Kind der Sterne

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Christoph saß gerade vor dem Fernseher, als er zu keuchen anfing. Er sagte: »Mich hat jemand stranguliert!«

Er hatte zwei Brüder, die ihn regelmäßig besuchten und über Nacht blieben. Einer von ihnen wurde von einem unsichtbaren Wesen verprügelt. Sarahs Mutter sah über ihrem Bett mehrere Erscheinungen. Eine Nonne stand in der Tür des Schlafzimmers. Als Sarah das hörte, musste sie an die Streichel­einheiten denken, die sie von einem unsichtbaren Wesen bekommen hatte. Sarah fragte sich, ob die Wesen sie beschützen wollten. Sie hatte bis jetzt noch keine unangenehmen Erfahrungen mit ihrer Erscheinung gemacht, doch um sie herum passierten dauernd merkwürdige Dinge. Sarah nahm oft ihren Walkman mit auf den Spielplatz. Irgendwie hatte sich auf der Kassette eine Stimme verirrt. Sie konnte diese Stimme nicht verstehen. Es war eine männliche Stimme. Dieser Mann saß in einem Zug. Sie hörte das Rattern der Waggons im Hintergrund.

Seitdem begann sie, mit den Wesen zu reden. Sie spürte ihre Nähe. Sie konnte spüren, wie sie beobachtet wurde, aber konnte niemanden sehen. Sie wusste intuitiv, dass sie ihr zuhörten. In ihren Tagträumen hatten diese Wesen ihren Raum. Vor allem träumte Sarah oft davon, dass sie gar nicht das Kind von Mathilda war. Sie träumte davon, dass ihre richtige Mutter irgendwoanders sei und auf sie warten würde. Als Erklärung gab es nur einen Grund. Sie musste ihre Tochter weggegeben haben, weil es keine andere Möglichkeit gab. Immer wieder träumte sie davon, wie herzlich der Empfang sein würde, wenn sie wieder zu ihr zurückkehren konnte. Es würden viele Tränen fließen und es gäbe dann viele herzliche Umarmungen. Sie bekäme dann alles, was sie brauchte. Vor allem Liebe.

In Sarahs Träumen war Mathilda immer nur die Adoptiv-Mutter. Sarah träumte, dass Mathilda den Kontakt zu den beiden unterbrach, weil sie Sarahs richtiger Mutter erzählt hatte, dass sie verstorben sei. Oder sie versteckte in einem anderen Traum die Briefe an Sarah, die sie nie finden sollte. In den Träumen fand Sarah diese Briefe aus Zufall und nahm sofort Kontakt mit ihren Eltern auf.

In ihren Träumen erschienen immer wiederkehrende Bilder. Immer und immer wieder träumte sie davon, dass sie als Sklavin gehalten wurde und in Wirklichkeit eine Prinzessin sei. Immer wieder träumte sie davon, wie sie sich verwandeln konnte, dass ihr Körper nicht an eine feste Form gebunden sei und sie alle Gestalten annehmen konnte, die sie wollte. Genauso träumte sie von einer geheimen Kammer im Keller. In dieser Kammer gab es viele Dinge, die ihre Eltern ihr über die ganzen Jahre geschenkt hatten. Sie fand diesen Raum durch Zufall. Als sie ihn in ihren Träumen betrat, liefen ihr jedes Mal die Tränen herunter. Sie sah sich um und fand, unter vielen Decken versteckt, alte Briefe, die an sie geschrieben wurden. Sie fand einen Umhang oder ein Gewand, ein Buch, in dem noch nichts geschrieben stand und eine Kristallkugel. Als sie sich das Buch ansah, konnte sie sehen, wie beim Blättern vor ihren Augen eine geheime Schrift, fremde Hieroglyphen, auf den Seiten erschienen. Nur Sarah konnte diese Schrift entziffern. Sie wandte sich dem Umhang zu und legte ihn sich um. Es war eine Art Zeremonien-Gewand.

Alles in diesem Raum hatte eine besondere Bedeutung. Die Briefe waren über all die Jahre gelagert worden. Ihre Eltern hatten Sarah nicht aufgegeben. Auf den Briefen konnte sie endlich die Adresse erkennen. Sie wollte sofort dorthin und aus diesem Haus verschwinden. Sie wollte endlich zu ihrer Mutter und zu ihrem Vater. Sarah hatte Angst, dass sie vielleicht nicht mehr dort leben würden. Sie wollte es trotzdem probieren.

Sie wandte sich der Kristallkugel zu. Als sie sie näher betrachtete, sah sie eine Frau in dieser Kugel, die sie anblickte. Diese Frau hatte lange dunkel­braune, fast schwarze Haare und braune Augen. Sie war sehr hübsch und fing an mit Sarah zu reden. Sarah wunderte sich, denn diese Kugel schien zu funktionieren wie ein Bildtelefon oder wie ein ›Live Chat‹ über den Computer.Sarah stellte sich vor. Die Frau am anderen Ende stellte sich als Sarahs leibliche Mutter vor. Sie fing an zu weinen. Sarah sagte ihr, dass sie noch am Leben sei. Sie sah auch kurz ihren Vater im Hintergrund. Ihre Mutter gab ihr Anweisungen, wie Sarah zu ihr kommen konnte, doch dieser Weg war kein gewöhnlicher. Sarah musste durch einen Wald gehen. Sie ging auf einem Weg, den nur sie und die Bewohner dieses Dorfes, in dem ihre Mutter lebte, gehen konnten. Für gewöhnliche Menschen, wie ihre Adoptivmutter Mathilda, war dieser Weg versperrt. Als Sarah in das Dorf kam, begegnete ihr eine rothaarige Frau. Sie war schlank und sah sehr gut aus. Sarah schätzte, dass sie zwischen 35 und 38 Jahren alt sein musste. Sie fragte diese Frau nach dem Haus, in dem ihre Eltern wohnten. Sie gab Sarah Auskunft und freute sich, dass Sarahs Eltern endlich ihr Kind wiederbekommen würden. Es stellte sich heraus, dass sie zufällig eine gute Freundin ihrer Mutter war. Als Sarah vor dem Haus stand, war sie sehr aufgeregt und bewegt über diesen Moment. Das Haus, in dem ihre Eltern wohnten, war ein kleines, schönes Wohnhaus mit einem Garten, in dem wunderschöne Blumen blühten. Alles war mit Liebe gehegt und gepflegt. Den Eingang zum Garten zierte eine verschnörkelte Eisentür. Der Garten und das Haus wurden von einer kleinen Mauer umrandet, auf der eine schwarze Katze entlangschlenderte.

Sie konnte reden und begrüßte Sarah freundlich: »Wer bist du denn? Kenne ich dich irgendwo her?«, fragte die Katze.

»Ich bin Sarah. Hier sollen meine Eltern wohnen. Ich war sehr lange weg«, sagte Sarah.

Die Katze sah Sarah an. Sarah stand in Lumpen und mit vielen Wunden am Körper vor ihr.

»Habe keine Angst. Gehe nur rein. Sie werden sich freuen, dich wieder zu sehen.«

Die Katze hatte bemerkt, dass Sarah am ganzen Körper vor Aufregung zitterte. Als Sarahs Mutter die Tür öffnete, fielen sie sich unter Freudentränen in die Arme. Sarah träumte, wie sie von ihrer Familie empfangen wurde. Ihre Mutter zeigte ihr ein liebevoll eingerichtetes Zimmer, das ganz alleine für sie bestimmt war. Sie nahm ihr die Lumpen ab und versorgte ihre Wunden. Danach zeigte sie Sarah ihre neuen Kleider. Es gab ein riesiges Familienfest, mit dem Sarah begrüßt wurde und den Rest ihrer Familie und die Dorfbewohner kennenlernen durfte. Von diesem Tag an, war Sarah glücklich und frei. In der Realität sah es jedoch ganz anders aus.

Für Sarah war inzwischen alles zu teuer. Für sie wurde kaum noch Geld für Kleidung oder andere Dinge ausgegeben. Sie war es nicht wert. Ihre Mutter sortierte oft Kleidung aus und gab sie Sarah. Für Sarah war es oft nicht die richtige Größe und auch nicht passend für ihr Alter. Sie wollte lieber in der Kleidung herumlaufen, die ihr gefiel und in der sie sich wohlfühlte. Ab und zu bekam sie Taschengeld, das sie sparte, um sich die Dinge zu kaufen, die sie gerne haben wollte. Irgendwann hatte sie genug Geld für eine einfache und günstige Gitarre. Da sie kein Geld für einen Lehrer hatte, brachte sie sich das Spielen selbst bei. Das war für sie eine Möglichkeit, um dem Alltag zu entkommen. Sarah blühte auf, wenn sie musizierte. Wenn Mathilda mit Christoph unterwegs war, holte Sarah ihre Gitarre und übte auf ihr. Mathilda waren die Gitarre und der Spaß, den Sarah daran hatte, ein Dorn im Auge.

Sarah lernte ein Mädchen kennen, das auch Gitarre spielte. Ab und zu traf sie sich mit ihr. Die Freundschaft ging jedoch schnell wieder auseinander, da sich Mathilda mit der Mutter des anderen Mädchens gestritten hatte. Danach durfte Sarah nicht mehr mit dem Mädchen zusammen sein. Aber eines blieb Sarah erhalten: Sie machte weiter Musik und fing an, Lieder zu schreiben.

Mathilda war furchtbar eifersüchtig auf Sarah. Sie hätte eigentlich keinen Grund gehabt, weil Sarah nie etwas von Christoph wollte. Sie fand ihn eklig und abstoßend und musste sich ständig von ihm berühren lassen. Das führte so weit, dass sie während seiner Berührungen im Geist einfach wegging. Sie stellte sich erst daneben und dann ging sie woanders hin. Sie verließ den Raum, sie verließ diesen Zeitraum, den Planeten und spürte nichts mehr von dem, was auf der Erde passierte. Sie kehrte erst wieder in ihren Körper zurück, als er schon lange gegangen war und sich zum Duschen ins Bad bewegt hatte. Sarah fühlte sich danach immer dreckig und abstoßend. Sie mochte diesen Körper nicht mehr. Am liebsten wollte sie sich davon trennen. Aber es ging nicht. Sie musste es aushalten und überleben.

8

Hilferuf

Jeden Tag dachte Sarah ans Sterben. Irgendwann war sie so verzweifelt, dass sie sich vor den Augen ihrer Mutter umbringen wollte.

Mathilda hatte Sarah die ganze Zeit beschimpft und verantwortlich gemacht für das, was mit ihr passierte: »Du Schlampe kannst deine Finger nicht von meinem Mann lassen!«, hatte sie gesagt.

Daraufhin griff Sarah nach einem Fläschchen mit hochprozentigem Alkohol.

»Wenn das so ist, kann ich auch sterben«, entgegnete Sarah.

»Tu's doch! Mir ist es egal«, sagte ihre Mutter und wandte sich mit einem desinteressierten Blick wieder dem Spiegel zu, um sich weiter zu schminken.

»Gut, wie du willst!«, sagte Sarah, setzte die Flasche an ihre Lippen und wollte den Inhalt in einem Zug austrinken. Da ergriff Mathilda ihre Hand, in der sie das Fläschchen hielt und entriss es ihr. Mathilda drehte sich danach einfach wieder um, als wäre nie etwas geschehen. In aller Ruhe zog sie ihren Lidstrich nach und während sie das tat, begann sie wieder Sarah zu beschimpfen und zu beleidigen.

Die Angriffe gegen Sarah gingen immer weiter. Ihre Mutter übte Psychoterror aus. Sie schürte die Angst, die Christoph Sarah eingejagt hatte.Sarah wollte unter keinen Umständen ihre Mutter verlieren. Sie war nicht die beste Mutter, die sie haben konnte, aber für Sarah war es die einzige. Mathilda schloss sich öfters im Schlafzimmer ein und drohte damit, sich das Leben mit einer Überdosis Tabletten zu nehmen. Sarah saß stundenlang verzweifelt vor der Tür und bettelte um Vergebung.

 

»Es tut mir leid«, rief sie.

Ihre Mutter sagte daraufhin nur: »Diesen Satz hast du schon so oft gesagt. Ich glaube dir nicht.«

Sie trieb Sarah damit fast in den Wahnsinn. Sarah wusste nicht mehr, was sie tun oder sagen sollte, damit ihre Mutter merkte, dass sie es ernst meinte. Sätze wie »Es tut mir leid« oder »Entschuldigung« verbannte Sarah aus ihrem Wortschatz. Sie resignierte langsam. Es war alles sinnlos. Also blieb sie von diesem Zeitpunkt an stumm.

Sarah wusste zu der Zeit noch nicht, dass alles ein abgekartetes Spiel von Mathilda und Christoph war. Sie wollten damit Kontrolle über Sarahs Willen erlangen. Später stellte sich sogar heraus, dass Mathilda Christoph bei seiner Tat unterstützte und dadurch viele Vorteile genießen konnte. Sie bekam allen Luxus, den sie sich wünschte und wurde von ihm beachtet. Mathilda war diesem Mann hörig geworden und konnte dem Wohlstand nicht widerstehen, den sie durch ihn gewonnen hatte. Sie verkaufte ihre eigene Tochter an diesen Mann.

Sarah wurde beigebracht immer zu schweigen. Sie wurde bedroht und hatte nicht mehr den Mut, sich gegen ihre Eltern zu wehren. Sie war gefangen, weil sie niemanden hatte, dem sie sich anvertrauen konnte. Trotz allem spürte sie die Nähe von ihren lieben Wesen. Sie redete in ihrem Zimmer immer mit ihren Geistern. In ihrem Herzen waren diese Wesen gut und waren für sie da und Gott war auch da und hörte ihr zu.

Sarah war lebensmüde geworden und die Situation um sie herum war kaum noch zu ertragen. Dennoch gab sie die Hoffnung nicht auf.

9

Ausbruch eines »Sternenkindes«

Sarah wurde langsam eine junge Frau. Sie wollte Christoph aus dem Weg gehen, deshalb hielt sie sich die meiste Zeit in der Natur auf. Sie fand einen Platz im Wald, der für sie wie ein Kraftort war. Denn jedes Mal hatte Sarah das Gefühl, dass sie dort Energie tanken konnte, um alles besser durchzustehen. Es war eine alte Feuerstelle. Drumherum waren Steine aufgebaut worden und bildeten einen Kreis, auf denen man Platz nehmen konnte. Sie unterhielt sich dort mit ihren Geistern. So langsam konnte Sarah ihre Gesichter besser erkennen. Sie waren zum Teil nur schemenhaft zu sehen, aber sie wusste, dass es ihre Geister sein mussten. Dabei kamen sie ihr so vertraut vor, als würde sie diese Wesen schon sehr lange Zeit kennen; lange bevor sie überhaupt geboren wurde. Sarah kam es so vor, als würde die Energie der Sonne und auch die Energie des Waldes ihren Beitrag dazu leisten, dass sie sie besser wahrnehmen konnte. Sie fühlte sich vom Tod sehr angezogen. In ihren Träumen lebte sie in der Welt der Geister. Immer wieder träumte sie von vielen Möglichkeiten und Fähigkeiten, die sie hatte und dass diese Welt, in die sie problemlos gehen konnte, nicht für jeden zugänglich war.

Eines Tages lief Sarah durch die Straßen ihres Wohnortes und fand mitten auf dem Weg ein Tarot-Kartendeck. Es war noch vollständig und die Anleitung lag bei. Sie hob es auf und ging sofort nach Hause.

Zu Hause studierte sie die Anleitung und fing an Fragen zu stellen. Doch die Antworten, die sie bekam, konnte sie noch nicht so richtig verstehen. Sie sah immer nur die schrecklichen Karten, die sie warnen sollten und konnte nicht verstehen, dass sie eigentlich Mut machen sollten, um auszubrechen. Sarah hatte diesen Mut nicht – noch nicht. Sie hatte zu große Angst vor den Konsequenzen und davor, dass ihr niemand glauben würde.

Ihre Mutter fand bei ihr das Tarot. Sarah sollte es sofort wegwerfen. Sie folgte der Anweisung aus Angst, dass ihre Mutter wieder zornig werden könnte und all ihre Wut an ihr auslassen würde.

Mathilda war abergläubisch und erzählte oft Geschichten über ihre Familie. Sarahs Familie stammte ursprünglich von einer Sinti-Familie ab. Ihre Urgroßmutter starb in einem Konzentrationslager, so wie fast der ganze Rest der Familie. Sarahs Großmutter Heidrun war die einzige Überlebende. Sie hatte Mathilda das Kartenlegen beigebracht. Sarah hatte von ihrer Mutter schon als kleines Kind eine einfache Ja/Nein–Legemethode beigebracht bekommen.

Mathilda hatte in der Vergangenheit einen schlimmen Unfall vorausgesehen und verhindert. Eventuell gab es in der Vergangenheit schon einige Familienmitglieder mit hellseherischen Fähigkeiten. Mathilda glaubte jedenfalls ganz fest an die Wirkung von ausgesprochenen Verwünschungen und Flüchen, ebenso wie an Geistwesen. Und trotzdem machte sie sich keine Gedanken. Sie dachte nicht daran, dass die Erscheinungen vermutlich etwas mit ihrem Kind zu tun haben könnten, obwohl sie wusste, dass es vorher nie zu solchen Vorfällen gekommen war. Lieber akzeptierte sie die Angst. Sie betete zu Gott, stellte Kreuze auf und Christoph säuberte aus Furcht mit Räucherstäbchen die Wohnung. Beide hatten Panik vor den Erscheinungen, doch trotzdem hörten sie nicht mit ihren schlimmen Taten auf. Sie wollten nicht erkennen, dass die Erscheinungen etwas damit zu tun haben könnten.

Irgendwann sagte Sarahs Mutter: »Such dir endlich einen Mann. Du bist jetzt sechzehn Jahre alt. Wenn du das nicht tust, werden wir einen Mann für dich aussuchen.«

Sarah wollte keinen Freund und auch keinen Mann, doch ihre Mutter zwang sie dazu. So gaben sie eine Annonce in einer Zeitung auf. Es meldeten sich einige junge Männer. Sarah fühlte sich zu keinem hingezogen und lehnte einen nach dem anderen ab.

In der Zwischenzeit hatte Sarah eine Lehre als Friseurin begonnen. Es war nicht ihr Traumberuf und auch nicht ihr Wunsch. Sie wollte immer etwas Künstlerisches machen, aber ihre Mutter war der Meinung, dass sie nun endlich Geld nach Hause bringen sollte.

»Wenn du diese Lehre nicht machst, dann stopfe ich dich in eine Fabrik! Du kannst nicht ewig auf unsere Kosten hier leben! Oder ich werfe dich auf die Straße, dann kannst du sehen, was du machst!«, schrie Mathilda sie an.

Also tat Sarah, was ihre Mutter von ihr verlangte und begann mit dieser Ausbildung. Sie hatte große Probleme mit dem Chef und fühlte sich ständig fehl am Platz. Wenn sie am Ende des Monats ihr Geld bekam, nahm ihr ihre Mutter fast alles wieder ab. Von dem Rest, der ihr blieb, sollte sie alles andere, was sie sonst noch brauchte, selbst bezahlen. Neben ihrer Ausbildung war Sarah mit dem Haushalt und mit der Pflege ihrer Schwester beschäftigt. Ihre Mutter lag oft auf dem Sofa vor dem Fernseher und sah sich eine Serie nach der anderen an. Margit ging zu dieser Zeit in eine Behindertenwerkstatt und kam nachmittags wieder nach Hause. Sarah hatte die Aufgabe, schon früh morgens ihre Schwester zu verpflegen und sie dann zum Bus zu bringen, der sie zur Werkstatt fuhr. Abends, wenn Sarah nach Hause kam, warteten der Haushalt und ihre Schwester darauf, dass sie sich um alles kümmerte. Oft blieb ihr kaum Zeit für ausreichend Schlaf, wenn sie durch ihre Ausbildung Hausaufgaben bekam. All das war für sie eine große Belastung.

Eines Tages kam eine alte Zigeunerin in den Friseurladen und sagte jedem die Zukunft voraus.

Die alte Dame legte die Karten auch für Sarah: »Ich sehe unendlich viel Leid und Schmerz in der Vergangenheit und Schmerz in der Gegenwart, aber die Zukunft …«, sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und fuhr fort: »So gute Karten habe ich noch nie gesehen!«

Sarah vertraute der Aussage und hielt sich daran fest. Es war wie ein Hoffnungsschimmer für sie.

Sie lernte inzwischen einen jungen Mann kennen – wieder über eine Annonce in der Zeitung. Er war nicht unbedingt ihr Traummann, aber der erste Mensch, der nett zu ihr war. Also ging sie mit ihm. Wenn Christoph sie bedrohte, flüchtete sie zu ihm. Als sie nur einen Moment mit ihm alleine war, packte er sie und sagte: »Du gehörst mir!«.

Sie ließ sich nicht davon einschüchtern und zog ein Jahr später von zu Hause weg. Ihre Eltern merkten, dass sie immer aufsässiger wurde. Wenn sie sie besuchte, fing sie an Kritik an ihnen zu äußern. Das hatte Sarah vorher nie getan. Ihre Mutter bemerkte: »Früher warst du so ein liebes Mädchen. Seitdem du diesen Kerl kennst, hast du dich verändert.«

Ihre Eltern bekamen Angst, dass irgendetwas an die Öffentlichkeit kommen könnte. Damit sie weiter die Kontrolle über Sarah hatten, telefonierte Mathilda mindestens drei Mal am Tag mit ihr.

Sarah machte dieses Spiel noch eine Weile mit. Irgendwann kam ihr der Gedanke, ob das, was ihre Mutter ihr immer von ihrem leiblichen Vater Volker erzählt hatte, stimmte. Sie zweifelte inzwischen häufig an der Wahrheit der Aussagen von Mathilda.

Also nahm sie Kontakt mit »Oma Kiel« auf und fragte nach der Telefonnummer ihres Vaters. Sie war ganz aufgeregt und hoffte, dass alles ganz anders sei, als ihre Mutter es ihr immer erzählt hatte. Sie wünschte sich einen Neubeginn und wollte endlich ihren Vater kennenlernen. Als sie das erste Mal am Telefon redeten, klang es so, als wären sie nie getrennt gewesen.

Sarah beschloss mit ihrem Freund Ernst zusammen zu Volker zu fahren. Sie erzählte ihrer Mutter nichts davon. Sie ging einfach fort und kam ein paar Tage später wieder zurück. Die Begegnung mit Volker lief jedoch nicht ganz so herzlich ab, wie sie es sich erwünscht hatte. Als sie seine Wohnung betrat, wurde sie von Volkers Frau in Empfang genommen. Sie war nicht sehr glücklich darüber, dass Sarah wieder in Volkers Leben treten wollte. Sie war auch eine sehr kühle Frau. Blond und stämmig, genauso wie Sarahs Mutter. Ihr Vater kam ihr entgegen. Seine Haare waren sehr kurz geschnitten und hatten sich von Schwarz in Grau verfärbt. Er trug eine Brille und hatte hellbraune Augen. Sie setzten sich in die Küche und aßen zusammen zu Mittag. Er fing an, über die Vergangenheit zu reden und dass er doch gerne den Kontakt aufrechterhalten hätte. Er sagte, dass Sarah ihm fehlte.

Später kramte er ein paar alte Bilder und eine Filmrolle heraus, die er Sarah schenkte. Auf der Filmrolle war ein Film, der Sarah zeigte, als sie noch ein Baby war. Volker sagte, dass er sich diesen Film jedes Jahr zu Weihnachten mit seiner Familie angesehen hätte. Sarah merkte nur, wie sich eine Mauer um ihr Herz zog und sie keine Gefühlsregung mehr zeigen konnte. Es floss keine Träne, dafür hatte sie einfach schon zu viel erlebt und konnte mit den Worten ihres Vaters nicht viel anfangen. Er war ein Fremder für sie und sie wurde schon zu oft verletzt und belogen.

Zum Abschied bekam sie von ihm Geld für die Fahrt, eine Goldkette und ein Goldarmband geschenkt. Er dachte wohl, er könnte damit die verlorene Zeit wiedergutmachen. Sarah hatte zu der Zeit die Hoffnung, dass sie sich näherkommen könnten, obschon sie ein mulmiges Gefühl hatte, als Volker ihr sagte, dass seine Frau nicht mit dem Kontakt einverstanden war. Trotzdem gab sie die Hoffnung nicht auf, dass sie vielleicht ihren Vater zurückgewinnen könnte.

Als Sarah von der Reise wieder in ihrer Wohnung ankam, hatte ihre Mutter schon mehrmals auf den Anrufbeantworter gesprochen. Die letzten Meldungen arteten wieder in Beschimpfungen aus. Sie rief zurück und berichtete Mathilda, wo sie war. Daraufhin verlor Mathilda völlig die Fassung und schrie sie am Telefon heftig an, sodass Sarah am anderen Ende fast zusammenbrach. Als sie den Telefonhörer auflegte, erzählte sie Ernst – sie waren inzwischen schon verlobt – was mit ihr in der Vergangenheit passiert war.

Es verging einige Zeit. Ernst wollte einfach alles, was mit Sarah geschehen war, vergessen. Sarah ging es immer schlechter. Ihre Gedanken kreisten immer nur um ihre Vergangenheit. Es tauchten immer mehr zuvor verdrängte schreckliche Erinnerungen und Bilder von den Übergriffen ihres Stiefvaters und dem Terror, den sie erlebt hatte, in ihrem Kopf auf. Mathilda rief weiter­hin an, aber Sarah ging nicht mehr ans Telefon. Sie wollte sich das Leben nehmen.

»Wenn es doch nur endlich vorbei wäre!«, sagte sie sich immer und immer wieder. Sie hatte niemanden, mit dem sie darüber reden konnte.

Irgendwann konnte sie nicht mehr anders und rief die Telefonseelsorge an. Sarah erzählte der Dame alles, was ihr widerfahren war. Sie wurde dazu aufgefordert zur Polizei zu gehen und sie bekam eine Adresse von einer Organisation, die Opfern wie ihr half. Alles lief wie automatisiert in Sarah ab. Sie ging am nächsten Tag zur Polizei und zeigte Christoph und Mathilda an. Die Beamten nahmen Christoph fest und er kam in Untersuchungshaft.Mathilda blieb auf freiem Fuß.

Sie hinterließ Sarah eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: »Nimm die Anzeige sofort zurück!«. Aber Sarah tat es nicht. Sie hielt durch und lies sich nicht davon beeinflussen.

 

Sarah hatte inzwischen eine Arbeitsstelle als Montiererin, da sie wegen einer Allergie den Friseurberuf nicht mehr ausüben konnte. Sie arbeitete schon lange in dieser Firma, aber konnte in dieser Zeit nicht so arbeiten, wie es von ihr verlangt wurde. So verlor sie ihren Arbeitsplatz kurzerhand wieder und. ging in eine psychosomatische Klinik, um ihr Trauma zu verarbeiten und um Kraft für den Prozess zu tanken. Sie verbrachte mehrere Monate dort. Zuvor hatte sie eine Psychologin zugewiesen bekommen, die sich mit dem Thema besonders gut auskannte. Sie gab ihr die Empfehlung für diese Klinik. Sarah hatte Angst vor Berührungen und anderen Menschen. Sie saß am Anfang ängstlich in einer Ecke und folgte einfach nur dem Programm. Mit der Zeit kam sie den Menschen dort näher und ließ sogar Berührungen zu. Sie wurde in die Arme genommen und respektiert. Sie merkte zum ersten Mal, dass es Menschen gab, die anders sein konnten. Es gab auf einmal Menschen um sie herum, die liebevoll und nett waren. Menschen, denen Geld nicht wichtig war. Menschen, die sich genauso wie Sarah wünschten, wieder in Kontakt mit Gott und dem Leben zu treten.

Nachts nahm Sarah ihre Liege vom Balkon mit auf ein Flachdach, einem kleinen Vorbau am Eingang der Klinik. Es war gerade ein Stockwerk hoch und man konnte durch eines der Fenster im Flur auf das Dach hinausklettern. Sie schlief bald jede Nacht dort. Sie fühlte sich sehr wohl bei dem Anblick des unendlichen Weltraumes und der zahlreichen Sterne über ihr. Das gab ihr ein Gefühl von Freiheit. Wenn Sarah so da lag und in den Himmel schaute, fühlte sie sich, als würde sie im Raum schweben, weit weg in diesem unendlichen Weltraum. Sie hatte oft das Gefühl, nicht von dieser Welt zu sein. Dass irgendwo dort draußen im All, weit entfernt von der Erde, ihre Heimat liegen würde.

Bald hatte sie einige Mitpatienten angesteckt und das Dach stand voller Liegen. Morgens mussten alle vor den Schwestern aufstehen und schnell das Dach räumen. Sarah wurde von da an von den anderen Patienten »Sternenkind« genannt.

Sie schaute oft in den Himmel und hatte das Gefühl, sie könne dort Zeichen entdecken und lesen. Für sie formten sich die Wolken zu Herzen, zu Nummern und zu Buchstaben.

An dem Tag, als sie vor Gericht aussagen sollte, erschien ihr das chinesische Zeichen für »Kraft« am Himmel. Sie verstand es als Zeichen von Gott, dass er ihr Kraft geben wollte, um weiterzugehen. Er war da und beschützte sie. Er gab ihr die Kraft durchzuhalten.

Im Gericht wurde sie angehört. Der Verteidiger des Angeklagten unterstellte ihr, sie wäre schon früh eine Nymphomanin gewesen und wäre nur auf das Opfergeld aus. Da von ihrer Verteidigerin verlangt wurde, sie müsse alles öffentlich machen und ein Glaubwürdigkeitsgutachten erstellen lassen, tat sie es. Denn sie hatte Angst, dass der Täter wieder freikommen würde. Alles, was sie durchgemacht hatte, wäre umsonst gewesen. Mathilda saß mit im Saal, die Presse war da und der Saal war gefüllt mit neugierigen und fremden Menschen, die das Geschehen live mitbekommen wollten. Bei fast jeder Antwort, die Sarah von sich gab, kam aus der Reihe hinter ihr das Geschrei ihrer Mutter: »Du lügst. Das ist alles eine Lüge!« Der Richter tat nicht viel, um sie zurückzuhalten. Sarah war am Ende. Sie musste vor der Öffentlichkeit jedes kleinste Detail erzählen.

Nach ihrer Aussage kam die Gutachterin herein, die mit Sarah das Glaubwürdigkeitsgutachten erstellt hatte. Diese bestätigte, dass laut ihres Gutachtens das Opfer die hundertprozentige Wahrheit sagen würde. Sarah konnte danach den Saal verlassen und gehen. Ihr Vater Volker und alle Personen, denen sie ihre Geschichte erzählt hatte, wurden als Zeugen vor Gericht geladen. Auch ihre Mutter wurde vorgeladen. Mathilda traf auf Volker und irgendwie kamen die beiden ins Gespräch. Sarah sah sie, als sie den Saal verließ. Sie standen nur ein paar Meter von ihr entfernt und unterhielten sich. Volker hatte kein Interesse daran, mit Sarah zu reden.

Irgendwann meldete er sich per Telefon: »Ich musste extra freinehmen wegen dir! Wegen dir musste ich Hunderte von Kilometern fahren! Ich wollte dir nur sagen, so lange nicht klar ist, wer Schuld hat, bist du nicht mehr meine Tochter!«

Sarah kannte diese Worte sehr gut. Ihre Mutter hatte sie immer als Druckmittel benutzt, um Sarah gefügig zu machen. Immer wenn Sarah sich wehrte, sprach Mathilda diese Worte aus. Ihr war damit klar, dass Mathilda sich eingemischt hatte und auf Volker eingeredet hatte. Er war zu schwach um hinter seiner Tochter zu stehen. Seitdem hatte sie endgültig keine Eltern mehr.

Leider hörte der Stress für Sarah nicht auf. Nachdem Ernst und sie einigermaßen glücklich in der ersten gemeinsam gemieteten Wohnung wohnten, wollte er gerne zurück zu seiner Mutter Isolde ziehen. Ernstens Mutter war 51 Jahre alt und konnte ihre Söhne nie loslassen. Niemand war gut genug für ihre Söhne und sie betrachtete sie als ihr Eigentum. Sie hatte kurzes dunkles Haar, braune Augen und oft einen sehr verbissenen Gesichtsausdruck. Isolde und Sarah verstanden sich gar nicht. Ernstens Mutter war sehr eifersüchtig und wurde leider auch öfters gewalttätig, wenn ihr etwas nicht passte. Sie schlug Sarah, drangsalierte sie und machte ihr so viel Angst, dass Sarah ihr nicht mehr über den Weg laufen wollte. Ernst redete auf Sarah ein und meinte, dass alles bald besser werden würde. Seine Mutter müsse sich nur an sie gewöhnen. Sie ließ sich von ihm erweichen, weil er der einzige Mensch war, der sie nicht schlug und der sie ab und zu in die Arme nahm. Sie ließ sich sogar auf eine Hochzeit mit ihm ein. Aber selbst nach vielen Jahren Ehe gewöhnte sich Isolde nicht an Sarah. Es wurde über die Jahre sogar immer schlimmer.

In der Zwischenzeit wurde das Urteil gefällt. Christoph wurde zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Es war bei Weitem keine Entschädigung für all das Leid, das Sarah wegen Christoph und Mathilda durchgestanden hatte. Sie fühlte sich nach diesem Urteil nicht besser als zuvor. Das Einzige was sie erreicht hatte war, sich in diesem Fall endlich gegen ihre Eltern durchgesetzt zu haben.

Das Schweigen wurde gebrochen. Sarah wollte ihre Opferrolle verlassen und endlich ein normales Leben führen. Ihre Mutter reichte tatsächlich wenig später die Scheidung ein und suchte sich einen neuen Mann. Sie wurde nie für ihre Vergehen verurteilt. Zwischen ihr und Sarah brach erst einmal der Kontakt für einige Jahre ab. Zwei Jahre später meldete sich Mathilda wieder bei ihr und wollte sich mit ihr versöhnen. Sarah hoffte, dass ihre Mutter vielleicht wirklich einsichtig geworden war, und reiste deswegen zu ihr nach England, wo Mathilda inzwischen mit einer anderen Familie lebte. Sie hatte Margit in ein Heim gegeben und danach Deutschland verlassen.

Als Sarah ankam, erzählte Mathilda ihr wirres Zeug. Sie würde in Deutschland gesucht werden und sobald sie einen Fuß auf deutschen Boden setzte, würde man sie festnehmen. Sie erzählte auch, sie hätte Diabetes und könne keine Milchprodukte zu sich nehmen. Sarah beobachtete ihre Mutter und stellte fest, dass sie Milchprodukte aß und nie Insulin spritzen musste. Als Sarah noch einmal nachfragte, stritt ihre Mutter ab, dass sie jemals diese Dinge gesagt hätte. Sarah konnte immer mehr erkennen, dass ihre Mutter sich nicht verändert hatte. Am Ende des Besuchs war ihre Mutter wieder so, wie Sarah sie als Kind und als junge Erwachsene kannte. Sie behandelte sie wieder genauso wie früher und machte ihr ständig Vorwürfe. Mathilda hatte Angst Sarah mit ihrem neuen Mann alleine zu lassen. Sie beobachtete sie mit einem angsteinflößenden und eifersüchtigen Blick aus den Augenwinkeln. Sarah konnte es sehen, als sie zufällig ihre Mutter anblickte, als sie gerade zusammen einen Film ansahen. Mathilda hatte die fixe Idee, dass Sarah Interesse an ihrem Mann haben könnte. Sarah war wieder zu einer Konkurrentin geworden, obwohl sie absolut kein Interesse an diesem Mann hatte. Sie war dort schließlich mit ihrem Ehemann zu Besuch. Aber selbst die Tatsache, dass sie verheiratet war und mit ihrem Mann dort war, konnte ihre Mutter von diesen Ideen nicht abbringen.

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