Der Zirkadian-Code

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Der Rhythmus des täglichen Lebens

Forscher wie ich erkunden auch weiterhin die täglichen Rhythmen der Physiologie, des Stoffwechsels und selbst der Wahrnehmung von Erwachsenen. Dabei stellte sich heraus, dass nahezu jeder Aspekt unseres täglichen Lebens Rhythmen unterliegt. Auch wenn Menschen nicht blühen wie Blumen und keine Wanderungen über lange Strecken unternehmen wie Zugvögel, verfügen auch wir über innere Uhren, bei denen fast alle Aspekte unserer täglichen Gesundheit mit der richtigen Tages- oder Nachtzeit verbunden sind. Unser Körper ist darauf programmiert, jeden Tag bestimmte Rhythmen zu durchlaufen. Was Sie am Abend machen, hat dabei große Auswirkungen auf Ihren zirkadianen Rhythmus. Die wichtigsten Veränderungen, die Sie nach dem Lesen dieses Buches vornehmen werden, haben mit der Überprüfung Ihres Tagesablaufs zwischen 18 Uhr und Mitternacht zu tun.

Schon bevor wir morgens die Augen öffnen, bereitet unsere innere Uhr unseren Körper auf das Aufwachen vor. Die Produktion des Schlafhormons Melatonin in der Zirbeldrüse wird gestoppt. Unsere Atmung beschleunigt sich und unser Herzschlag ebenfalls, während der Blutdruck leicht ansteigt. Unsere Körperkerntemperatur nimmt um etwa ein halbes Grad zu, noch bevor wir wach werden.

Unser gesamtes Wohlbefinden wird von unseren täglichen Rhythmen beeinflusst. Sich am Morgen gut zu fühlen, bedeutet, dass man nach einem geruhsamen Schlaf erfrischt und erholt aufwacht und beim morgendlichen Stuhlgang die in der Nacht angesammelten Giftstoffe loswird. Man fühlt sich leicht, ist wach und hat Frühstückshunger. Kurz nachdem wir die Augen öffnen, produzieren die Nebennieren eine erhöhte Menge des Stresshormons Cortisol, damit wir unsere Morgenroutine zügig erledigen können. Die Bauchspeicheldrüse bereitet sich darauf vor, Insulin für die Verarbeitung des Frühstücks auszuschütten.

Nach einer erholsamen Nacht und einem guten Frühstück ist unser Gehirn bereit, in der ersten Tageshälfte zu lernen und Probleme zu lösen. Am Nachmittag fühlen wir uns gut, wenn wir mit unserem Arbeitspensum zufrieden sind. (Wenn Sie in der Nacht zuvor hingegen nicht gut geschlafen haben, mag das Gefühl vorherrschen, Sie hätten den Tag vergeudet.) Gegen Ende des Tages erreicht der Muskeltonus einen Höhepunkt. Sobald dann die Sonne untergeht und den Abend einläutet, beginnt unsere Körpertemperatur zu sinken, die Produktion des Schlafhormons Melatonin setzt ein und der Körper bereitet sich auf den Schlaf vor.

Am Abend heißt bei guter Gesundheit zu sein, dass man ruhiger wird, müde ist und ohne große Probleme einschläft. Schlaf ist im Übrigen kein Zustand, in dem das Gehirn einfach herunterfährt. In Wahrheit ist es ganz schön beschäftigt, denn es konsolidiert Erinnerungen, basierend auf den sensorischen Informationen, die wir am Tag aufgenommen haben. Es bildet neue Synapsen oder Verbindungen zwischen verschiedenen Neuronen. Das Gehirn produziert nachts auch einige Hormone, beispielsweise das Schlafhormon Melatonin in der Zirbeldrüse. Auch menschliches Wachstumshormon produziert der Körper im Schlaf.24 Bei Menschen, die zu wenig Schlaf bekommen, ist häufig zu wenig Wachstumshormon vorhanden. Das ist speziell bei Kindern ein Problem, da Schlafmangel die Menge dieses wichtigen Hormons verringern und das Wachstum bremsen kann.

Die täglichen Rhythmen des Körpers


Viele der Funktionen unseres Körpers erreichen zu bestimmten Tages- oder Nachtzeiten ihren Höhepunkt. Diese Rhythmen werden wahrscheinlich von unseren inneren Uhren gesteuert. Wenn wir vollkommen aus dem natürlichen Zyklus von Tag und Nacht fallen, laufen sie eine Zeit lang normal weiter.

Nachts ist auch die Zeit, in der das Gehirn entgiftet. Tagsüber nehmen die Gehirnzellen Nährstoffe auf und verarbeiten sie, wobei unerwünschte giftige Abfallstoffe entstehen. Diese Giftstoffe werden abgebaut, während wir schlafen. Gleichzeitig entstehen durch Neurogenese neue Hirnzellen. In dieser Hinsicht funktioniert unser Gehirn wie ein Büro. Wenn Sie morgens den Raum betreten, glauben Sie nicht, dass nachts irgendwer dort gearbeitet hat, aber in Wahrheit ist eine Menge passiert. Der Müll wurde herausgetragen und möglicherweise war auch jemand da und hat die Server nachgerüstet oder die Glühbirnen ausgetauscht. All diese Arbeiten müssen getan werden, damit Sie entspannt in den Tag starten können.

Wir brauchen starke zirkadiane Rhythmen

Zirkadiane Rhythmen optimieren biologische Abläufe. Jede Funktion unseres Körpers hat ein spezifisches Zeitfenster, weil unser Körper nicht alles auf einmal erledigen kann. Wenn wir Neugeborene betrachten, wird uns bewusst, warum wir zirkadiane Rhythmen brauchen. Aus den Entwicklungsmustern von Neugeborenen ist ersichtlich, dass Babys ohne eine ausgereifte innere Uhr auf die Welt kommen: Es sind Rhythmen erkennbar, aber sie sind nicht stabil. Babys versuchen beispielsweise einzuschlafen, aber mitten in der Nacht bekommen sie Hunger oder machen in die Windel. Beide biologischen Bedürfnisse sind stark genug, um sie aufzuwecken. Dann weinen sie, weil sie Hunger oder eine schmutzige Windel haben, gleichzeitig aber auch müde sind. Alles ist durcheinander. Wenn ihre innere Uhr jedoch im Alter von fünf bis acht Monaten stabiler wird, gewinnen sie mehr Kontrolle über ihre Körperfunktionen. Das zeigt sich zunächst daran, dass sie mehrere Stunden am Stück schlafen können. Die Verdauung verlangsamt sich, sodass sie nachts nicht mehr gefüttert werden müssen, und der Stuhlgang verschiebt sich auf morgens, weil die Produktion der Hormone, die ein Entleeren des Darms fördern, während des Schlafs unterdrückt wird. Der Rhythmus wird Tag für Tag eingefahrener.

Wenn aus Babys Kleinkinder werden, weist das Familienleben bestimmten Aktivitäten bestimmte Zeiten zu. Wir haben festgesetzte Zeiten für Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Gleichzeitig sind die Lichtsensoren in unseren Augen darauf programmiert, Veränderungen des Morgenlichts zu bemerken und unsere innere Uhr jeden Tag um einige Minuten oder Sekunden anzupassen. Diese „Lichtaufnahme“ und das Abgleichen unserer inneren Uhr mit der Natur hat unsere Vorfahren in die Lage versetzt, unabhängig von der Jahreszeit bei Sonnenaufgang aufzuwachen.

Die zirkadiane Uhr ist unser inneres Zeitsystem, das zusammen mit dem Licht und dem Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme unsere täglichen Rhythmen bestimmt. Unsere Aufgabe besteht darin, unsere innere Uhr zu pflegen, um optimale Gesundheit zu erzielen. Wie dieses Buch Ihnen zeigen wird, funktioniert dies am besten, wenn wir gemäß unserer inneren Uhr leben, anstatt gegen sie anzuarbeiten. Doch schauen wir uns zunächst einmal an, welche Rolle das Licht spielt.

Eine kurze Geschichte des Lichts

Die gesamte Menschheitsgeschichte lässt sich zusammenfassen als Wettlauf gegen die Zeit. Wir versuchten immer wieder neue Ur-Rhythmen zu entwickeln, um Veränderungen der Umwelt vorherzusehen und auf sie zu reagieren. Wenn wir verstehen wollen, auf welche Weise Licht unser Verhalten beeinflusst, müssen wir unser Augenmerk auf die Evolutionsbiologie lenken. Sie verfolgt unsere Entstehungsgeschichte rund zwei Millionen Jahre zurück und beschäftigt sich mit den Anpassungsmechanismen, die wir entwickelt haben, um in jeder Umgebung zu überleben. Auch heute noch spielt die Evolution eine Rolle, weil unsere Physiologie – unsere elementare Funktionsweise – sich in den letzten zwei Millionen Jahren kaum verändert hat. Wir sind immer noch darauf ausgelegt, nachts zu schlafen und am Tag zu essen und zu arbeiten, basierend auf einem Zyklus, den unsere innere Uhr vorgibt.

Wir wissen, dass die Entwicklung des modernen Menschen größtenteils auf Höhe des Äquators stattfand und dass sein Tagesablauf durch die Sonne und einen entsprechend starken zirkadianen Rhythmus bestimmt wurde. Urzeitmenschen mussten vor Sonnenaufgang wach werden, um erfolgreich zu jagen, denn ihre Strategie bestand darin, Tiere auf dem Weg zu einem Wasserloch zu erlegen. Wenn Jagen nicht möglich war, hatten unsere Vorfahren viel Zeit, um die Gegend zu erkunden und Beeren und Früchte zu sammeln. Nahrung zu finden und zu essen, nahm viel Zeit in Anspruch, vor allem, wenn man sich dabei vor Raubtieren vorsehen musste.

Die Menschen der Urzeit benötigten am späten Nachmittag auch einen ausreichenden Muskeltonus, um nach der Nahrungssuche den oft kilometerlangen Rückweg zu ihrer Höhle oder ihrem Unterschlupf antreten zu können. Anthropologen gehen davon aus, dass die ersten Menschen ihre letzte Mahlzeit in der Abenddämmerung zu sich nahmen, sodass vor Einbruch der Nacht genügend Zeit blieb, um einen sicheren Schlafplatz zu finden. Die nächtliche Ruhezeit betrug 12 bis 15 Stunden, die meiste Zeit davon diente dem Schlaf. Das nächtliche Fasten muss dabei geholfen haben, den Darm zu reinigen, sodass sie sich am Morgen leicht und erholt wieder auf die Nahrungssuche machen konnten.

Menschen besitzen die einzigartige Fähigkeit, ihr Leben vom Tag in die Nacht zu verlegen und wenn nötig sogar die ganze Nacht wach zu bleiben, was unseren zirkadianen Rhythmus verändert und herausfordert. Wir sind in der Lage, unsere innere Uhr anzupassen, weil große Tiere eine Bedrohung darstellten. Wir mussten also einen Weg finden, um nachts, im Dunklen, wach zu bleiben, und sei es nur für einige Minuten. Einzelne blieben auf und wachten über die Gemeinschaft, während der Rest schlief – der erste Schichtarbeiter war geboren.

Die Nacht für sich zu erobern, sicherte nicht nur das Überleben, sondern führte langfristig auch zu Wohlstand und Reichtum. Viele Jäger lernten, die nächtliche Jagd jener bei Tag vorzuziehen. Diese Schichtarbeiter wurden zu einem wichtigen Teil der menschlichen Gemeinschaft. Im Laufe der Zeit kamen Entdecker und Eroberer, die ihren Weg durch die Nacht finden und Überraschungsangriffe gegen ihre Gegner durchführen konnten, zu Wohlstand und Reichtum, indem sie ihr Gebiet erweiterten und neues Ackerland, Mineralien, Edelsteine und andere Rohstoffe und Bodenschätze für sich erschlossen.

 

Feuer war das erste Werkzeug, das Menschen in ihrem Kampf gegen die innere Uhr einsetzten. Die Fähigkeit, Feuer zu machen und zu kontrollieren, verschaffte dem Menschen zwei Vorteile. Zum einen das Licht selbst, dank dessen wir einige Stunden länger und notfalls auch die ganze Nacht lang wach sein konnten. Das flackernde Licht glühenden Holzes war schwach und reichte gerade aus, damit man im Dunkeln den Weg finden, große Raubtiere fernhalten und sich warmhalten konnte. Zum anderen wurde das Licht zur machtvollen Waffe. Tausende Jahre lang war es die einzige Waffe, die wir Menschen hatten und viele moderne Waffen basieren auch heute noch auf der Kraft des Feuers.

Das Leben rund um die Feuerstelle förderte auch das Entstehen der menschlichen Zivilisation. Feuer war entscheidend für das Kochen von Wasser und die Nahrungszubereitung, sodass der Speiseplan sich erweiterte. Kochen macht Nahrung weicher und lindert starke Aromen. Das Essen wird genießbarer und Krankheitserreger werden abgetötet.25 Der Kochvorgang macht Nahrung auch leichter verdaulich, sodass wir aus den gleichen Zutaten mehr Kalorien gewinnen können. Aus diesem Grund kann das Essen von Rohkost eine Strategie sein, um Gewicht zu verlieren, während das Kochen der Zutaten vor dem Essen keine so große Auswirkung auf das Gewicht hat.26 Durch das Kochen verringerte sich auch die Zeit, die wir mit der Nahrungssuche verbrachten, weil wir nun doppelt so viel Energie aus dem Essen ziehen konnten wie zuvor. Gleichzeitig stieg die Auswahl, denn viele Lebensmittel wurden essbar, die in rohem Zustand nicht verdaut werden konnten.

Da das Feuer in kalten Nächte Wärme spendete, konnten die ersten Menschen die Äquatorregion verlassen und sich in höhere Breitengrade in Nordeuropa, Asien und Nordamerika bewegen. Die nördlichen Breitengrade wurden erst relativ spät besiedelt, vor etwa 30 000 bis 40 000 Jahren. Im Sommer fiel es nicht allzu schwer, sich an lange Tage mit manchmal mehr als 20 Tagesstunden zu gewöhnen, weil die Sommer nicht so heiß waren und die Menschen in dunklen Höhlen oder Hütten genügend Schlaf bekamen. Aber die langen Winternächte und kurzen Tage hätten das Gehirn ohne das Feuerlicht sicherlich durcheinandergebracht. Selbst heute können sich viele Menschen nur schlecht an die langen dunklen Nächte in nördlichen Breitengraden gewöhnen und entwickeln jahreszeitlich bedingte Depressionen, sogenannte „Winterdepressionen“. Der Anteil sowohl an Depressionen als auch an Selbstmordversuchen steigt in diesen Gegenden im Winter regelmäßig an, was mittlerweile mit einer Störung der inneren Uhr in Verbindung gebracht wird. Man könnte Menschen, die unter Winterdepressionen leiden, mit Schichtarbeitern vergleichen, die mehrere Wochen oder Monate lang die Nachtschicht übernehmen müssen.

Feuer hatte, unabhängig davon, wo die Menschen der Frühzeit lebten, auch einen besonderen Einfluss auf das Leben am Abend. Während die Männer am Tag auf die Jagd gingen, blieben die Frauen und Kinder meist vor Ort und kümmerten sich um Haustiere oder das Trocknen und Verarbeiten von Nahrung für Regentage oder für den Winter. An der abendlichen Feuerstelle kamen dann alle wieder zusammen – eine Zeit für Unterhaltung und Entspannung. Geschichten wurden erzählt, Pläne für die Zukunft geschmiedet und es wurde „herumgesponnen“, sodass neue wissenschaftliche, kulturelle und handwerkliche Ideen entstehen konnten. Gespräche rund ums Feuer sind die Wiege von Kunst, Kultur, Wissenschaft und Philosophie – von allem, was unser Menschsein ausmacht.27 Dieses abendliche Gesellschaftsleben rund um das Feuer ist fest in unserer Lebensweise verankert.

Doch diese abendliche Zeit am Feuer war auf eine oder zwei Stunden beschränkt, da es nicht leicht war, das Feuer aufrechtzuerhalten, und es am Ende auch zu viel Brennmaterial kostete. Selbst zu Beginn der Industrialisierung waren Feuer und der Zugang zu Licht ein seltenes Gut. Nachdem die Menschheit Waltran, Bienenwachs und Talg als bessere Brennstoffe entdeckt hatte, wurde häufig ein Unterschied gemacht zwischen dem Kochfeuer und dem Feuer, das der Beleuchtung diente. Brennstoffe ausschließlich für die Erzeugung von Licht zu verwenden, war für den Durchschnittsbürger nicht bezahlbar. In heutiger Währung würde es zwischen 1 000 und 1 500 US-Dollar kosten, ein für das 19. Jahrhundert typisches Haus für einige Stunden pro Abend zu beleuchten.28 Da helles Licht in den Abendstunden im 19. Jahrhundert selten war, wurden die meisten Menschen müde und gingen wenige Stunden nach Sonnenuntergang zu Bett. Es gibt Eingeborenenstämme in Afrika, Südamerika, Australien und Indien, die eine landwirtschaftlich geprägte Lebensweise pflegen oder Jäger und Sammler sind, und die noch so leben wie vor 200 oder 300 Jahren. In diesen Gemeinschaften, die kaum Zugang zu elektrischem Strom haben, gehen die Menschen früh zu Bett und wachen bei Tagesanbruch auf.29,30,31

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreiteten sich Elektrizität und elektrisches Licht in der westlichen Welt, aber es gab immer noch nicht viele Gründe, wach zu bleiben und nachts zu arbeiten. Gas- und Elektroherde sorgten dafür, dass Wärme nicht länger mit einem traditionellen Holzfeuer gekoppelt war. Die Küche wanderte von draußen in das Herz des modernen Heims und wir konnten Nahrung nun sicher und zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit zubereiten. Techniken zum Verarbeiten, Konservieren und Kühlen von Lebensmitteln machten Nahrung jederzeit zugänglich. Und damit ging der ganze Ärger so richtig los.

Die frühe Industrialisierung führte zu einer Steigerung der Lebensmittelproduktion, auch der Bergbau und die Produktion von Gütern nahmen zu. Sowohl im Beruf als auch zu Hause fiel weniger körperliche Arbeit an. Die gesteigerte Produktion überschritt schnell die Nachfrage vor Ort, was den Bau von Infrastruktur förderte. Es entstanden Straßen und Zugstrecken, Gebäude und Lagerhäuser. Wiederum sank der Bedarf an körperlicher Arbeit. Erhalt und Bau dieser modernen Infrastruktur erforderte auch eine neue Sorte von Arbeitern, die wach bleiben und nachts arbeiten konnten. Heutzutage sind in Industrieländern nahezu 20 bis 25 Prozent aller Vollzeitkräfte im Schichtdienst tätig.

Die Mechanisierung der Landwirtschaft im frühen 20. Jahrhundert steigerte Ernten und Erträge, wobei Pflanzenzüchter unbewusst Pflanzen wählten, die ihre inneren Uhren von Natur aus optimiert hatten. Diese „Mutationen“ mussten nicht die korrekte Tageslänge berechnen, um zu wissen, ob Sommer oder Winter war. Anstatt darauf beschränkt zu sein, an langen Sommer- oder kurzen Wintertagen zu blühen, konnten diese Nutzpflanzen zu jeder Jahreszeit blühen oder, wie Tomaten, in Gewächshäusern wachsen. Bauern konnten so auf derselben Fläche die zwei- oder dreifache Erntemenge pro Jahr erzielen, was die Produktion weiter steigerte.

Mit der Mechanisierung der Nahrungsmittelproduktion mussten die Arbeiter nicht mehr den ganzen Tag im Freien verbringen. Auch elektrisches Licht wurde langsam erschwinglich. Spulen wir vor zur Mitte des 20. Jahrhunderts: Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit fortschreitender Industrialisierung begannen nahezu alle Bewohner der Industrieländer unter Störungen ihrer inneren Uhr zu leiden. Weniger Schlaf bedeutete auch eine längere Zeit, die der Mensch bei hellem Licht verbrachte, speziell am Abend, wenn das Gehirn diese Lichtstimulation nicht erwartet. Und während der Wachzeit tagsüber blieben viele Menschen im Haus und bekamen zu wenig helles Sonnenlicht ab. Beide Faktoren verwirren die innere Uhr.

Telefone, Radios und Fernseher begannen, uns bis spät in die Nacht hinein zu unterhalten. Der Computer hat das Abendgespräch am Feuer ersetzt und es in ein zwar reales, aber virtuell funktionierendes, globales Chat-Gespräch verwandelt, bei dem Sie jedes Thema mit jedem Menschen an jedem Ort der Welt diskutieren können. Und mit Nachrichten und Entertainment rund um die Uhr und Milliarden von Rechnern rund um die Welt – wer kann es sich da leisten, nicht ans Netz angeschlossen zu sein?

Doch all diese Geräte, die frühere Technologien ersetzen und unser Leben verbessern sollen, haben zunehmend negative Auswirkungen auf unseren zirkadianen Rhythmus. Unsere innere Uhr wird immer noch durch helles Licht am Abend und begrenztem Zugang zu natürlichem Licht am Tag gestört. Wir sind evolutionstechnisch noch nicht so weit, dass sich unsere inneren Uhren an die Realität der modernen Welt angepasst hätten, und leiden daher wie unsere im extremen Norden lebenden Vorväter oder unsere heutigen nordischen Verwandten. Unabhängig davon, ob wir wirklich Schichtarbeit leisten oder einfach nur wie Schichtarbeiter leben, kann die ständige Lichtbelastung am Abend zu Störungen der inneren Uhr führen, die uns am Schlafen hindern und Hungergefühle wecken.

Gesundes Licht ist nicht das gleiche wie helles Licht

Wir können nicht zurück ins Mittelalter reisen, um dort eine lange, dunkle Nacht zu erleben, aber wenn wir wissen, wie stark Licht unsere innere Uhr beeinflusst, können wir es vielleicht für unsere Gesundheit nutzen. Als ich mein Graduiertenstudium begann, hatte ich viele Fragen: Ich wollte ganz genau wissen, wie Licht unsere innere Uhr beeinflusst. Warum hält es uns wach, wenn wir nachts auf einen Computer-Bildschirm starren, und warum benötigen wir am Morgen offensichtlich wesentlich mehr Licht, um aufmerksam zu bleiben? Gibt es eine Lichtfarbe, die unsere innere Uhr stärker beeinflusst als andere?

Wenn wir herausfänden, wie die Helligkeit und Farbe von Licht unsere innere Uhr zu verschiedenen Tageszeiten beeinflusst, könnten wir Licht zur Unterstützung unserer Gesundheit einsetzen. Sie wissen vielleicht, dass die Haut hellem Sonnenlicht ausgesetzt sein muss, um Vitamin D herstellen zu können, und doch hat dies nichts mit unserer inneren Uhr zu tun, denn sie wird allein durch das in die Augen einfallende Licht beeinflusst. Schauen wir uns also an, wie unsere Augen arbeiten.

Das menschliche Auge funktioniert im Grunde genommen wie eine Kamera. Es verfügt über Millionen von Stäbchen und Zapfen, die die Details eines Bildes in hoher Auflösung aufnehmen und die Informationen dann über lange, kabelähnliche Nervenzellen an das Gehirn senden. Die Netzhaut, das lichtempfindliche Gewebe auf der Rückseite unserer Augen, enthält mehrere Millionen von Stäbchen- und Zapfensensoren. Lichtstrahlen gelangen über Hornhaut, Pupille und Linse auf unsere Netzhaut, die dann die Lichtstrahlen in Impulse verwandelt, die durch den Sehnerv zum Gehirn geleitet werden. Dort werden sie zu den Bildern, die wir sehen. Wenn Stäbchen und Zapfen absterben, verlieren wir die Fähigkeit zu sehen, wie dies teilweise bei angeborener Blindheit der Fall ist.

Doch selbst Blinde verfügen über innere Uhren, die durch Licht beeinflusst werden. Erstaunlicherweise können viele blinde Menschen Licht „spüren“ und berichten, dass sie beim Gehen ins Sonnenlicht fühlen, wie Helligkeit in ihr Auge gelangt. Auch die Pupillen eines blinden Menschen verengen sich bei hellem Licht und weiten sich wieder, wenn die Person ein Gebäude betritt. Solche blinden Menschen können ebenso wie einige blinde Tiere ihre Schlaf- und Aufwachzeiten an jahreszeitliche Veränderungen der Tageslänge anpassen.


Das moderne Leben im Haus unterbricht zirkadiane Rhythmen und macht uns anfällig für verschiedene Hirnerkrankungen.

Das oben beschriebene Phänomen wurde im frühen 20. Jahrhundert entdeckt, und nahezu 80 Jahre lang glaubten die meisten Wissenschaftler, dass blinde Menschen immer noch über eine ausreichende Menge an funktionierenden Stäbchen und Zapfen verfügten, um ihnen ein Gefühl für Licht zu geben. Mit hohem Aufwand in den 1990er-Jahren durchgeführte Versuche ergaben jedoch, dass es einen schwer fassbaren Lichtsensor in den Augen gibt, von dem wir zuvor nichts wussten.32–34 Im Jahr 2002 entdeckten drei Forschergruppen, einschließlich meiner eigenen, unabhängig voneinander ein lichtempfindliches Protein außerhalb der Stäbchen und Zapfen, das tatsächlich der Lichtsensor ist, der den täglichen Schlaf-Wach-Rhythmus regelt.35–38 Dieses lichtempfindliche Protein trägt den Namen Melanopsin.39 Von den 100 000 neuralen Zellen der Netzhaut, die Lichtinformationen an das Gehirn weitergeben, enthalten nur 5 000 Melanopsin. Zapfen und Stäbchen können unsere innere Uhr ebenfalls beeinflussen, aber nur in Abwesenheit von Melanopsin, und wenn sie es tun, sind sie nicht so effektiv. Deshalb können blinde Menschen, deren Zapfen und Stäbchen nicht mehr funktionieren, die aber noch über intakte Netzhautzellen verfügen, Licht immer noch wahrnehmen. Aber es sind so wenige Zellen, dass sie nicht ausreichen, um ein Abbild der Außenwelt zu liefern.

 

Um zu verstehen, wie dieser Lichtsensor funktioniert, verwendeten wir für unsere Versuche Mäuse, denen entweder das Melanopsin-Gen fehlte oder die Melanopsin-Zellen, auch wenn ihre Augen ansonsten vollkommen normal arbeiteten: Sie konnten gut sehen und sich zurechtfinden. Wenn das Gen aus Mäusen herausgezüchtet wird, bleiben die Zellen am Leben. Werden jedoch zusätzlich auch die Zellen entfernt, endet damit die Genexpression. Wird das Melanopsin-Gen entfernt, kann die Lichtinformation immer noch durch die Melanopsin-Zellen in das Gehirn der Maus gelangen. Sind die Zellen ebenfalls nicht mehr vorhanden, besteht keine Verbindung mehr zwischen dem Auge und der inneren Uhr des Gehirns.

Mäuse wachen normalweise am Abend auf (sie sind nachtaktiv) und schlafen tagsüber. Wenn sie über keine Melanopsin-Zellen verfügen, können sie Licht und Dunkelheit nicht spüren. Trotzdem behielten diese Mäuse einen normalen Rhythmus bei, auch wenn sie in konstanter Dunkelheit gehalten wurden – sie schliefen zu den gleichen Zeiten und waren aktiv wie andere Mäuse auch, und zwar in einem Zyklus von 23 Stunden und 45 Minuten. Die melanopsinfreien Mäuse hatten allerdings größere Schwierigkeiten, sich an die kleine Zeitveränderung anzupassen, die in jeder Woche eintritt. Während die normalen Mäuse ihre Schlaf- und Wachzeiten innerhalb einer Woche wieder an den Hell-Dunkel-Zyklus anpassen konnten, benötigten die Mäuse ohne Melanopsin-Gen dazu einen ganzen Monat oder länger. Außerdem erstarren normale Mäuse genau wie Rehwild, wenn sie nachts helles Licht sehen, was bei den Mäusen ohne Melanopsin-Gen nicht der Fall war. Sie liefen einfach weiterhin normal herum, da das Licht in der Nacht auf Mäuse, die weder über das Melanopsin-Gen noch die entsprechenden Zellen verfügten, keinen Einfluss hatte.

Da Mäuse und Menschen größtenteils die gleichen Gene besitzen, einschließlich des Melanopsin-Gens, haben Versuche mit Mäusen durchaus auch eine Aussagekraft für die innere Uhr des Menschen. Sie lassen darauf schließen, dass Melanopsin die Zirkadian-Uhr des Menschen, unsere Schlafzyklen und die Melatonin-Produktion beeinflussen kann. Unsere nächste Frage war daher, welche Art von Licht Melanopsin am stärksten oder am wenigsten aktiviert, um so zu wissen, welches Licht zu welcher Tageszeit für unsere innere Uhr optimal ist.

Das sichtbare Licht beinhaltet alle Farben des Regenbogens, wobei jede Farbe eine andere Wellenlänge hat. Rot hat die größte Wellenlänge, Violett die kürzeste. Wenn alle Wellen zusammen gesehen werden, ergeben sie weißes Licht oder Sonnenlicht. Die verschiedenen Farben in diesem weißen Licht aktivieren drei verschiedene Arten des Proteins Opsin (rot, grün und blau), die dann wiederum diese Farben einzeln und kollektiv (als weißes Licht) erkennen. Das Melanopsin-Protein ist größtenteils empfänglich für blaues Licht und weniger empfänglich für rotes. Wenn Melanopsin durch die Wahrnehmung von blauem Licht aktiviert wird, sendet es ein Signal an unser Gehirn, dass Licht vorhanden ist, und dieses reagiert dann so, als sei es Tag, ganz gleich, welche Zeit es wirklich ist. Wenn Sie nachts durch einen Supermarkt gehen, nimmt das Melanopsin das Deckenlicht wahr und Ihr Gehirn denkt, dass es Tag ist und sie wach sein sollten.

Stellen Sie sich vor, Sie hätten zwei gleich helle Glühbirnen. Eine davon gibt blaues Licht ab und die andere orangefarbenes. Wenn Sie mitten in der Nacht die orangefarbene Glühbirne anschalten, aktiviert das Licht Opsine in den grünen Zapfen (das Opsin in den grünen Zapfen kann ein wenig orangefarbenes Licht wahrnehmen, da es im Regenbogenspektrum in der Nähe von Grün liegt). Ihr Gehirn kann nun erkennen, was sich im Raum befindet. Schalten Sie andererseits das blaue Licht ein, werden die blauen Zapfen aktiviert und sie können ebenfalls erkennen, was sich im Raum befindet, allerdings mit einem Unterschied: Melanopsin-Zellen werden durch orangefarbenes Licht kaum aktiviert und senden dem Gehirn daher weiterhin die Botschaft, dass es Nacht ist, wohingegen das blaue Licht als Tageslicht wahrgenommen wird. Wenn Sie also eine Stunde bei orangefarbenem Licht verbringen, gerät Ihre innere Uhr kaum aus dem Takt, während eine Stunde bei blauem Licht ihre innere Uhr neu stellt und sie auf Tag setzt.

Mit dem Lauf der Jahreszeiten und der wechselnden Tageslichtdauer passen sich unsere zirkadianen Rhythmen an die Zeitverschiebungen bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang an. Lange Zeit wussten wir nicht genau, wie diese Rhythmen sich auf die neuen Zeiten einstellen oder auf welche Weise unsere innere Uhr von Licht beeinflusst wird. Doch unsere Forschungen ergaben, dass es genau diese Sensoren für blaues Licht sind, die unsere innere Uhr justieren, wenn die Tageslänge sich aufgrund der Jahreszeiten oder einer Reise in eine andere Zeitzone verändert. Auch haben sie direkte oder indirekte Verbindungen zu Hirnregionen, in denen Depression, Wachheit, Schlaf und die Produktion des Schlafhormons Melatonin stattfinden, und sogar zu dem Hirnzentrum, das die Entstehung von Migräne oder Kopfschmerzen steuert.

Melanopsin verfügt über eine weitere interessante Eigenschaft: Es benötigt eine Menge Licht, um es zu aktivieren. Wenn Sie beispielsweise Ihre Augen in einem dämmrigen Raum für wenige Sekunden öffnen, können Ihre Zapfen und Stäbchen ein Bild des Raumes aufnehmen, aber Ihre Melanopsin-Zellen werden reagieren, als sei es zu dunkel, um etwas zu sehen.

Diese Entdeckungen vermittelten uns einen ersten Eindruck davon, inwieweit Licht unsere Gesundheit beeinflusst. Unsere moderne Lebensweise, in der wir einen Großteil unserer Zeit in geschlossenen Räumen verbringen, auf helle Bildschirme starren und anschließend am Abend helles Licht einschalten, aktiviert Melanopsin zu den falschen Tages- und Nachtzeiten, was dann unsere innere Uhr durcheinanderbringt und die Produktion des Schlafhormons Melatonin senkt. Die Folge davon ist, dass wir keinen erholsamen Schlaf mehr finden. Wenn wir am nächsten Tag aufwachen und wieder den größten Teil des Tages drinnen verbringen, kann das dämmrige Licht das Melanopsin nicht voll aktivieren und wir können unsere innere Uhr nicht an den Tag-Nacht-Zyklus anpassen. Wir fühlen uns schläfrig und sind weniger aufmerksam. Nach wenigen Tagen oder Wochen stellen sich Depressionen und Ängste ein.

Da wir nun mehr über die Art, Menge und Dauer des Lichts wissen, das unsere Gesundheit beeinflusst, lässt sich leicht vorstellen, wie wir durch kleine Veränderungen an unseren Glühbirnen, Computer-Bildschirmen oder Brillen einiges für unsere Gesundheit tun können.