Schweizerische Demokratie

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Inzwischen sind in Europa wie in der Schweiz die Parteiensysteme «aufgetaut» und flüssig geworden: So wie in Holland die politisch-gesellschaftliche «Versäulung» sind in der Schweiz die «Milieuparteien» verschwunden. Der Zusammenhang zwischen Parteibindung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Gruppe oder sozial-ökonomischen Schicht ist schwächer geworden. Zugleich werden neue Spaltungen sichtbar, die sich weniger als früher am sozialen oder kulturellen Status festmachen lassen. Der gesellschaftliche Wertewandel hat nach der Theorie von Ronald Inglehart (1977) global zur Spaltung in «materialistische» und «postmaterialistische» Werthaltungen geführt, die politisch vor allem als Gegensatz zwischen Wirtschaftswachstum und Ökologie relevant geworden ist (Hug/Sciarini 2002). Als neue Konfliktlinie erscheint zudem ein Rechtskonservatismus, der sich in Europa generell gegen individuell spürbare Kosten der Modernisierung, Liberalisierung und Globalisierung richtet. Für die Schweiz verortet Klöti (1998:45 ff.) diese neue Spaltung als Wertkonflikt zwischen den Polen «Wahrung der Traditionen» und «Verbundenheit mit dem Kleinstaat Schweiz» einerseits und «Bereitschaft zu Reformen» sowie «aussenpolitische Öffnung» andererseits. Die beiden Spaltungen bilden ein neues Mobilisierungspotenzial für bestehende Parteien, haben aber in der Schweiz wie in den meisten europäischen Ländern auch zur Entstehung neuer Parteien wie der Grünen geführt.4

Die nachstehende Tabelle zeigt die Positionierung der wichtigsten Parteien in den alten und neuen gesellschaftlichen Spaltungen, wie sie vor allem für die Mobilisierung des eigenen Wählersegments in den Wahlen und Volksabstimmungen zum Ausdruck kommt. Das Schema mag als eine grobe Vereinfachung erscheinen, ist aber in vielfacher Hinsicht aufschlussreich. Zunächst wird darin sichtbar, dass die schweizerischen Parteien in der vielfältig segmentierten schweizerischen Gesellschaft das Konfliktpotenzial aus mehreren Spaltungen für ihre Mobilisierung nutzen. Dies bringt sie, sodann, nicht selten in ein Dilemma, wenn sich die Cleavages widersprechen. Soll beispielsweise die SP bei einer Umweltabgabe dem Interesse von Ökologie oder demjenigen an billigen Konsumentenpreisen den Vorzug geben? Oder im Fall der SVP: Kann dieselbe Partei zugleich für eine liberale Bankengesetzgebung und den Agrarprotektionismus eintreten? Solche Dilemmata können zum parteiinternen Konflikt führen oder auch dazu, dass eine der Spaltungen in Volksabstimmungen nicht thematisiert oder gar übertüncht wird. Aufschlussreich ist schliesslich, dass der sprachliche Graben von den Parteien nach Möglichkeit überbrückt wird: Sie vermeiden Parteinahmen zugunsten einer der Sprachgruppen, weil sich ihre Wählerschaft aus allen Sprachregionen rekrutiert. Die Parteien tragen damit gleichzeitig zur Vermeidung von Sprachenkonflikten bei.

Tabelle 4.1: Die Positionierung wichtiger Parteien in den alten und neuen gesellschaftlichen Spaltungen


FDPCVPSVPSPGrüne
Katholiken-Protestanten; Laizismus-KirchentreueLaizismusFrüher: katholisch Heute: kirchentreuLaizismusLaizismus
Deutschschweiz-Romandie
Stadt-LandStadtLandLandStadtStadt
Kapital-ArbeitKapitalKapital, gelegentlich ArbeitKapitalArbeitArbeit
Ökonomie-ÖkologieÖkonomieÖkonomieÖkonomieÖkologieÖkologie
Öffnung-AbgrenzungÖffnungÖffnung, gelegentlich AbgrenzungAbgrenzungÖffnungÖffnung, gelegentlich Abgrenzung

Lesebeispiel: In der Spaltung zwischen Kapital und Arbeit nehmen FDP, SVP und CVP zumeist für die Kapitalseite Partei, SP, Grüne und gelegentlich auch die CVP stehen hingegen für die Interessen der Arbeitnehmerschaft ein. Quelle: Linder, Zürcher und Bolliger (2008:73), Linder (2009)

Häufig wird gesagt, dass der Links-rechts-Gegensatz mit dem Ende des Klassenkampfs, der Wohlstandsentwicklung und der politischen Konkordanz seit den 1960er-Jahren obsolet geworden sei. Die politologische Forschung verweist diese Meinung in den Bereich des Wunschdenkens oder der Ideologie. Die Belege sind zahlreich, wonach der Links-rechts-Gegensatz (d. h. die ökonomische Konfliktlinie) bis heute die allgemeinste, eindeutigste und in vieler Hinsicht wichtigste politische Orientierung darstellt. Dies gilt auf allen Ebenen der politischen Willensbildung: für die Parlamentsfraktionen (Kerr 1981, Schwarz/Linder 2007), die Entscheidungsspitzen im vorparlamentarischen Verfahren (Kriesi 1980), die Parteikader (Ladner 2006) sowie die Parteiparolen und die Mobilisierung der Parteien bei Volksabstimmungen (Linder et al. 2008) und Wahlen (Brändle 1997, Lutz 2016). Auch für die Wählerschaft bleibt der Links-rechts-Gegensatz bis heute eine bedeutsame Orientierungsgrösse für den Wahlentscheid, wie bereits in Kapitel 3 gezeigt wurde.

Tabelle 4.2: Politische Links-rechts-Orientierung der Partei-Wählerschaften 2015


a) Wählerschaft der RegierungsparteienSPCVPFDPSVP
Links (0–2)53111
Gemässigt links (3–4)311661
Mitte (5)8341710
Gemässigt rechts (6–7)6354729
Rechts (8–10)2143059
Durchschnittswert auf 11er-Skala (0–10)2.65.96.67.6
b) Wählerschaft der NichtregierungsparteienGPSBDPGLP
Links (0–2)54410
Gemässigt links (3–4)341356
Mitte (5)93110
Gemässigt rechts (6–7)24322
Rechts (8–10)192
Durchschnittswert auf 11er-Skala (0–10)2.65.84.2

Quelle: Lutz (2016:23), Selects (2015). Lesebeispiel: Bei den Nationalratswahlen 2015 bezeichneten sich 53 % aller SP-Wähler als links.

Die allgemeine Links-rechts-Orientierung der gesamten Wählerschaft zeigt sodann eine hohe Ähnlichkeit mit der Lagerbildung, wie sie sich im Parlament in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen typischerweise abzeichnet: Unter den Regierungsparteien bilden FDP und SVP im Nationalrat zusammen mit der Zentrumsfraktion der CVP den bürgerlichen Mehrheitsblock. Diese bürgerliche Lagerbildung im Parlament repräsentiert die politischen Präferenzen ihrer Wählerschaft recht genau, wie Tabelle 4.2 zeigt. Ähnliches lässt sich für das nicht bürgerliche Minderheitslager sagen. Die SP erhält im Parlament vor allem die Unterstützung durch die Grüne Partei, die sich schon vor der Abspaltung grünliberaler Kräfte ebenso links wie die SP positionierte und dort auch ihre Anhängerschaft findet. Damit repräsentieren die typischen Lager- und Koalitionsbildungen der Parlamentsfraktionen die Links-rechts-Orientierung ihrer Wählerinnen und Wähler in auffallender Weise.

3. Die Neutralisierung des kulturell-konfessionellen Konflikts

Wie im zweiten Kapitel ausführlich dargestellt, konnte in der Schweiz der historische Kulturkampf-Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten erfolgreich überwunden und das Aufbrechen von Sprachkonflikten vermieden werden. Der Schlüssel zum Erfolg lag in der Beteiligung der konfessionellen und kulturellen Minderheiten an der politischen Macht. Die lateinischen Sprachgruppen waren von Anfang an im Bundesrat vertreten. Für die Integration der katholischen Minderheit spielte nicht nur die Regierungsbeteiligung eine Rolle. Ebenso wichtig waren die Veränderungen des politischen Katholizismus selbst und der säkulare gesellschaftliche Wandel. Auch ethisch-moralische Fragen polarisieren in Volksabstimmungen kaum mehr zwischen Protestanten und Katholiken; weit eher spielt eine Rolle, ob sich ein Stimmbürger als gläubig bezeichnet und aktiv an einer religiösen Gemeinschaft teilnimmt oder nicht.

 

Bei der Neutralisierung des kulturell-konfessionellen Konflikts haben aber auch die politischen Parteien eine Rolle gespielt. Im Gegensatz zu anderen multikulturellen Gesellschaften wie etwa in Belgien oder Kanada orientieren sich die Parteien in der Schweiz weder an sprachlichen noch an ethnischen Gruppierungen und nur wenig an den konfessionellen Minderheiten. Es gibt keine ethnisch-sprachliche Partei der Romands, auch wenn dies im Namen des MCR (Mouvement Citoyens Romand) so suggeriert wird. Auch finden wir als eine konfessionelle Partei die CVP, aber diese war nie die Partei aller Katholiken: In den katholischen Kantonen, welche im Kulturkampf für die gesellschaftlichen Vorrechte der Kirche eintraten, wurde die laizistische Gegenposition oft durch eine Koalition von Freisinnigen und Sozialdemokraten katholischer Konfession vertreten. Die schwache Organisierung der kulturell-konfessionellen Spaltung hat damit zum Gelingen des multikulturellen Experiments der Schweiz beigetragen. Die Neutralisierung der historisch wichtigen Spaltungen des Landes von Sprachkultur und Religion wurde nicht zuletzt darum möglich, weil sich die Parteien nicht als Sprachenparteien und nur wenig als Religionsparteien, sondern vor allem als nationale Parteien konstituierten. Die Erhaltung des Sprach- und Religionsfriedens bleibt allerdings eine dauernde Aufgabe.

Konfessionelle und sprachliche Spaltungen sind in der Stimmbürgerschaft nicht völlig verschwunden. Vor allem die sprachlich-kulturelle Konfliktlinie kann immer wieder verhaltenswirksam werden, wie dies die unterschiedlichen Abstimmungsergebnisse zwischen der Romandie und der Deutschschweiz belegen. Das augenfälligste Beispiel ist die Abstimmung über den EWR-Vertrag 1992, den die Romands mit 77 Prozent annahmen, die Deutschschweizer dagegen mit 54 Prozent Neinstimmen verwarfen. Diese Spaltung reichte tief bis in die zweisprachigen Kantone hinein, wo die deutschsprachigen Gemeinden verwarfen, die Nachbargemeinden französischer Zunge dagegen annahmen. Das Abstimmungsergebnis entfachte die Diskussion um den «Röstigraben», d. h. die sprachlich-kulturellen Differenzen zwischen den beiden Landesteilen, neu. Unterschiedliches Stimmverhalten beruht aber nicht immer auf kulturellen Gegensätzen, sondern auch auf unterschiedlichen wirtschaftlich-regionalen Interessen. Sodann wäre die kulturelle Spaltung politisch bedeutend konfliktträchtiger, wenn es z. B. eine «Romandie»- oder «Deutschschweizer-Partei» gäbe. Von Vorteil für die gesellschaftliche Integration des Landes bleibt darum die Tatsache, dass die Parteien den «Röstigraben» nicht politisch ausbeuten, sondern sich als nationale Parteien verstehen und politische Differenzen zwischen Deutschschweizern und Romands intern verarbeiten (Linder/Bolliger/Zürcher 2008).

Im Jahre 2009 nahmen Volk und Stände die SVP-«Minarettinitiative» an. Sie verbietet der muslimischen Minderheit – und nur dieser – den Bau von traditionseigenen Kultusgebäuden und ist damit diskriminierend. In ihrer Annahme drückten sich zwar vor allem diffuse Ängste gegen religiösen Fundamentalismus aus, der von den wenigsten Angehörigen der muslimischen Gemeinschaft geteilt wird, und viele Stimmbürger stimmten der Initiative als Protest gegen die Einwanderungsprobleme nicht religiöser Art zu. Sie zeigt aber, dass religiöser Friede und Toleranz vor allem auch gegenüber nicht christlichen Religionen verletzbar sind. Sie in der direkten Demokratie zu wahren und nicht für politische Zwecke aufs Spiel zu setzen, liegt nicht zuletzt in der Verantwortung der politischen Parteien.

C. Die föderalistische Fragmentierung

1. Das schweizerische Parteiensystem – eine prekäre Einheit?

Schweizerische Parteien sind seit Anbeginn geprägt von kantonalen Unterschieden politischer Kultur. Konfession, Sprache und Kantonsgrösse sind die entscheidenden Faktoren, welche die Ausprägung der kantonalen Parteisysteme beeinflussen und zu unterschiedlichen Typen von Parteiensystemen geführt haben. In den vorwiegend katholischen Kantonen war lange Zeit die CVP dominierende Regierungspartei, in den übrigen deutschsprachigen Kantonen sind oder waren es SVP oder FDP und in den Kantonen der französischen Schweiz sowie in Basel-Stadt die FDP oder die LPS. Grössere Kantone weisen eine grössere Zahl von Parteien aus. Typologisierungen kantonaler Parteiensysteme, wie sie etwa Klöti (1998), Vatter (2002) oder Ladner (2004b) erarbeiteten, sind angesichts des politischen Wandels wenig aussagekräftig geworden. Relevant bleibt aber die Frage, wie weit angesichts der föderalistischen Fragmentierung von einem gesamtschweizerischen Parteiensystem gesprochen werden kann. Denn wegen der kantonalen Unterschiede in der politischen Kultur ist mit Differenzen innerhalb derselben Landespartei zu rechnen, und wegen der politischen Autonomie der Kantone sind die Kosten der nationalen Integration und Kohäsion der Parteien hoch. Die Beurteilung der innerparteilichen Homogenität fällt je nach Blickwinkel unterschiedlich aus.

Kriesi (1995:144) sah im schweizerische Parteiensystem zu Beginn der 1990er-Jahre «kaum mehr als eine Föderation von kantonalen Parteien, die eine prekäre Einheit auf nationaler Ebene zu halten versuchen». Für diese Meinung sprechen zunächst die häufigen innerparteilichen Auseinandersetzungen über Programm, Politikstil oder Sachfragen. Dies zeigt sich z. B. innerhalb der SP, in welcher die Romandie etatistischer politisiert als die Deutschschweiz, oder in den Abspaltungen von BDP und GLP. Sodann gab es früher strukturelle Gründe für die «prekäre Einheit» der Parteien. Erstens fand nur beschränkt eine politische Wahlkonkurrenz auf nationaler Ebene statt. Eher waren eidgenössische Wahlen gleichzeitig stattfindende kantonale Wahlen in das nationale Parlament. Parteien mussten sich zuerst an den politisch-kulturellen Gegebenheiten in den einzelnen Kantonen ausrichten. Zweitens fehlten ohne substanzielle Finanzierung durch den Bund Anreize zur Zentralisierung der politischen Parteien. Drittens verfügen die Parteiorganisationen über keine zentralisierte innere Struktur, welche der nationalen Parteiebene Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den kantonalen und lokalen Parteisektionen verleihen würde.

Heute nun müssen alle drei Argumente relativiert werden. Zunächst haben sich die Wahlkampagnen mit dem Fernsehen und zunehmend auch dem Internet stark auf die sprachregionale, wenn nicht gar nationale Ebene verlagert, und einzelne Parteien wie SP oder GPS treten äusserst homogen auf. Auch ausserhalb von Wahlzeiten bemühen sich Parteien – vor allem in der Sonntagspresse und am Fernsehen – stark um einen einheitlichen Auftritt in ihren Kernfragen. Betrachtet man alle Parteien, so findet man Angleichungen vor allem in den organisatorischen Strukturen und in der Mobilisierung durch Internet und social media. Relativ homogen ist die Wählerschaft der Parteien. Schon in den 1990er-Jahren zeigten Vergleichsstudien, dass die Parteien über eine Wählerschaft verfügen, die landesweit recht homogen ist hinsichtlich ihrer politischen Grundorientierung (Klöti/Linder 1998:300). Im internationalen Vergleich scheint sich die Segmentierung der Parteien in der Schweiz nicht wesentlich stärker auszuwirken als in anderen föderalen Systemen (Armingeon 1998:273). Die Einheit des schweizerischen Parteiensystems dürfte also insgesamt weniger prekär sein, als Kriesi seinerzeit vermutete. Daran hat auch die direkte Demokratie ihren Anteil: Volksabstimmungen beim Bund bilden die einzigen, aber wichtigen Ereignisse, in denen alle Parteien gesamtschweizerische Parolen ausgeben und die gesamte Stimmbürgerschaft in der gleichen nationalen Streitfrage für sich zu gewinnen versuchen.

2. Föderalistische Organisation, innerparteiliche Willensbildung und Finanzierung

Organisatorisch folgen die Parteien dem föderalistischen Staatsaufbau. Die meisten Parteien verfügen über vereinsmässige Organisationen auf Gemeinde-, Bezirks-, Kantons- und Bundesebene, die sich vor allem mit den Aufgaben der jeweiligen Staatsebene beschäftigen. Vollversammlungen auf lokaler, Delegiertenversammlungen auf kantonaler und Bundesebene prägen die Willensbildung von unten nach oben sowie die Kontakte mit den Mandatsträgern. Zu den politisch relevantesten innerparteilichen Entscheidungen gehört die Aufstellung der Wahllisten und die Bezeichnung der Kandidatinnen für die politischen Ämter. Von Bedeutung für die Kohärenz der Parteien sind die nationalen Parteikongresse, an denen neben aktuellen Stellungnahmen, Wahlplattformen und Wahlvorschlägen auch die Parteiprogramme verabschiedet werden. Die eigentlichen Kompetenzen der Zentralorgane sind gering; so sind die Kantonalparteien an die Stellungnahmen der Bundesparteien zu eidgenössischen Abstimmungen nicht gebunden und können abweichende Parolen fassen. Die Autonomie der kantonalen Parteien ist sakrosankt. Sie geht so weit, dass einzelne Bundesparteien nicht einmal über Einsicht in die kantonalen Mitgliederdateien verfügen. Dezentrale Struktur und die direkte oder indirekte Mitwirkung der Mitglieder an den wichtigen Geschäften aller Stufen prägen damit die föderalistisch-demokratische Entscheidungsstruktur der Parteien.

Entsprechend der dezentralen Organisation ist der Professionalisierungsgrad gering. Vollberufliche Kräfte setzen die Parteien allenfalls für administrative Aufgaben ein; für die politische Arbeit fehlen sie zumeist. Im europäischen Vergleich gehören die schweizerischen Parteien zusammen mit den britischen und den holländischen zu jenen, die am wenigsten auf staatliche Unterstützung zählen können. Die Beiträge an die Parlamentsfraktionen und -mitglieder sind die einzigen Grundbeiträge des Bundes. Die Zuwendungen von 7,6 Millionen Franken (2015) bestehen aus einem Sockelbeitrag und einem proportionalen Beitrag nach Fraktionsgrösse.5 Darüber hinaus haben sich die Parteien weitgehend selbst zu finanzieren, was bei steigenden Wahlausgaben zur periodischen Verschuldung einzelner Parteien führt. Da die Schweiz im Übrigen keine staatliche Parteienfinanzierung kennt, sind die vereinsrechtlich organisierten Parteien über ihre Finanzen keine öffentliche Rechenschaft schuldig. Die eigenen Angaben der Parteien über ihre Finanzen sind unvollständig und nicht überprüfbar; insbesondere schweigen sie sich über die Herkunft grösserer Spenden aus.

Das gilt auch für die Finanzierung ihrer Abstimmungs- und Wahlkampagnen. Eine Studie von MediaFocus zeigt, dass die SVP wie schon 2011 auch vor den Wahlen 2015 weitaus am meisten Geld in die Werbung steckte, nämlich 10,6 Millionen Schweizer Franken (2011: 12,4 Mio.). Die FDP gab mit 9,1 Mio. (8,2) am zweitmeisten aus, mit einigem Abstand folgten die CVP mit 3,3 Mio. (4,9) und die SP mit gerademal 2,5 Mio. (3,1).6

Neben der Höhe weist auch die Herkunft der Einnahmen grössere Unterschiede zwischen den Parteien auf. Bei den links-grünen Parteien, welche weniger auf Zuwendungen aus der Wirtschaft zählen können, spielen einkommensabhängige Mitgliederbeiträge und Abgaben der Mandatsträger eine wichtige Rolle und machen oft mehr als die Hälfte der Einnahmen aus. Bürgerliche Parteien beziehen demgegenüber einen Grossteil ihrer Einnahmen aus Spenden aus der Wirtschaft oder von Privatpersonen. Sie unterhalten dazu Fördervereine, die formell autonom sind und deren einziger Zweck in der Geldbeschaffung für eine Partei liegt.

Gegenüber allen obigen Ausführungen erweist sich die SVP in verschiedener Hinsicht als Sonderfall. Ihr Aufstieg war begleitet von einer informellen Zentralisierung, die einen radikalen Bruch mit dem schweizerischen Parteiföderalismus bedeutete: Christoph Blocher, Unternehmer, Financier und politischer Anführer in einem, bestimmte in kleinem Kreise Strategie und Taktik der Partei und setzte diese selbst gegen die Widerstände von ganzen kantonalen Parteien durch. In Sachen Professionalisierung politischer Arbeit und medialer Präsenz bis hin zu eigenen TV-Sendungen und neuerdings auch nahestehenden Tages- und Wochenzeitungen (Basler Zeitung, Weltwoche) liess die SVP die anderen Parteien weit hinter sich. Zentralistische politische Führung wurde verbunden mit intensiver Basisarbeit: Im Zeitalter der Parteiverdrossenheit gelang es ihr, mit der Gründung von Dutzenden Lokalsektionen in allen Landesteilen und in den ehemaligen CVP-Kantonen Fuss zu fassen. Auch finanziell wurde die Partei unter dem System Blochers zum Sonderfall, indem sie gezielt in Abstimmungskampagnen in den beiden Bereichen Aussenbeziehungen und Migration investiert. Zwischen 2005 und 2011 summierten sich die Ausgaben der Partei so auf 12 Mio. Schweizer Franken – das Doppelte von dem, was die anderen drei Regierungsparteien zusammen ausgaben (Hermann 2012:13f.).

 

Die ungleich langen Spiesse in der Parteienfinanzierung führen zu Verzerrungen im politischen Wettbewerb, sind aber nicht das einzige Problem. Ebenso wichtig ist – oder wäre vielmehr – die Transparenz der Finanzierung. Einer Regelung der Parteienfinanzierung war bisher wenig Erfolg beschieden (Gernet 2011),7 obwohl ihre fehlende Transparenz Gegenstand vieler parlamentarischer Vorstösse war. Kritik an der intransparenten Buchführung und Finanzierung kommt heute auch von aussen, etwa von der OECD (2007) und der Korruptionsbehörde des Europarates (2011).8 Während sich die bürgerlichen Parteien immer noch gegen Regeln zur Parteienfinanzierung sperren, sorgen immerhin einzelne potente Geldgeber für Transparenz: Die Raiffeisenkassen und die Mobiliarversicherung gehörten zu den Ersten, welche Spenden an die (Bundesrats-) Parteien öffentlich ausrichten, und zwar proportional nach deren Parlamentsmandaten.9 Das kann auch zu vermehrter Transparenz der Beschenkten führen: Die Parteien sehen sich zur Stellungnahme gezwungen, ob sie die Beiträge annehmen wollen oder nicht. Im September 2015 kaufte die SVP die ganze erste Seite des meistgelesenen Blattes der Schweiz, 20 Minuten, für ihre politische Propaganda im Wahlkampf – eine Aktion, die ausserhalb der finanziellen Möglichkeiten der anderen Parteien lag und die Ungleichheit der Ressourcen belegt.

3. Unterschiedliche Verbreitung und Mehrheitsverhältnisse in den Kantonen

Während Kleinparteien in einzelnen Kantonen gar nicht Fuss fassen können, sind selbst die nationalen Regierungsparteien in den einzelnen Kantonen ganz unterschiedlich verbreitet. Entweder erreichen sie nur eine kleine Wählerschaft und müssen sich mit einem Aussenseiterstatus ohne Regierungsfähigkeit begnügen (wie die SP seit 2008 in Schwyz, seit 2014 in Glarus oder seit 2015 in Luzern), oder sie haben während Jahrzehnten eine dominierende Mehrheitsstellung gehalten, wie die CVP in den historischen Sonderbundskantonen Luzern, Obwalden, Nidwalden, Uri, Schwyz, Zug, Wallis und Freiburg sowie in Appenzell Innerrhoden und St. Gallen oder die FDP in Solothurn und Appenzell Ausserrhoden. Nationale Kleinparteien, die in vielen Kantonen fehlen, erreichten in einzelnen Kantonen beachtliche Wähleranteile und regieren mit, wie seinerzeit die Liberalen und die Partei der Arbeit in Basel, Genf und der Waadt. Das führte zu Parteiensystemen mit unterschiedlichem politischem Wettbewerb und unterschiedlichen Koalitionsverhältnissen. In den ehemals zahlreichen Kantonen mit CVP-Dominanz gab es häufige Absprachen zwischen FDP und SP zur Durchsetzung laizistischer Postulate oder gar Wahlabsprachen zum Aufbrechen des CVP-Monopols. Von der SP dominierte Parteiensysteme sind dagegen selten (z. B. Neuenburg, Basel-Stadt und die Waadt). Volksrechte und freiwilliger Proporz der Volkswahl haben allerdings früher als im Bund zum Einbezug der Sozialdemokratie in viele Kantonsregierungen geführt.

Aufgrund der Wahlstärken sind bürgerlich dominierte Kantonalregierungen die Regel. Links-grüne Mehrheiten, früher selten, sind inzwischen häufiger anzutreffen (Basel-Stadt 2004–, Genf 2005–09, Bern 2006–16, Waadt 2011–, Neuenburg 2013–,) bleiben aber insgesamt die Ausnahme. Zu einer mehrheitsfähigen linken Lagerbildung kommt es dagegen häufiger in den Städten, wo sich ein grösseres Wählerpotenzial linker und grüner Parteien konzentriert. Zürich, Winterthur, Genf, La Chaux-de-Fonds, Biel, Bern und Lausanne sind neben Basel als Stadtkanton Beispiele aus jüngerer Zeit, wo die SP zusammen mit kleineren Links- und Mitteparteien Regierungsmehrheiten erreichte.

Nicht überall führt der freiwillige Proporz zu All-Parteien-Regierungen. Ist eine der Polparteien schwach, so kommt es zu Mitte-rechts-Regierungen wie in Luzern, Schwyz, Obwalden, Nidwalden und Glarus oder zu Mitte-links-Regierungen wie in Freiburg oder Jura. Mitte-links-Regierungen unter Ausschluss einer rechtsbürgerlichen Partei waren selten, solange der Bürgerblock als Einheit funktionierte. Die Erklärung liegt darin, dass der freiwillige Proporz auf der Wahlabsprache der Parteien beruht. Dabei sind volle und allseitige Absprachen selten. In der Regel kooperierten die bürgerlichen Parteien untereinander und überliessen dem nicht bürgerlichen Lager einen Teil der Sitze entsprechend ihrer Stärke. Zu dieser Strategie der Konkordanz der bürgerlichen Mehrheit kam es dann, wenn der Vorteil politischer Integration grösser erschien als der Nachteil des Machtverzichts. War dies nicht der Fall, so konnte eine kooperierende bürgerliche Mehrheit auch eine starke SP aus der Regierung werfen wie in Genf 1993. Solche Konstellationen waren möglich, weil sich die bürgerlichen Parteien untereinander näherstanden als der SP.

Die grösste Regelmässigkeit der kantonalen Parteisysteme war lange Zeit in der Links-rechts-Polarität zu sehen. Sie zeigte sich darin, dass bürgerliche Parteien selbst bei grösster Varianz ihrer relativen Wahlstärken darauf achteten, ihr gemeinsames, gegenüber dem linken politischen Lager grösseres und homogeneres Wahlpotenzial als funktionsfähige Mehrheitskoalition auf Parlaments- und Regierungsebene umzusetzen. Dies hat sich mit den Wahlerfolgen der SVP auf Kosten von FDP und CVP und der Spaltung des bürgerlichen Lagers geändert. Traditionelle Wahlbündnisse (so beispielsweise im Kanton Zürich zwischen SVP und FDP) wurden aufgekündigt oder blieben von der bürgerlichen Wählerschaft unbeachtet. So bestritt die SVP häufig Wahlen im Alleingang; der Gewinn an Wählerstimmen zahlte sich in den Proportionalwahlen in die Kantonsparlamente aus, nicht aber in den Majorzwahlen der Kantonsregierungen, wo die SVP zurzeit in etwa der Hälfte der Kantone überhaupt nicht vertreten ist.

D. Der Einfluss des Wahlsystems

1. Die Grundidee von Majorz- und Proporzwahl

Proporz- und Majorzwahlsystem verfolgen zwei unterschiedliche Grundideen. Beim Majorz geht es darum, eindeutige Mehrheitsverhältnisse im Parlament oder für die Bestellung der Regierung zu begünstigen. Dies kann durch das Erfordernis erreicht werden, dass zur gültigen Wahl das absolute Mehr der abgegebenen Stimmen erreicht werden muss. Eine Partei mit 51 Prozent Wähleranhang hat dann theoretisch die Chance, z. B. alle Sitze einer Kantonsregierung zu besetzen, während eine zweite Partei leer ausgeht, selbst wenn 49 % der Wählerinnen ihre Kandidatinnen unterstützen (the winner takes it all). Erfolgt die Wahl in Einerwahlkreisen wie z. B. im britischen Parlament, so gewinnt die relativ grösste Partei10 das Mandat, während alle anderen Parteien leer ausgehen. Kleinere Parteien haben in der Regel nur in wenigen Wahlkreisen eine echte Gewinnchance, sodass grössere Parteien die Aussicht haben, auch mit weniger als 50 Prozent der Wählerstimmen komfortable Mehrheiten im Parlament zu erreichen. Konkurrieren zwei annähernd gleich starke Parteien, so genügt ein Wechsel von wenigen Prozenten der Wählerschaft, um die Mehrheitsverhältnisse im Parlament umzukehren. Solche «starken» Wahlsysteme sollen also nicht nur zu entscheidungsfähigen Mehrheiten in Parlament und Regierung führen; sie stimulieren bei Konkurrenz unter wenigen und annähernd gleich starken Parteien auch den demokratischen Machtwechsel, wie wir das in Grossbritannien sehen können.

Bei Proporzsystemen hingegen geht es darum, die Wählerstärke der Parteien im Parlament möglichst genau abzubilden. Dies wird durch die Einrichtung von Wahlkreisen geschaffen, in denen eine grössere Zahl von Kandidaten zu wählen ist. Die Zahl der Mandate wird den Parteien proportional zu den erreichten Stimmen zugeteilt. Damit kommen die kleinen Parteien zum Zug, die im Majorzsystem leer ausgehen, und das Parlament repräsentiert auch die Minderheiten der Wählerschaft.

In der Schweiz kommen beide Systeme zum Zug: der Majorz bei der Bestellung des Ständerats (mit Ausnahme der Kantone Jura und Neuenburg) und der Kantonsregierungen (Ausnahme: Tessin), der Proporz bei der Wahl des Nationalrats in den Kantonen mit mehreren Sitzen und der kantonalen Parlamente (Ausnahmen: beide Appenzell, Uri und Graubünden). Die nähere Ausgestaltung des Majorzsystems in den Kantonen, vor allem aber die Praxis des freiwilligen Proporzes führen dazu, dass die idealtypisch scharf kontrastierenden Auswirkungen der Majorz- und Proporzregel gemildert und einander angenähert werden.

2. Die Auswirkungen der Proporzregel

Die Proporzwahl in den Nationalrat wurde 1919 nach zwei vergeblichen Anläufen und heftigem politischem Kampf durch eine Volksinitiative der Konservativen und Sozialdemokraten eingeführt. Die Folgen dieses Systemwechsels vom Majorz auf den Proporz waren dramatisch. Der Freisinn verlor die absolute Mehrheit im Nationalrat, die er seit 1848 ununterbrochen innegehabt hatte, und fiel von 104 auf 58 Sitze zurück. Die Sozialdemokraten, deren Stimmkraft in den Städten oft durch freisinnige «Wahlkreisgeometrie» neutralisiert wurde, steigerten sich von 19 auf 41 Sitze und zogen mit den Konservativen gleich. Die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, heute SVP) als deutschschweizerische Abspaltung vom Freisinn nutzte die Chancen des neuen Wahlsystems und zog gleich mit 31 Vertretern ins Parlament ein. Auf Liberale und Übrige entfielen noch je 9 der 189 Sitze. Die proportionale Bestellung des Nationalrats bedeutete das Ende der freisinnigen Mehrheitspolitik.

Perfekte Proporzsysteme gibt es allerdings nicht, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist jedes Proporzsystem mit dem Problem der sog. Restmandate konfrontiert: Teilansprüche auf ein Mandat müssen in irgendeiner Art einer Partei voll zugeteilt werden, was je nach der anzuwendenden Verteilungsmethode zur Bevorzugung kleinerer oder grösserer Parteien führt. Von bedeutsamerer Auswirkung ist zweitens die Grösse der Wahlkreise bzw. die Zahl der auf sie entfallenden Mandate: Je kleiner der Wahlkreis, umso höher muss der Anteil von Wählerstimmen sein, damit eine Partei einen sicheren Sitz erreicht (sog. Erfolgswert, vgl. Grafik 4.2). Dieses zweite Problem führt dazu, dass sich der Proporzgedanke in der Schweiz nur unvollständig realisieren lässt, weil die Bevölkerungsgrösse der Kantone und damit die Zahl der Mandate eines Kantons stark variieren. Im Kanton Zürich mit seinen 35 Sitzen genügen knapp 3 % der Stimmen,11 um einer Partei einen Sitz zu garantieren. In den beiden Kantonen SH und JU mit zwei Nationalratssitzen dagegen muss eine Partei 33,3 Prozent der Stimmen erreichen, um einen Sitz zu erlangen. Das benachteiligt die kleinen Parteien, und das Wahlsystem nähert sich dem Majorz.12