte sie nicht anlügen, aber ich wusste, dass ich ihr auch nicht die ganze Wahrheit sagen konnte. »Ja, soweit ist alles gut. Hast du heut schon Nachrichten gesehen?«

»Ich bin noch nicht dazu gekommen. Warum fragst du?«

Ich holte tief Luft, bevor ich antwortete. »Die Menschen spielen verrückt, es gibt überall auf der Welt Ausschreitungen. In Deutschland ist bisher noch alles ruhig, aber es wird auch hier passieren. Hier in Heidelberg. Bitte sei vorsichtig, Mama. Am besten, du und Mark bleibt über die Feiertage zu Hause. Es soll ohnehin viel Schnee geben.« Das hatte ich vorhin noch mit halbem Ohr mitbekommen, bevor Joshua den Fernseher ausgeschaltet hatte.

»Was redest du denn da, Emmalyn?«

»Bitte vertrau mir, Mama. Ich will nicht, dass euch was passiert. Kauf einfach genug zu essen ein, und dann bleibt bitte zu Hause.«

»Na schön«, antwortete sie etwas gedehnt.

Ich war nicht sicher, ob sie wirklich auf mich hören würde, und das versetzte mir einen Stich. Wenn ihnen etwas zustoßen würde …

»Was ist mit dir?«, fragte meine Mutter nun.

Die Frage musste früher oder später kommen, und ich hatte mich darauf vorbereitet. Dennoch war es nicht leicht, meine Mutter anlügen zu müssen. »Ich befürchte, dass ich hier vorerst nicht wegkomme. Alle Flughäfen in der näheren Umgebung wurden gesperrt. In Mexiko ist es bisher zwar auch noch ruhig, aber die Regierung will kein Risiko eingehen.«

»Dann wirst du über Weihnachten nicht zu Hause sein?« Die Stimme meiner Mutter klang leise.

»So wie es im Moment aussieht, nein. Es tut mir leid, Mama. Du kannst mir glauben, wie gern ich bei euch sein würde. Du fehlst mir und Mark auch.« Ich seufzte. Es stimmte, sie fehlten mir wirklich. Ich war noch nie über Weihnachten weg gewesen, doch es ging nicht anders. Wir mussten Noah finden, und wenn ich jetzt nach Hause gegangen wäre, hätte ich keine Chance gehabt, Gabriel und Joshua zu helfen.

»Emmalyn, du fehlst uns auch. Bitte pass auf dich auf.«

»Das mach ich und ihr auch. Versprich mir das. Bitte Mama, es ist wichtig. Ich muss wissen, dass ihr in Sicherheit seid.«

»Ist ja gut, ich versprech es dir«, sagte sie nach einer kurzen Pause.

Und dieses Mal wusste ich, dass sie es ernst meinte. Erleichtert atmete ich aus. »Ich meld mich wieder bei dir, wenn ich was Neues weiß. Ich hab dich lieb, Mama. Und Mark auch, sag ihm das bitte.«

Meine Mutter seufzte. Ich wusste, dass meine Worte ihr Angst machten, aber sie sagte nichts, außer: »Wir haben dich auch lieb.«

Dann legte ich auf. Während ich mir eine Träne aus den Augen wischte, rief ich Hannah an und sagte ihr dasselbe wie meiner Mutter. Sie ließ nicht so schnell locker, wollte wissen, was los war, aber schließlich akzeptierte sie, dass ich ihr nicht mehr sagen konnte. Einen Moment überlegte ich, ob ich ihr von Gabriel und mir erzählen sollte. Eigentlich gab es ja noch nicht viel zu erzählen, aber ich tat es dennoch. Sie war meine beste Freundin, und sie hatte die Wahrheit verdient. Vor allem in einem Moment wie diesem.

»Hannah, ich muss dir noch was Wichtiges sagen. Es geht um Gabriel und mich.«

Einen Moment herrschte Schweigen, aber ihre Stimme klang wie immer, als sie fragte: »Seid ihr endlich zusammen?«

»Ich bin nicht sicher.«

»Wie kannst du dir da nicht sicher sein?«

»Es ist kompliziert. Er mag mich, und ich mag ihn auch. Das konnte ich ihm aber bisher noch nicht sagen. Andererseits bin ich nicht sicher, ob das überhaupt noch nötig ist. Wir wollen zusammen sein, das wissen wir beide. Zumindest fühlt's sich so an.«

»Dann geh hin und find's raus.« Ihre Stimme klang wirklich wie immer.

»Und das wär wirklich in Ordnung für dich?«, fragte ich dennoch nach. Schließlich war sie bis vor Kurzem noch in Gabriel verknallt gewesen. »Ich will dir nicht wehtun, Hannah. Du bist mir wichtig.«

»Und du bist mir wichtig. Also würdest du jetzt bitte deinen süßen Hintern in Bewegung setzen, Gabriel suchen und dich von ihm küssen lassen?«

Ich musste lachen, auch wenn mir überhaupt nicht danach zumute war. »Danke Hannah. Und pass auf dich auf.«

»Mach ich. Viel Spaß.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, starrte ich einen Moment auf mein Handy. Die wichtigsten Menschen in meinem Leben wussten Bescheid, und dennoch fehlte noch jemand. Eine ganze Weile überlegte ich, ob ich auch ihn anrufen sollte. Wir hatten so lange nichts mehr voneinander gehört, und ich wusste nicht, wie wir jetzt zueinander standen. Dennoch wollte ich, dass auch er in Sicherheit war, also wählte ich seine Nummer. Er ließ mich lange warten, und ich rechnete schon damit, dass er nicht abnehmen würde, aber schließlich hörte ich seine vertraute Stimme.

»Hallo Emmalyn. Lang nichts mehr von dir gehört.«

»Hallo Tim. Wie geht's dir?«

Es entstand eine kurze Pause, dann hörte ich, wie Tim tief Luft holte. »Warum rufst du an?«

Die Frage versetzte mir einen kleinen Stich. Wir hatten uns mal geliebt, und jetzt war er mir so fremd wie jeder andere Mensch, dem man zufällig auf der Straße begegnet. »Ich weiß, dass ich dir wehgetan hab, und du hast jedes Recht, sauer auf mich zu sein. Wir sind vielleicht nicht mehr zusammen, aber du bist mir nach wie vor wichtig, und deshalb muss ich dir was sagen.« Ich wartete darauf, dass er etwas erwiderte oder womöglich auflegte, doch nichts von beidem geschah. Also erzählte ich ihm, was ich bereits meiner Mutter und Hannah erzählt hatte.

Er hörte zu, doch kaum hatte ich geendet, meinte er: »Und das soll ich dir jetzt abkaufen?«

»Tim, bitte. Du musst mir glauben. Es ist wirklich wichtig, sonst hätte ich dich nicht angerufen und gewarnt. Das solltest du wissen.«

»Das Ganze klingt trotzdem ziemlich abstrus.«

»Ich weiß, und es tut mir auch leid, dass ich dir nichts Genaueres sagen kann. Vertrau mir einfach. Du glaubst vielleicht, dass du mir nicht vertrauen könntest, aber ich würde nie etwas tun, was dir schadet. Also bitte vertrau mir, Tim. Nur dieses eine Mal noch.«

Eine ganze Weile herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann sagte Tim: »Also gut, ich vertraue dir und werd zu Hause bleiben. Okay?«

Wie zuvor bei meiner Mutter war ich nicht sicher, ob er es ernst meinte oder ob er mich einfach nur loswerden wollte. Was auch immer es war, mehr konnte ich leider nicht für ihn tun. »Okay. Frohe Weihnachten, Tim.«

»Dir auch.« Dann legte er auf.

Ich starrte einen Moment auf das Display, bevor ich ebenfalls auflegte und das Handy wieder wegsteckte. Frohe Weihnachten. Ich liebte Weihnachten, und ich hatte mich schon so auf das Fest in diesem Jahr gefreut. Ob es jetzt überhaupt noch so etwas wie ein Fest geben würde? Wie auch immer, wenn wir Noah bis dahin nicht gefunden hatten, würde Weihnachten definitiv nicht froh werden. Ich seufzte. Wann war das Leben eigentlich so kompliziert und gefährlich geworden?

»Entschuldigung, ich wollte nicht stören«, murmelte ich und wollte das Wohnzimmer schon wieder verlassen.

Ich hatte Gabriel oder Joshua gesucht, doch keiner von beiden war mehr dort. Frau Lennert saß alleine auf dem großen Sofa und wischte sich die letzten Tränen aus den Augen. Nun sah sie mich an und lächelte. Es war das erste Mal, dass sie mich anlächelte.

»Ist schon gut«, sagte sie sanft.