Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga

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Wir sahen uns einen langen Moment an. Zum ersten Mal seit wir uns kannten betrachtete ich sie etwas genauer. Sie war schlank und sah in diesem Moment trotz roter Augen sehr hübsch aus. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich ausnahmsweise einmal nicht hinter irgendetwas versteckte, sondern sich so zeigte, wie sie tatsächlich war. Und anscheinend war sie ganz nett.



Sie hatte braune Haare, die ihr bis weit über die Schultern fielen, und blaue Augen. Gabriel und Lilly sahen mit ihren dunklen Haaren und den grünen Augen genauso aus wie ihr Vater, aber Joshua hatte sehr viel Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Warum war mir das bisher nicht aufgefallen?



»Ich bin froh, dass du da bist«, sagte sie nun zu mir.



Überrascht sah ich sie an. War das etwa ihr Ernst? Bisher war ich davon ausgegangen, dass sie mich nicht leiden konnte. Auch wenn wir in den vergangenen Monaten ehrlich gesagt nicht sehr viel miteinander zu tun gehabt hatten.



»Du hilfst Joshua und Gabriel in dieser schweren Zeit, das ist toll.«



»Sie würden dasselbe für mich tun«, antwortete ich, und ich wusste, dass es die Wahrheit war.



»Sie haben dich beide sehr gern.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.



Ich zögerte, wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Es schien mir unpassend, mit Frau Lennert über die Gefühle ihrer beiden Söhne zu sprechen. »Wir werden alles tun, um Noah so schnell wie möglich zu finden und zurück nach Hause zu bringen. Das verspreche ich Ihnen.«



»Danke, Emmalyn. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du das für uns tust.«



»Das ist selbstverständlich.«



»Das ist es leider nicht. Umso dankbarer bin ich dir. Und es tut mir leid, wenn du bisher einen anderen Eindruck hattest. Ich heiße übrigens Marlene, und du darfst sehr gerne du zu mir sagen.« Sie sah mich einen Moment an, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Ich nickte und hätte gerne etwas erwidert, doch ich fühlte mich nicht dazu imstande. »Was ist mit deiner Familie? Die machen sich doch bestimmt Sorgen um dich.«



»Ich hab schon mit meiner Mutter gesprochen. Sie weiß ja von nichts, deshalb sind die Sorgen wohl nicht so groß wie sie sein könnten. Sie war aber ein wenig enttäuscht, dass ich über die Feiertage nicht da sein kann.«



Marlene seufzte. »Das kann ich gut verstehen. Ich werde mal mit Noah reden, wenn er wieder zurück ist.« Ihre Stimme brach, und ihre Augen glitzerten verdächtig. Sie schluckte und lächelte mich entschuldigend an. »Vielleicht können wir in deinem Fall eine Ausnahme machen und deiner Mutter die Wahrheit sagen. Und wenn man es genau nimmt, wäre es ja nicht einmal eine Ausnahme. Du bist ein Sonderfall, und dafür gibt es keine Regeln. Unwissende Menschen dürfen nicht eingeweiht werden, aber du bist jetzt Teil der ganzen Sache, und dann sollte deine Familie ebenfalls Teil sein, um es dir wenigstens so leicht wie möglich zu machen.«



»Denken Sie …« Ich schluckte. Es war komisch, sich plötzlich zu duzen. »Denkst du wirklich, das würde gehen?« Ich konnte die Hoffnung in meiner Stimme deutlich heraushören. Es wäre so viel einfacher, wenn meine Mutter endlich Bescheid wüsste. Andererseits, was würde sie dazu sagen? Ehrlich gesagt konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie begeistert sein würde. Wer wollte seine Tochter schon auf gefährlicher Schattenjagd wissen? Ob sie es mir vielleicht sogar verbieten würde? Einen Moment verspürte ich so etwas wie Panik in mir aufsteigen. Es war gefährlich, sogar lebensgefährlich, das war mir erst heute so richtig bewusst geworden. Und dennoch war die Schattenjagd nun ein Teil meines Lebens. Ich wollte sie nicht mehr missen, so seltsam das auch war.



Marlene lächelte mich wieder an. »Aber natürlich. Es kann ja nicht sein, dass du solche Nachteile hast. Immerhin bist du eine große Hilfe. Und Noah hat Einfluss im Rat. Davon einmal abgesehen ist der Rat dir ohnehin noch was schuldig. Wenn ich da nur an die Ereignisse denke, als sie dich kennenlernen wollten …«



Überrascht sah ich sie an. »Du weißt davon?«



»Sicher, mein Mann und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Und auch, wenn ich nicht Teil der ganzen Sache bin, bin ich froh, dass ich Bescheid weiß. Das wird sicher nicht leicht werden für deine Mutter, aber sie wird es akzeptieren. Glaub mir.«



»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich leise, und ich wunderte mich selbst, dass ich Marlene gegenüber so ehrlich war.



»Natürlich wird es am Anfang schwer sein, das ist klar. Aber sie wird verstehen, wie wichtig das Ganze ist und was dein Beitrag ist. Sie kann stolz auf dich sein.«



»Sie wird sich immerzu Sorgen um mich machen.« Nun sah ich Marlene direkt in die Augen. »Du machst dir doch bestimmt auch Sorgen um die Jungs, wenn sie unterwegs sind.«



»Als Mutter macht man sich immer Sorgen. Es wäre schlimm, wenn es anders wäre. Aber es wird mit der Zeit ein wenig besser. Wenn du willst, kann ich mich ja dann mal mit deiner Mutter unterhalten. Und Noah kann ihr sicher auch gut zureden.« Sie lächelte traurig.



»Das wär toll«, antwortete ich leise. Wir schwiegen einen Moment und hingen beide unseren Gedanken nach. Ich dachte an Noah, und ich wusste, dass auch sie an Noah dachte. Ob wir ihn wirklich finden würden? Schließlich räusperte ich mich. »Wo sind denn Gabriel und Joshua?«



»Sie wollten mit dem Rat telefonieren. Ich nehme an, dass sie im Arbeitszimmer meines Mannes sind.«



Ich nickte, zögerte aber.



»Geh ruhig, sie warten sicher schon auf dich.«



Noch einmal nickte ich ihr zu, dann ging ich zum Arbeitszimmer. Die Tür war verschlossen, aber eine dumpfe Stimme war zu hören. Ich klopfte kurz an und trat dann ein. Gabriel saß auf dem Stuhl seines Vaters, Joshua saß ihm gegenüber mit dem Rücken zu mir. Beide hatten sich über das Telefon gebeugt und lauschten einer tiefen Stimme, die durch den Freisprecher zu hören war. Ich erkannte die Stimme nicht wieder, aber ich war mir sicher, dass es der Ratsvorsitzende sein musste. Als Gabriel mich nun sah, lächelte er mich kurz an und bedeutete mir, mich zu setzen. Also setzte ich mich neben Joshua und hörte ebenfalls interessiert und gespannt zu, was der Ratsvorsitzende zu sagen hatte.



»Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht mehr tun kann«, sagte er in diesem Moment.



Mein Herz blieb fast stehen. Was tat ihm leid? Wollte er etwa nicht helfen? Aber das ging doch nicht! Am liebsten hätte ich etwas gesagt, doch das hielt ich für keine gute Idee. Vielleicht hatte ich etwas falsch verstanden, also schwieg ich.



»Ihr seht doch selber, was los ist«, fuhr der Ratsvorsitzende fort. »Im Stundentakt werden in den Nachrichten neue Städte gemeldet, in denen es zu Ausschreitungen kommt. Und wir wissen, dass das noch lange nicht das Ende ist. Es gibt neunzehn Portale. Wenn man die fünf Maya-Städte und Stonehenge nicht mitzählt, sind es also immer noch dreizehn Städte weltweit, die von den Unruhen betroffen sind. Und das Ganze wird sich ausweiten. Wir haben Krieg, und im Moment sieht es so aus, als ob wir verlieren. In Heidelberg geht es auch schon langsam los, und wir müssen jetzt dringend Schattenwächter organisieren und mit den anderen Räten besprechen, was zu tun ist. Wir müssen die Schatten vernichten, ansonsten …« Er verstummte, und ich konnte ihn seufzen hören.



Ansonsten was? Mein Herz blieb wieder fast stehen. Würde dann wirklich die Welt untergehen? Würde sich die Menschheit mit Hilfe der Schatten selbst vernichten?



»Ich weiß, dass Sie im Moment wirklich viel zu tun haben«, erwiderte Joshua. »Aber wir verlangen ja auch gar nicht Ihre körperliche Anwesenheit bei der Suche nach unserem Vater. Wir wollen nur, dass Sie uns bei den Überlegungen zur Seite stehen.«



»Aber ihr habt doch noch gar keine Anhaltspunkte.«



»Ja schon, aber das kann uns doch nicht davon abhalten, unseren Vater zu suchen«, meinte Gabriel nun. Er seufzte und strich sich mit einer fast verzweifelten Geste die Haare aus dem Gesicht. »Er ist immerhin Ratsmitglied. Sie sind es ihm schuldig. Außerdem hätte es auch Vorteile für Sie, wenn wir ihn finden würden. Nicht nur, dass Sie wieder eine Arbeitskraft mehr hätten. Vielleicht kann er uns auch wertvolle Hinweise geben. Immerhin war er oben auf der Thingstätte, als das Ganze los ging.«



Am anderen Ende der Leitung herrschte kurz Schweigen, dann sagte der Ratsvorsitzende nachdenklich: »Ja, vielleicht. Aber vor morgen können wir euch dennoch nicht helfen. Es ist im Moment wichtiger, dass wir so viele Schattenwächter wie möglich nach Heidelberg bekommen.«



»Aber …«, begann Joshua.



»Ich weiß«, erwiderte der Ratsvorsitzende und seufzte wieder. »Noah ist euer Vater, und ich verstehe auch, dass ihr ihn finden wollt. Aber das Wohl der Menschheit geht vor. Ihr wisst, was auf dem Spiel steht. Kommt morgen Vormittag in mein Büro, ab neun Uhr, dann sehen wir weiter. Und bis dahin will ich euch bitten, euren Pflichten als Schattenwächter nachzukommen und so viele Schatten wie möglich zu töten. Das ist ein Befehl.« Seine Stimme duldete keine Widerrede.



Gabriel wollte dennoch etwas erwidern, doch Joshua sah ihn eindringlich an und schüttelte den Kopf. »Wir werden sehen, was wir tun können. Bis morgen dann.« Joshua drückte auf einen Knopf am Telefon, bevor der Ratsvorsitzende noch etwas sagen konnte, und die Verbindung war unterbrochen.



Gabriel lehnte sich in seinem Stuhl seufzend nach hinten und starrte auf die Tür. Joshua und ich blieben bewegungslos sitzen. Eine Weile schwiegen wir alle, dann sprach ich als Erste:



»Was hat das zu bedeuten? Sie wollen uns wirklich nicht helfen?«



Joshua sah mich an, sein Blick war traurig und verzweifelt. »Nicht vor morgen, das ist richtig. Du hast ja ihre Begründung mitbekommen.« Er seufzte. »Ich kann sie schon ein bisschen verstehen. Das Chaos droht auszubrechen. Natürlich ist es wichtig, dass wir Schattenwächter organisieren und die Schatten vernichten. Dennoch hatte ich mir etwas mehr von ihnen versprochen. Immerhin ist Noah nicht nur unser Vater, er ist auch Ratsmitglied.«

 



»Ich find das nicht in Ordnung«, sagte ich. »Es müsste doch beides möglich sein. In einem solchen Fall lassen sich sicher auch ehemalige Schattenwächter und die Familienmitglieder rekrutieren.«



»Haben sie bereits. Du wirst es nicht glauben, aber sie wollten sogar unsere Mutter um Hilfe bitten. Wir haben ihnen gesagt, dass sie das mal schön bleiben lassen sollen.«



Ich wurde so langsam richtig wütend auf den Rat. Man sollte ja eigentlich meinen, dass es eine wichtige Organisation war, aber bisher hatte ich mit ihm nur schlechte Erfahrungen gemacht. Und dabei dachte ich nicht nur an mein erstes Zusammentreffen mit ihm und die miserablen Sicherheitsvorkehrungen. Sie hatten sich ja vorher schon geweigert, etwas wegen der Beschattungen von Klaus Brenner und Wilhelm Neuberg zu unternehmen, und mir waren sie bisher auch kein Stückchen entgegengekommen. Marlene hatte recht. Der Rat konnte nicht nur nehmen, er musste auch geben. Wenn das Ganze vorbei war, würde ich darauf bestehen, meiner Mutter die Wahrheit sagen zu dürfen. Immerhin hatten wir schon so viel für sie getan.



Aber es half alles nichts. Sich jetzt aufzuregen, brachte uns nicht weiter, also schluckte ich meinen Ärger hinunter und fragte: »Und was machen wir nun?«



Joshua stand langsam auf. »Lasst uns das gleich besprechen, ich sag erst mal Mutter Bescheid. Sie wird sicher wissen wollen, was der Rat gesagt hat.« Er schenkte mir ein zaghaftes Lächeln, dann ließ er mich und Gabriel alleine zurück.



Ich sah Gabriel an, doch er erwiderte meinen Blick nicht. Er hatte kein einziges Wort gesprochen, seit das Telefonat beendet war, und er sagte auch jetzt nichts. Immer noch starrte er teilnahmslos vor sich hin. Als ich gerade etwas sagen wollte, stand er auf. Er ging hinüber zur schmalen Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Sofort strömte kalte Luft ins Arbeitszimmer. Die weißen Vorhänge flatterten leicht im Wind, und es roch nach Schnee.



Eine Weile beobachtete ich Gabriel. Er stand mit dem Rücken zu mir und beachtete mich nicht. Schließlich stand ich auf, durchquerte das Arbeitszimmer und trat zu ihm hinaus. Es war kalt, die Hälfte des Balkons war mit Schnee bedeckt. Gabriel schien mich nicht bemerkt zu haben. Er stand direkt vor der Schneedecke und starrte mit verschränkten Armen über die Brüstung. Er trug immer noch nur sein schwarzes T-Shirt, aber er fror anscheinend nicht. Ganz im Gegensatz zu mir, doch das war mir in diesem Moment egal.



»Ich mach mir Sorgen«, sagte er leise, ohne sich zu mir umzudrehen.



Also hatte er mich doch bemerkt. Ich trat noch einen Schritt näher an ihn heran, mein Herz klopfte schneller. Endlich waren wir alleine. Wie gerne hätte ich ihn berührt oder in den Arm genommen, aber aus irgendeinem dummen Grund traute ich mich nicht. Stattdessen schlang ich die Arme um meinen eigenen Körper.



»Ich weiß, ich mach mir auch Sorgen um Noah. Was machen wir denn nun?«



Gabriel zuckte die Schultern. »Wenn's nach dem Rat geht, jagen wir Schatten.«



»Aber ist es zu dritt nicht viel zu gefährlich?«



Gabriel zuckte wieder die Schultern. »Die Schatten werden sich mittlerweile ganz gut verteilt haben, es sollte also theoretisch nicht mehr allzu gefährlich sein.«



Das

Theoretisch

 gefiel mir nicht. Gabriels Stimme klang fast etwas gleichgültig, doch ich wusste, wie wichtig ihm die Angelegenheit war. Er steckte in der Bredouille. Einerseits war er Schattenwächter mit Leib und Seele, andererseits ging es um seinen Vater. Wenn wir jetzt auf Schattenjagd gingen, konnten wir nicht nach Noah suchen.



»Und?«, fragte ich dennoch und schluckte. »Gehen wir auf Schattenjagd?«



Gabriel seufzte. »Ich weiß es nicht. Es ist vielleicht unsere Pflicht, aber wir würden einen ganzen Tag verlieren. Wir können Vater doch nicht im Stich lassen.« Er machte eine kurze Pause. Ich konnte sehen, wie sich sein Körper anspannte. »Emma, was soll ich nur machen?«, fragte er leise.



Es war schrecklich, ihn so hilflos zu sehen. »Ich weiß es nicht, aber wir werden schon einen Weg finden. Gemeinsam. Gabriel, ich bin bei dir.« Ich streckte meine Hand aus und berührte vorsichtig seinen Arm.



Gabriel hatte mir die ganze Zeit über den Rücken zugedreht und mich kein einziges Mal angesehen. Nun löste er seine Arme aus der Verschränkung und drehte sich langsam zu mir um. Er sah mich an, und mein Herz begann sofort wieder schneller zu schlagen. Er trat einen Schritt auf mich zu und noch einen. Nun standen wir ganz nah voreinander. Eine kleine Bewegung, und unsere Körper hätten sich berührt. Wir sahen uns direkt in die Augen.



»Ich muss dir was sagen«, begann er. Seine Stimme war nach wie vor leise.



Ein Windhauch wirbelte meine Haare durch die Luft, doch ich achtete nicht darauf. Es fröstelte mich, doch auch das war mir egal. Gabriel streckte seine rechte Hand nach mir aus und schob mir eine Locke aus dem Gesicht. Seine Handfläche berührte dabei ganz leicht meine Wange. Trotzdem spürte ich die körperliche Reaktion auf seine Berührung. Es war fast wie ein elektrischer Schlag, nur viel angenehmer. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen, dann zog er die Hand wieder weg.



»Ich liebe dich, Emma.«







Es geht los







Ich hatte gewusst, dass er mir seine Liebe gestehen würde. Warum fühlte ich mich dann jetzt so unvorbereitet? Vielleicht, weil die Umstände alles andere als perfekt waren. Im Moment war es einfach so, dass ich mich ständig in einem Gefühlskarussell befand. In einem Moment machten wir uns Sorgen um Noah, im anderen ging es plötzlich nur um uns, so als ob nichts anderes zählen würde. Und dabei stand so viel auf dem Spiel.



Aber ich war trotzdem froh, dass wir nun so weit waren. Meine Knie wurden weich, und ich überlegte einen Moment, was ich sagen oder tun sollte. Ich hätte ihn einfach küssen können, aber es gab so vieles, was er wissen musste, und das wollte ich ihm vorher sagen. Doch wo sollte ich anfangen?



Gabriel deutete mein Zögern falsch. Er trat einen Schritt zurück und wandte seinen Blick von mir ab. »Tut mir leid, ich hab da wohl was falsch verstanden. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.« Er machte eine kurze Pause. »Jedenfalls, jetzt weißt du's.« Er wollte sich abwenden.



An seiner Stimme konnte ich deutlich erkennen, wie verletzt er war. Es zerriss mir selbst fast das Herz. Ich hielt ihn am Arm fest. »Gabriel, warte.«



Er zog seinen Arm aus meinem Griff, wandte sich mir aber zu. »Schon okay, wirklich.« Er hob abwehrend die Hände und versuchte zu lachen. So ganz gelingen wollte es ihm aber nicht. »Du hast mir nicht das Herz gebrochen, keine Panik. Es ist alles in Ordnung, wirklich.«



Er sagte es aus reinem Selbstschutz. Das wusste ich, und ich konnte es an seinen Augen sehen.



»Ich werd Joshua suchen und mit ihm besprechen, wie wir weiter vorgehen. Mach dir keinen Kopf, es geht mir gut.«



Er machte erneut Anstalten zu gehen, doch ich hielt ihn wie zuvor am Arm zurück. »Verdammt Gabriel, würdest du bitte warten und dir anhören, was ich dir zu sagen hab?«



Er sah mir einen Moment direkt in die Augen, doch dann wandte er seinen Blick ab. Die Schutzwand begann allmählich zu bröckeln. »Ich will's nicht hören«, sagte er leise. Er drehte sich um und ging.



»Dann willst du also nicht hören, dass ich dich auch liebe?«, fragte ich.



Gabriel stand bereits in der Balkontür, nun blieb er stehen und drehte sich langsam zu mir um. »Was hast du da gesagt?«



»Du hast mich gehört, du Dickschädel. Und du hast auch nichts falsch verstanden. Ich liebe dich auch. Schon lange, ich hab's mir nur nicht eingestanden. Ich wollte niemanden verletzen, aber dann hab ich erkannt, dass das nicht das Wichtigste ist. Gabriel, ich will mit dir zusammen sein. Ich will …«



Zu mehr kam ich nicht, doch es war auch alles gesagt. Gabriel war mit einem Schritt bei mir. Wortlos zog er mich in seine Arme und küsste mich. Zuerst war er ganz vorsichtig, doch dann merkte er, dass ich es genauso wollte wie er. Er zog mich noch näher an sich und vertiefte den Kuss.



Es war ein tolles Gefühl. Endlich konnten wir uns so nah sein, wie wir es schon lange wollten. Ich spürte seinen Herzschlag, seine Körperwärme, obwohl es kalt war. Er schlang seine Arme um meine Taille, während ich meine Hände um seinen Nacken legte und mich auf die Zehenspitzen stellte, um ihm noch näher zu sein. Völlig atemlos lösten wir uns schließlich voneinander und sahen uns einen Moment an.



»Und das ist wirklich dein Ernst?«, fragte er. »Du sagst das nicht nur, damit ich mich besser fühl?«



»So was würd ich nie tun, das weißt du. Ich wollte es schon so lang, aber es hat einfach nie gepasst.«



»Wem sagst du das? Komm her, meine Süße.« Er umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und küsste mich erneut.



Ganz langsam wich die Anspannung von mir, und ich hatte das Gefühl, auch Gabriel wurde ruhiger. Ich gab mich völlig dem Moment hin und hätte am liebsten nie wieder aufgehört ihn zu küssen. Leider war das nicht möglich, also lösten wir uns schließlich widerwillig voneinander. Gabriel sah mich an. Er lächelte und sah für einen Moment fast glücklich aus, doch dann seufzte er.



»Ich schätze, wir sollten mit Joshua sprechen und überlegen, wie wir jetzt weiter vorgehen.«



Ich nickte. Gabriel griff nach meiner Hand, und wir gingen wieder ins Arbeitszimmer. Bevor er jedoch die Tür zum Flur öffnen konnte, blieb ich stehen und zog meine Hand aus seiner.



»Gabriel, warte kurz.«



Er drehte sich zu mir um und sah mich fragend an.



»Wir sollten das vorerst für uns behalten.«



»Was denn?«, begann er, doch dann schien er zu verstehen. »Oh. Okay, wenn du meinst.«



»Versteh das nicht falsch. Meinetwegen dürfte die ganze Welt wissen, dass wir zusammen sind, aber ich will's Joshua schonend beibringen. Es ist im Moment schon schwer genug für ihn, und ich will's ihm nicht noch schwerer machen. Verstehst du das?«



Gabriel griff nach meinen Händen und trat einen Schritt näher an mich heran. »Natürlich versteh ich das, er ist immerhin mein Bruder.« Er seufzte. »Aber es wird mir schwer fallen, weiterhin so zu tun, als seien wir nicht zusammen. Verdammt, ich kann jetzt schon meine Hände kaum von dir lassen.«



Nun seufzte auch ich. »Das kann ich so gut nachvollziehen. Aber es ist halt kompliziert.«



Gabriel beugte sich zu mir herunter und küsste mich noch einmal. Dann wandte er sich wieder der Tür zu. Bevor er jedoch die Klinke nach unten drückte, drehte er seinen Kopf noch einmal zu mir um. »Aber sieh zu, dass Joshua die Griffel von dir lässt, denn das werd ich mir definitiv nicht länger mit ansehen.«



Ich musste lächeln. »Keine Angst, ich werd schon dafür sorgen, dass er seine Hände bei sich behält.«





Vorerst bestand keine Gefahr, dass Joshua mir zu nahe kommen würde. Er wollte Lilly unter einem Vorwand zusammen mit Marlene frühzeitig von der Schule abholen. Ich saß währenddessen neben Gabriel in seinem Auto und war auf dem Weg zu mir nach Hause. Kurz zuvor hatte ich noch mit Mark telefoniert, um mich zu vergewissern, dass noch niemand dort war. Die Tatsache, dass das Haus in diesem Moment wirklich leer stand, weckte gemischte Gefühle in mir. Ich brauchte dringend frische Kleidung, auch wenn Marlene mir erst einmal eine Jacke geliehen hatte. Und nicht auszudenken, wenn ich zufällig meiner Mutter oder meinem Bruder in die Arme gelaufen wäre … andererseits hätte ich mich besser gefühlt, wenn ich die beiden sicher zu Hause gewusst hätte. Aber Mark hatte mir auch noch einmal versprochen, dass er und Mama über die Feiertage daheim bleiben würden.



Ich seufzte, woraufhin Gabriel kurz nach meiner Hand griff und mir einen langen Blick zuwarf. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.



»Ist halt alles nicht so einfach im Moment. Ich wünschte, wir hätten das Ganze schon hinter uns.«



»Ich auch, aber wir werden das schon irgendwie hinkriegen.«



Ich nickte und warf einen Blick aus dem Fenster. Es war immer noch früher Vormittag, aber die Wolken hingen tief am Himmel und ließen keinen einzigen Sonnenstrahl hindurch. Alles war weiß, auch wenn es in diesem Moment nicht schneite. Es würde aber wieder anfangen, da war ich mir sicher. Zum einen roch es nach Schnee, zum anderen waren die Wolken voll davon. Ich verspürte den Drang schon wieder zu seufzen, doch dieses Mal riss ich mich zusammen.

 



Bis Heiligabend waren es nur noch wenige Tage, und es sah ganz so aus, als ob wir in diesem Jahr endlich mal wieder weiße Weihnachten bekommen würden. Wie schön wäre es jetzt gewesen, Plätzchen zu backen und Weihnachtslieder zu singen. Es sich mit einer Tasse heißer Schokolade und einem Buch gemütlich zu machen, einen schönen Weihnachtsfilm anzuschauen oder einfach nur die Weihnachtsbeleuchtung und den Schnee anzusehen. Stattdessen standen wir einer Katastrophe gegenüber, ohne eine Lösung parat zu haben und mussten uns obendrein auch noch um Noah Sorgen machen.



Ich wandte meinen Blick Gabriel zu und fühlte für den Bruchteil einer Sekunde einen wohligen Schauer über meinen Rücken laufen. Wenigstens war das zwischen uns endlich geklärt. Wir hatten einander, aber da gab es ja auch noch Joshua. Er tat mir unendlich leid, denn ich wusste, wie weh wir ihm tun würden. Es würde nicht leicht werden, so zu tun, als ob Gabriel und ich kein Paar wären, und es würde noch härter werden, Joshua die Wahrheit zu sagen. Deshalb war ich gar nicht so traurig darüber, dass ich dieses unangenehme Gespräch noch etwas schieben konnte.



Gabriel bog in die Wundtstraße ein und parkte direkt am Anfang der Straße. Wir mussten vorsichtig sein, damit wir niemand Bekanntem über den Weg liefen. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn uns ein Nachbar sehen würde. Wir zogen beide die Kapuzen unserer Jacken über den Kopf und schafften es zum Glück unbeachtet ins Haus.



»Zieh die Schuhe aus«, sagte ich zu Gabriel, während ich selbst meine durchweichten Turnschuhe abstreifte. Wir durften auf keinen Fall irgendwelche Spuren hinterlassen.



»Nur die Schuhe?«, fragte Gabriel grinsend.



Ich rollte mit den Augen. »Richtiger Ort, falscher Zeitpunkt.«



Obwohl wir wussten, dass niemand da war, schlichen wir auf Zehenspitzen nach oben in mein Zimmer. Es war seltsam, hier zu sein. Fast wäre ich mir in meiner eigenen Wohnung wie ein Einbrecher vorgekommen.



Gabriel wartete, während ich die Tasche, die er mir geliehen hatte, mit meinen Sachen füllte. Meine Mutter respektierte meine Privatsphäre und ging schon lange nicht mehr an meinen Kleiderschrank. Daher konnte ich aus den Schränken einpacken, was ich wollte, es würde ihr nicht auffallen. Bei allem anderen musste ich jedoch vorsichtig sein. Schließlich hatte ich alles Wichtige beisammen und blieb vor meinem Bücherregal stehen. Ich starrte eine Weile auf meine Bücher, bis ich Gabriel in meinem Rücken spürte.



»Du überlegst jetzt nicht ernsthaft, ob du ein Buch einpacken sollst!«



Ich schüttelte den Kopf, auch wenn ich theoretisch gerne eines mitgenommen hätte. Ich liebte meine Bücher, sie gaben mir ein Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit. Seufzend drehte ich mich zu Gabriel um. Ich würde ohnehin keine Zeit zum Lesen haben.



Gabriel trat einen Schritt näher an mich heran und legte seine Hände auf meine Arme. »Du kannst dir jederzeit ein Buch von mir nehmen«, sagte er. »Allerdings glaub ich kaum, dass wir viel lesen werden.« Er beugte sich zu mir herunter und hauchte mir einen zarten, kaum spürbaren Kuss auf die Lippen.



Ich verspürte eine Gänsehaut, auch wenn Gabriel meinen Mund kaum berührte. Einen Moment sahen wir uns an, und mein Herz begann, schneller zu schlagen. Dann riss er mich in seine Arme, und wir küssten uns stürmisch. Ohne uns voneinander zu lösen, landeten wir auf dem Bett. Mein Kopf sagte mir, dass ich Wichtigeres zu tun hatte, als mit Gabriel zu knutschen, aber mein Herz weigerte sich, auf meinen Verstand zu hören. Wie gerne hätte ich mich mit Gabriel in meinem Zimmer verkrochen und wäre erst wieder herausgekommen, nachdem alles vorüber war. Gabriel schaffte es, dass ich mir nicht immerzu Sorgen machte. Wenn er mich küsste, so wie jetzt, dann gab es nur uns beide.



Ich vergaß völlig, wo wir waren und Gabriel ebenso. Er rollte sich auf mich und zerwühlte mein Haar, während ich seine Jacke und alle Schichten darunter ein Stückchen nach oben schob und mit meiner Hand über seinen nackten, warmen Rücken fuhr. Erst als wir ein Auto vor dem Haus hörten, hielten wir inne. Etwas atemlos und beschämt sahen wir einander an, dann sprang Gabriel auf und ging hinüber zum Fenster. Währenddessen stand auch ich auf und strich mir Haare und Kleidung glatt.



»Weder deine Mutter noch dein Bruder«, sagte Gabriel, als er sich zu mir umdrehte. »Aber wir sollten wahrscheinlich trotzdem besser von hier verschwinden.«



Ich nickte etwas verlegen und ma