Schweizerische Demokratie

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Grafik 4.2: Der Zusammenhang zwischen Wahlkreisgrösse und Erfolgswert der Stimmen (Prozenthürde) im Nationalratsproporz, 2015


Die Probleme der Reststimmen und des ungleichen Erfolgswerts der Stimmen sind systembedingt. Es gibt aber Ausgestaltungen des Proporzes, die politisch ausdrücklich beabsichtigt sind. So kennen vor allem die Kantone der Romandie ein Quorum von fünf, sieben oder gar zehn Prozent (Neuenburg), um die Parteienproliferation zu vermeiden. Quoren oder hohe Erfolgswerte werden aber oft umgangen durch die Erlaubnis von Listenverbindungen.13 Kantone und Gemeinden sind in der Ausgestaltung ihrer Wahlsysteme nicht mehr ganz frei. Das Bundesgericht hat in verschiedenen Urteilen Erfolgswerte von über 10 Prozent als mit der Proporzwahl unvereinbar erklärt. Damit gelten auch Wahlkreise mit weniger als neun Sitzen als verfassungswidrig.14 In der Folge wechselten mehrere Kantone (ZH, AG, SH, NW, SZ, ZG) sowie die Stadt Zürich zum «Doppelten Pukelsheim», einem System der Sitzzuteilung, das kleine Parteien trotz Beibehaltung der bisherigen Wahlkreise nicht benachteiligt.15

Kumulieren (das doppelte Aufführen einer Kandidatin auf einer Liste) und Panaschieren (die Übertragung parteifremder Kandidaten auf eine Parteiliste) beeinflussen die Wahlstärken wenig. Sie erlauben aber den Wählerinnen und Wählern, Partei- und Persönlichkeitspräferenzen auf jede erdenkliche Weise zu kombinieren. Eine besondere Form der Listenverbindung stellen getrennte Frauen- und Männerlisten derselben Partei dar. Sie verbessern unter bestimmten Bedingungen die Chancen gleicher Geschlechtervertretung und werden von einzelnen Parteien als Instrument der politischen Frauenförderung genutzt.16

3. Die Auswirkungen der Majorzregel

Die Majorzregel kommt in allen Kantonen, mit Ausnahme der Kantone Jura und (seit 2011) Neuenburg, für die Ständeratswahlen zur Anwendung.17 Dies bedeutet, dass eine Kandidatin im ersten Wahlgang 50 %+1 der abgegebenen Stimmen erreichen muss. Wird das absolute Mehr – wegen Zersplitterung auf mehrere Kandidaten – nicht erreicht, so entscheidet im zweiten Wahlgang das relative Mehr. Dies hat eine doppelte Folge. Erstens kann eine Partei, falls sie mindestens 50 Prozent der Wählerstimmen erreicht, gleich beide Mandate besetzen (the winner takes it all). So stellt die SVP in Schwyz zum Beispiel beide Ständeräte. Zweitens kann keine Partei, falls sie die 50 Prozent an Wählerstimmen nicht erreicht, aus eigener Kraft auch nur einen Sitz erringen. Eine solche Partei sucht Wahlabsprachen mit einer andern Partei: durch die gegenseitige Unterstützung der beiden Kandidaturen, also mit einem «Wahlticket»,18 kann es gelingen, das absolute Mehr zu erreichen. Neben Kandidaturen, die andere Zwecke als die eigentliche Wahl verfolgen, sind daher folgende Konstellationen möglich:

a. eine Mehrheitspartei sucht beide Sitze zu gewinnen;

b. eine Mehrheitspartei überlässt – im Sinne einer «gemischten Strategie» – einer anderen Partei einen Sitz;

c. zwei oder mehrere Parteien, die zusammen 50 Prozent erreichen, vereinbaren ein gemeinsames Wahlticket für die beiden Sitze;

d. die Einzelkandidatur einer Partei bekämpft das Wahlticket anderer Parteien;

e. zwei Lager, deren Parteien gemeinsam je 50 Prozent der Stimmen zu erreichen suchen, vereinbaren je ein Ticket.

Gäbe es in den Kantonen z. B. vier Parteien gleicher Stärke, so wären nur die Strategien c und e aussichtsreich. Hätten diese Parteien zudem die gleiche Sympathie bzw. Antipathie füreinander, so wären sie – trotz der Majorzregel – wegen gleicher Wahrscheinlichkeit der Koalitionen auch etwa gleichmässig im Ständerat vertreten. Dies ist nun bekanntlich nicht der Fall. Unter den vier Regierungsparteien waren die bürgerlichen Parteien zumeist über- und die Sozialdemokraten während langer Zeit massiv untervertreten.

Die Gründe für die Übervertretung der Bürgerlichen lagen nicht im Majorzsystem selbst, sondern in den unterschiedlichen Chancen bürgerlicher und nicht bürgerlicher Parteien, unter den gegebenen kantonalen Wahlstärken durch die oben genannten Strategien eine Mehrheitsstellung zu erreichen. Historisch gab es nur für die beiden Parteien CVP und FDP Mehrheitsstellungen in den Kantonen. Nur sie haben in früherer Zeit Strategie a ausnützen können oder sich mit Strategie b begnügt. In den meisten Kantonen braucht es eine gegenseitige Unterstützung von zwei Parteien, um in die Erfolgszone von 50 Prozent der Stimmen zu gelangen. Nun standen sich zu den Zeiten des ungeteilten Bürgerblocks die bürgerlichen Parteien untereinander näher – die Wahlabkommen wurden vor allem unter ihnen und unter Ausschluss der Sozialdemokraten getroffen. Strategie c war darum die häufigste, weil aussichtsreichste Gewinnstrategie für die Bürgerlichen. Dank der Affinität ihrer Parteibasis liess sich die 50-Prozent-Hürde im Ticket zumeist mühelos erreichen. Die Sozialdemokraten hingegen waren zumeist auf Strategie d verwiesen, was diesen wenig Chancen im Alleingang liess.19 Mit dem Aufstieg der Grünen eröffneten sich für die SP bessere Möglichkeiten, einen Koalitionspartner aus dem nicht bürgerlichen Lager zu finden und damit ebenfalls die theoretisch aussichtsreichere Strategie c eines Tickets zu fahren. Allerdings fehlte auch dann in vielen Kantonen das erforderliche Stimmenpotenzial von 50 Prozent, um mit der Strategie e das bürgerliche Ticket erfolgreich herauszufordern (vgl. das Beispiel in Kasten 4.1). Mit der Spaltung des Bürgerblocks hat sich diese Situation stark verändert. Die SVP vergraulte mit ihren Attacken die bürgerlichen Koalitionspartner und wurde isoliert; die traditionellen bürgerlichen Wahltickets mit der SVP wurden in vielen Kantonen aufgekündigt. Wo es keine traditionelle und erfolgreiche CVP-FDP Tickets gibt, zogen die bürgerlichen Parteien je allein in die Majorzwahlen (Strategie d), was die Chancen für links-grüne Sitzgewinne oder von Kleinparteien erhöhte. Die Folgen zeigten sich deutlich bei der Ständeratswahl 2015: Mit einem Wähleranteil von zusammen 28 Prozent behielten CVP und FDP mit 26 Sitzen eine Mehrheit (56,5 Prozent) in der kleinen Kammer; SP und Grüne sind mit 13 Sitzen gegenüber ihrer kombinierten Wahlstärke bei den Nationalratswahlen (26 Prozent) leicht übervertreten. Die SVP dagegen blieb bei ihren fünf Sitzen und ist damit als stärkste Schweizer Partei so krass untervertreten wie früher die SP. Dass ihr «Sturm aufs Stöckli» erneut misslang, hatte nicht nur mit der fehlenden Allianzfähigkeit der SVP zu tun. In der Strategie d (Einzelkandidatur) gegen andere, insbesondere schwache oder fehlende Tickets, wird der Persönlichkeitsfaktor wichtiger. Das war für kantige Rechtspolitiker der SVP von Nachteil, für Kandidaturen kleinerer Mitteparteien (BDP, GLP) hingegen von Vorteil.

Diese Folgen der Majorzregel sind bei der Wahl der Kantonsregierungen durch den «freiwilligen Proporz» deutlich gemildert. Wahlabsprachen unter den Bürgerlichen – seit jeher ein Mittel zur Risikominderung in der Volkswahl – wurden in einzelnen Industriekantonen schon vor mehr als 100 Jahren20 zum freiwilligen Proporz unter Einbezug der SP erweitert: Das bürgerliche Lager beansprucht nicht alle Sitze, sondern überlässt der linken Minderheit einen proportionalen Teil der Mandate im Sinne der Strategie b zur Besetzung. Die Majorzwahl der Kantonsregierungen ist damit annäherungsweise zur faktischen Proporzwahl geworden und seit den 1930er-Jahren vermehrt auch eine Strategie zur politischen Integration der Sozialdemokraten. Dies hat zwar, wie oben ausgeführt, die Lagerpolitik nicht verhindert, aber überbrückt und gemildert. Es gibt zwei Hauptgründe dafür. Erstens ist der freiwillige Proporz wie bereits angedeutet eine Risikominderungsstrategie. Daran haben alle Parteien in der Regel ein gemeinsames Interesse, weil mit der Volkswahl ungewisse Risiken für ihre Kandidaten vorhanden sind: Auch verdiente Regierungsräte können in einer Majorzwahl durchfallen. Diese Risikominderungsstrategie muss aber alle Regierungsparteien ungeachtet ihrer ideologischen Ausrichtung einbeziehen, um wirksam zu sein. Mit der proportionalen Vertretung aller grösseren Parteien wird zweitens die Legitimation der kantonalen Regierungen und ihre Durchsetzungsfähigkeit im Parlament sowie bei Referenden gestärkt, was der politischen Integration wie der Stärkung der kantonalen Autonomie dienen kann. Machtteilung und proportionale Vertretung in der Regierung sind damit – früher noch als beim Bund – zu einem wichtigen Bestandteil politischer Kultur vieler Kantone geworden.

Kasten 4.1: Auswirkung von Proporz und Majorz am Beispiel der National- und Ständeratswahlen 2011 im Kanton Bern

Im Kanton Bern waren 2011 26 Nationalratsmandate zu vergeben. An der Wahl beteiligten sich 12 Parteien mit mehreren Hundert Kandidatinnen und Kandidaten. Für diese wurden insgesamt 9 189 523 Stimmen abgegeben. Nach den gesetzlichen Proporzregeln war diese Summe durch die um eins vermehrte Zahl der Mandate zu teilen (26+1=27). Mit 1/27 oder 3,7 Prozent der Stimmen, entsprechend einer Verteilungszahl von 340 352, war ein Vollmandat zu holen – ein Erfolgswert, den die CVP, PdA, EDU und SD nicht erreichten. Jeder Liste oder Listenverbindung wurden so viele Mandate zugeteilt, wie die Verteilungszahl in ihrer Stimmenzahl enthalten war. Für die verbleibenden Restmandate waren zusätzliche Verteilungen vorzunehmen: Die Stimmenzahl jeder Liste wurde durch die um eins vermehrte Zahl ihrer schon zugewiesenen Mandate geteilt. Der Liste, die dabei die grösste Zahl erreichte, wurde ein weiteres Mandat zugeteilt. Dieses Verfahren wurde wiederholt, bis alle Mandate verteilt waren. Das Ergebnis zeigte sich wie folgt:

 

Das Ziel der Proporzwahl, nämlich die möglichst getreue Abbildung der Wählerstärken in der Verteilung der Mandate, wurde hier in etwa erreicht, und zwar für die einzelnen Parteien wie für die drei Wählerblöcke mit ähnlichen politischen Präferenzen. «Proporzglück» und «Proporzpech» spielten bei dieser Wahl keine grosse Rolle, hingegen brachte eine umfassende Listenverbindung mit allen grün/linken Kleinparteien der SP und den Grünen zwei zusätzliche Mandate.

Ziehen wir nun den Vergleich mit der Majorzwahl für die beiden Ständeratssitze. Nach bernischer Majorzregel wird die Zahl der Kandidatenstimmen durch die Zahl der zu vergebenden Sitze und dann durch zwei geteilt; die nächsthöhere Zahl bildet das absolute Mehr. Erreicht einer oder erreichen beide Kandidaten das absolute Mehr nicht, findet ein zweiter Wahlgang statt, bei dem das relative Mehr gilt.

Traditionell waren Berner Ständeratswahlen Blockwahlen: SVP und FDP verfügten zusammen über einen Wähleranteil von über 40 Prozent. Das gemeinsame Ticket verhalf ihnen dank gegenseitiger Unterstützung regelmässig zu beiden Sitzen. So auch 1995, als Zimmerli (SVP) und Beerli (FDP) gewählt wurden, während der ebenso bekannte SP-Kandidat Strahm auf der Strecke blieb, obwohl seine Partei mit 25 % Wähleranteil fast ebenso stark wie die SVP (26 %) und bedeutend stärker als die FDP (16 %) war. Das Beispiel zeigt, dass es nicht allein auf die «Hausmacht» einer Partei ankommt, sondern noch mehr auf die Bildung eines chancenreichen Tickets (Strategie c oder e). Damit konnten SVP und FDP dank gegenseitiger Unterstützung und weiterer (bürgerlicher) Stimmen ihr gemeinsames Wählerpotenzial auf die sichere Seite von mehr als 50 % erweitern. Auf der anderen Seite konnte Strahm auch im Alleingang (also mit der schwachen Strategie d) das Wählerpotenzial aller Links/Grün/Mitte-Parteien von 36 % mobilisieren. Aber es fehlten rund 12 % oder 25 000 Zusatzstimmen, um eine der bürgerlichen Kandidaturen zu gefährden.

Den Kontrast dazu bildet die Ständeratswahl 2011. Ein SVP-FDP-Ticket kam nicht mehr zustande; dafür kämpfte die BDP für die Wiederwahl ihres Bisherigen, der 2007 noch als Vertreter der SVP gewählt worden war. So verteilten sich die bürgerlichen Stimmen auf drei Parteien, die je einzeln in den Wahlkampf gegen ein Ticket von SP und Grünen antraten. Kein Kandidat erreichte das absolute Mehr im ersten Wahlgang. In der Stichwahl mit relativem Mehr standen sich Amstutz (SVP) und Luginbühl (BDP), beide bisher, sowie Stöckli (SP) gegenüber. Amstutz fiel trotz grösster Hausmacht durch. Als Vertreter einer isolierten Partei erhielt er auch aus dem bürgerlichen Lager wenige Zusatzstimmen, die dafür auf die Vertreter von BDP und SP fielen. Das Rennen «jeder gegen jeden» (Strategie e) war auch eine Persönlichkeitswahl: Amstutz galt als kantig, Luginbühl dagegen war als glaubwürdiger Vertreter der politischen Mitte von allen Seiten wählbar. Stöckli schliesslich konnte nicht nur auf das Stimmenpotenzial der Grünen zählen, sondern war als konzilianter SP-Vertreter auch für Bürgerliche wählbar. Schwache oder fehlende Tickets führen also vermehrt zu Persönlichkeitswahlen.

4. Ergebnis und Diskussion

Geschichtlich lassen sich zwei grosse Trends herauslesen. Erstens: Das Wahlrecht in Bundesstaat und Kantonen war ursprünglich auf den Majorz und die Idee der Mehrheitsdemokratie ausgelegt. Es begünstigte Hegemoniestellungen einzelner Parteien wie des Freisinns im Bund. Erst im 20. Jahrhundert wird der Majorz durch den Proporz abgelöst oder zur freiwilligen Proporzwahl umgestaltet. Dies bildet ein wichtiges Element in der Entwicklung zur Konkordanz- bzw. Konsensdemokratie. Zweitens: Die Proportionalisierung auf Ebene des Wahlsystems findet zwei Grenzen. Die eine bildet der Föderalismus. In den acht Kleinkantonen mit einem oder zwei Nationalratssitzen kommen Parteien mit weniger als 50 bzw. 33 Prozent Stimmenanteil für sich allein in der Regel kaum zum Zug. Die Zusammenlegung solcher Kantone zu einem grösseren Wahlkreis, was zu echteren Proporzwahlen führen würde, dürfte im Kantonsföderalismus allerdings kaum Chancen haben. Sodann findet die Proportionalisierung politische Grenzen. Das schweizerische Parteiensystem ist geprägt von einem «polarisierten Pluralismus», der während Jahrzehnten in ein grösseres bürgerliches und ein kleineres, heute links-grünes Lager geteilt war. In dieser politischen Konstellation – aber nicht wegen des Wahlrechts an sich – blieb die politische Linke in Majorz- und freiwilligen Proporzwahlen unterhalb ihres Wähleranteils vertreten. Heute beobachten wir zumindest bei Wahlen das Auseinanderfallen des Bürgerblocks und den Wandel von einem bi- hin zu einem tripolaren System. Ob dieser Wandel nachhaltig in diese Richtung geht, ist schwer abzuschätzen: Die Rolle von BDP und GLP als Teil einer «Neuen Mitte» scheint 2011 ihren Höhepunkt gefunden zu haben, und wie weit die FDP sich auch künftig an die politische Rechte anlehnt oder aber zur Mitte neigt, ist ungewiss. Weitere Umbrüche im schweizerischen Parteiensystem sind also zu erwarten.

Heute schon sichtbar sind allerdings die Auswirkungen des tripolaren Systems auf die Wahlen: Ihren Vormarsch in den Proporzwahlen der Parlamente von Bund und Kantonen ging die SVP allein. Ihre Strategie war geprägt von einer elektoralen Politik des permanenten Wahlkampfs und der Profilierung als rechtsnationale, einzig wahre bürgerliche Partei. Den Preis dafür bezahlte die SVP mit schlechtem Abschneiden in den Majorzwahlen von Ständerat und Kantonsregierungen, in denen vielfach der bürgerliche Partner für ein erfolgreiches Wahlbündnis verloren ging. Von der Spaltung des bürgerlichen Lagers profitierten vor allem Links-Grün, dann aber auch (zumindest kurzfristig) die neuen Mitte-Parteien. Jene sind trotz Majorzwahl im Ständerat nicht mehr untervertreten, und Mitte-links- oder gar Links-grüne Mehrheiten in Regierungen gibt es mittlerweile selbst in Kantonen wie der Waadt, die sich ehedem durch starke bürgerliche Wahlallianzen auszeichnete. Tripolarität hat zur Folge, dass Majorzwahlen offener im Ausgang geworden sind und dass mit geringerer Verbreitung von Tickets oder sonstigen Wahlabsprachen das Persönlichkeitselement mehr Bedeutung erlangt.

Tabelle 4.3: Sitzverteilung und -anteile National- und Ständerat, 1995 und 2015


Quelle: Bundesamt für Statistik (2016), eigene Berechnungen.

Tabelle 4.3 zeigt zunächst die Auswirkungen von veränderten Parteistärken im Proporzsystem: Die Sitzgewinne der SVP bilden sich ebenso wie Sitzverluste von FDP, CVP und SP einigermassen ab. Neue Parteien wie die BDP oder die GLP haben faire Eintrittschancen, obwohl die Verteilung von Restmandaten nach geltendem Verfahren eher die grösseren Parteien begünstigt. Ganz anders spiegelt sich die Veränderung der Parteistärken bei den Majorzwahlen: Zwar halten CVP und FDP trotz Wählerschwund immer noch eine knappe Mehrheit im Ständerat. Die krassen Auswirkungen fehlender oder vorhandener Bündnisfähigkeit zeigen sich aber im Vergleich von SVP und SP: Als Folge ihres Alleingangs ist die SVP hier trotz verdoppelter Wählerstärke 2015 immer noch gleich stark bzw. schwach vertreten wie vor 20 Jahren. Umgekehrt haben SP und Grüne – im gemeinsamen Ticket und oft auch mit Unterstützung von Stimmen der Mitte – trotz leicht tieferer Wählerstärke ihre Vertretung nahezu verdreifacht.

Was brächten Modifikationen des Wahlsystems?

1. Nationalrat: Häufig diskutiert wird die Verteilung der Restmandate. Über ihre Verteilung entscheiden oft ganz wenige Stimmen, und dieses Zufallselement kann dazu führen, dass die Verschiebungen durch das «Proporzglück» grösser sind als Verschiebungen durch echte Veränderungen der Wahlstärke. Eine zentrale Verteilung der Reststimmen auf nationaler Ebene, wie sie Dänemark kennt, könnte theoretisch dieses Zufallselement verkleinern. Eine zweite Frage betrifft die Benachteiligung der Kleinparteien, die durch eine homogenere Wahlkreisgrösse beseitigt werden könnte. Verschiedene Modellrechnungen (Linder/Hirter 1994 auf Basis des aktuellen Wahlrechts sowie Bochsler 2006 auf Basis des Pukelsheim-Verfahrens) haben indessen gezeigt, dass die Auswirkungen nicht überwältigend wären: Weder die Zusammenlegung der Kleinkantone zu grösseren Wahlkreisen noch die Anwendung des «Doppelten Pukelsheim» bringen grosse Sitzverschiebungen mit sich, da bereits die heutige Ausgestaltung insgesamt kein allzu schlechtes Abbild der proportionalen Parteistärken ergibt.

2. Ständerat: Mit dem Ersatz des Majorzwahlrechts durch den Proporz, wie ihn heute nur Jura und Neuenburg kennen, würde sich der Erfolgswert für ein Mandat von 50 Prozent auf 33 Prozent der Stimmen senken. Von der Einführung der Proporzregel hätte zur Zeit des ungeteilten Bürgerblocks das links-grüne Lager profitiert; heute wäre es eher die SVP: In allen Kantonen, wo sich ihr Wähleranteil der 33-Prozent-Hürde nähert, könnte sie relativ sicher einen ersten Ständeratssitz erringen.

E. Die Parteien in der Gesellschaft

1. Verbreitung in den Gemeinden

Ausserordentlich stark sind die Parteien auf kommunaler Ebene verbreitet. Sie widerlegen das Bild der «unpolitischen» Gemeinde. Ladner (1991a:183 ff.) zählte Anfang der neunziger Jahre über 5000 Lokalsektionen. Nur ein Drittel der Gemeinden wies keine politischen Gruppierungen aus. Dies ist erstaunlich, weil rund 60 Prozent der Kommunen Kleingemeinden mit weniger als 1000 Einwohnern bildeten. Ladner fand praktisch keine Gemeinde mit mehr als 2000 Einwohnern ohne lokalpolitische Gruppierungen. Fast 70 Prozent der Lokalsektionen entfielen auf die vier Bundesratsparteien, die auch den gleichen Anteil der Sitze in den Gemeindeexekutiven hielten. Die Bedeutung der lokalen Parteien kann aber auch aus der grossen Zahl der Mandate erschlossen werden: auf Gemeindeebene sind rund 18 000 Exekutivsitze, ebenso viele Parlamentsmandate und ein Vielfaches davon an Kommissionsmitgliedern zu wählen. Auf lokaler Ebene vollziehen sich mit dem Vormarsch der SVP ähnliche Kräfteverschiebungen unter den Parteien wie auf kantonaler und schweizerischer Ebene. Wie im vorhergehenden Kapitel angemerkt, sind aber auch gewisse Erosionserscheinungen zu vermerken. Mit der Mediatisierung der Politik lockern sich die Bindungen der Bürgerinnen und Bürger mit den Lokalparteien (Ladner 1996). In kleinen Gemeinden bekunden Parteien Schwierigkeiten, Kandidatinnen und Kandidaten für ihre Wahllisten zu finden, und stattdessen profilieren sich Parteilose, die knapp 40 Prozent der Sitze in den Exekutiven aller Schweizer Gemeinden halten (Geser et al. 2011:48).

2. Parteien und Volk

Nach Selbstangaben der Parteien aus den Jahren 1994 und 1995 betrug die Zahl der Parteimitglieder insgesamt etwas über 400 000, davon diejenige der Bundesratsparteien 350 000. Ladner und Brändle (2001:101 ff.) korrigieren diese Schätzungen um ein Viertel nach unten. Damit wären rund 6 Prozent der 4,5 Mio. Stimm- und Wahlberechtigten Mitglied einer Partei, was dem europäischen Durchschnitt entspricht. Aussagekräftiger für die Verankerung der Parteien in der Wählerschaft sind die Parteibindungen: Dazu zählen nicht nur die Mitglieder, sondern auch alle Wählerinnen, welche in Befragungen eine Nähe zu einer Partei angeben. Wie bereits im vorangehenden Kapitel im Zusammenhang mit den Wahlen erwähnt, haben die Parteibindungen der Wählerschaft in den vergangenen 40 Jahren zwar deutlich abgenommen, konnten sich aber in den letzten zwei Jahrzehnten auf dem mehr oder weniger gleichen Niveau halten (vgl. Grafik 4.3).

Grafik 4.3: Parteiidentifikation der Wählenden bzw. Nichtwählenden zum Zeitpunkt der Nationalratswahlen, 1971–2015


Anmerkung: Eine Parteiidentifikation wurde für diejenigen Personen als gegeben erachtet, die entweder die Mitgliedschaft oder die Sympathie zu einer bestimmten Partei angaben. Lesebeispiel: Im Jahr 2015 gaben 52 % aller Wählenden an, sich mit einer Partei zu identifizieren; unter den Nichtwählenden betrug dieser Anteil lediglich 20 %. Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf SELECTS (1971–2011 und 2015), ohne Gewichtung.

 

Grafik 4.3 zeigt die längerfristige Lockerung der Parteiidentifikationen. Sie findet sich sowohl bei den Wählern wie bei den Nichtwählern. In langfristiger Betrachtung ist nicht zu übersehen: Die Bindungen zwischen Parteien und Wählerschaft haben sich gelockert. Wie in den anderen europäischen Ländern sind die politischen Parteien vom gesellschaftlichen Modernisierungsprozess stark betroffen (Dalton 2006). Die Parteipresse hat auch in der Schweiz die Kommerzialisierung und Konzentration der Medien nicht überlebt. Die Milieuparteien sind verschwunden. Ihre Verankerung in gesellschaftlichen Organisationen wie den Wirtschaftsverbänden oder den lokalen Vereinen und damit bestimmten Schichten hat sich abgebaut. Die soziale Kontrolle, die am Sonntag von der Kirche ins Wahllokal und dann ins Wirtshaus führte, ist allenfalls noch in Kleingemeinden wirksam, nicht aber in den städtischen Zentren. Allerdings braucht dieser Prozess nicht linear in einer Richtung zu verlaufen: Der Anteil der parteigebundenen Wählerinnen und Wähler nahm vor allem bis Mitte der 1990er-Jahre ab; seither ist er relativ stabil oder nimmt nach jüngsten Umfragen wieder leicht zu. Ausdruck gelockerter Parteibindungen bei den Nationalratswahlen ist die Verdreifachung der Wahllisten (von 151 im Jahre 1971 auf 422 im Jahr 2015) sowie die Verdoppelung der Kandidierenden (von 1700 auf 3800 im gleichen Zeitraum), die vor allem auf die Proliferation von Kleinparteien und Ad-hoc-Wahlgruppierungen zurückgeht. So ist der Anteil der Kandidierenden aus den vier Bundesratsparteien von 61 auf 48 Prozent zurückgegangen (BFS 2016a). Auf die «Wahldisziplin» ihrer Anhänger können die Parteien jedoch nach wie vor stark zählen: Knapp die Hälfte aller Wählerinnen legt die unveränderte Liste ihrer Partei ein. Die andere Hälfte drückt ihre Individualisierung auch auf dem Wahlzettel aus und kumuliert, streicht und/oder panaschiert.

Aufgrund einer Längsschnitt-Untersuchung 1971–95 von Nabholz (1998:40) könnte man grob von einer wachsenden Kluft in der Wählerschaft zwischen einer Gruppe noch parteigebundener Wählerinnen und der mittlerweile grösseren Gruppe Parteiungebundener sprechen, die sich weniger für Politik interessieren und sich auch weniger daran beteiligen. Dies birgt grössere Ungewissheit für die schweizerische Referendumsdemokratie. In wichtigen und kontroversen Sachabstimmungen steigt auch der Anteil der Stimmenden ohne Parteibindung, ohne grösseres Interesse und ohne tiefere Kenntnisse der Politik. Bundesrat und Parteien haben es dabei schwieriger, die politischen Lösungen des Parlaments mit ihren Empfehlungen und Parolen durchzubringen.

F. Zukunft des Parteiensystems

Nach herkömmlicher Auffassung sammeln Parteien Anhänger mit ähnlicher Gesinnung oder ähnlichen Interessen, um auf die Willensbildung des Volkes Einfluss zu nehmen, sei dies bei Wahlen, Abstimmungen oder in der politischen Mitwirkung bei der Meinungsbildung (Gruner 1977:12). Sie vertreten in der Regel mehr als ein einziges, singuläres und kurzfristiges Ziel und konkurrieren um die Teilhabe an staatlich-politischer Macht (Ware 1996:5). Die internationale Parteienforschung diskutiert allerdings die Frage, ob sich die ursprünglich milieuorientierten Massenparteien Europas nicht zu professionalisierten Eliteorganisationen und professionell geleiteten Wählerparteien wandeln (Katz/Mair 1993:600).

In der Schweiz deutet zunächst wenig auf die Umformung der einzelnen politischen Parteien zu professionalisierten, blossen Wahlmaschinerien einer Elite ohne Kontrolle durch eine politische Basis hin. Einer Partei, die z. B. von einem mächtigen Wirtschaftskonzern finanziert und direkt kontrolliert würde, wären in der schweizerischen politischen Kultur wohl wenig Chancen einzuräumen. Aber das Parteiensystem hat aus andern Gründen Schwierigkeiten. Es ist insgesamt fragmentiert und hat neben den Verbänden, Kantonen und Direktinteressierten wenig Einfluss auf die staatlich-politischen Entscheidungen. Mit der Lockerung der Bindungen zwischen Parteien und Volk beherrschen die Verbände und Sonderinteressen mit ihren ungleich grösseren Ressourcen das Feld der Referendumsdemokratie noch stärker. Die Parteien selbst sind wegen ihrer Milizorganisation und ihres chronischen Mangels an eigenen Ressourcen seit je in einer gewissen Abhängigkeit der Finanzierung durch Dritte geblieben. Die Drittfinanzierung von Parteien ist dabei nur so lange legitim und schützt nur dann vor Korruption, wenn sie nicht zur direkten Durchsetzung von Forderungen des Geldgebers verwendet werden kann. Immerhin, Letztere bleibt verpönt, wie ein Fall der lokalzürcherischen SVP 1997 zeigte: Sie trennte sich von einem ihrer Vertreter, der sich dem Vorwurf ausgesetzt sah, Parlamentsvorstösse gegen direkte Bezahlung eines Autoimporteurs vorgenommen zu haben. Dem Vorwurf der Käuflichkeit aber setzen sich die FDP, CVP und SVP 2008 bei der Rettung und Regulierung zugunsten «systemrelevanter» Banken allesamt aus, als die jahrelangen hohen Parteizuwendungen seitens Credit Suisse und UBS bekannt wurden. Eine «Weissgeldstrategie» bezüglich ihrer Finanzierung wäre darum auch für die Parteien angezeigt. Eine Parteienförderung über staatliche Mittel ist in der Vergangenheit verschiedentlich abgelehnt worden. Die politischen Chancen für eine transparente Rechnungsführung stehen besser. Indessen geht es um mehr, nämlich um die Zukunft der Parteien als echte Mitgliederparteien, in denen dem Bekenntnis zu innerparteilicher Demokratie nachgelebt wird. Nur diese trennt politische Machtansprüche vom direkten Einfluss mächtiger Individualinteressen. Für diese innerparteiliche Demokratie sind zwei Bedingungen erforderlich: ein funktionierender Parteienwettbewerb und eine wachsame politische Öffentlichkeit.

Kasten 4.2: Kurzprofil der Schweizer Parteien mit smartvote-Profil21 aus den Nationalratswahlen 2015

A. Die Regierungsparteien


Freisinnig-demokratische Partei der Schweiz (FDP)

Wähleranteil 2015: 16,4 %. Geht in ihren Ursprüngen zurück auf die liberalen Gründerväter des Bundesstaates von 1848: die protestantische, progressiv-zentralistische, laizistische Kraft, Trägerin des industriellen Fortschritts. Die miteinander nur lose verbundenen Kantonalparteien schlossen sich 1894 in der Auseinandersetzung mit einer erstarkenden Arbeiterbewegung zur Landespartei zusammen. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor die FDP mit dem Übergang vom Majorz zum Proporz bei den Nationalratswahlen ihre Vorherrschaft im Parlament und die frühere Integrationskraft für verschiedenste bürgerliche Wählerschichten. Nach einer immer engeren Zusammenarbeit mit der Liberalen Partei (gemeinsame Fraktion seit 2003) erfolgte 2009 die Fusion der beiden Parteien. Die neue Partei tritt seither unter der Bezeichnung «FDP.Die Liberalen» auf.

Bis heute versteht sich die FDP als Interessenvertreterin von Industrie, Banken, Versicherungen, Unternehmern und Arbeitgebern. In Wirtschaftsfragen galt sie lange Zeit als die einflussreichste Kraft im eidgenössischen Parlament. Sie betont die persönlichen Freiheitsrechte («Freiheit und Selbstverantwortung»), insbesondere das Recht auf Privateigentum und unternehmerischen Freiraum gegenüber dem Staat und den Arbeitnehmern. In einer starken Armee, der Neutralität und heute im Bilateralismus mit der EU erblickt sie die unabdingbaren Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung der staatlichen Unabhängigkeit gegen aussen. Mit der Aufnahme des globalen Trends zum Neoliberalismus sind von der FDP starke Impulse zur Begrenzung des Staatswachstums, zur Privatisierung sowie zur Liberalisierung des Binnenmarkts ausgegangen. In jüngerer Zeit ist die Partei angesichts der rückläufigen Wählerstimmenanteile verstärkt auf der Suche nach einem klaren und erfolgversprechenden Kurs. Versuche, die Partei als gesellschaftspolitisch progressive und reformfreudige Kraft zu positionieren, stossen auf Widerstand bei den traditionelleren und wirtschaftsorientierten Kreisen.


Christlichdemokratische Volkspartei der Schweiz (CVP)

Wähleranteil 2015: 11,7 %. Hervorgegangen aus der Katholisch-Konservativen Opposition gegen den Bundesstaat 1848, erst 1912 Gründung einer Landespartei unter dem Namen Konservative Volkspartei. Die katholische Arbeitnehmerschaft wurde über die christlichsozialen Organisationen (z. T. als eigenständige Partei) integriert. 1971 Zusammenschluss der Konservativen und der Christlichsozialen zur CVP. Nach wie vor stark verwurzelt in den katholischen, agrarisch-kleingewerblichen Gebieten. Mit ihrem Kampf für die Autonomie der Kantone und die gesellschaftlichen Vorrechte der katholischen Kirche ging sie anfänglich auf kritische Distanz zum Bundesstaat der liberal-fortschrittlichen Mehrheit in den grossen Mittellandkantonen. Erst nach 1874, als sie das neue Instrument des Referendums für ihre Zwecke nutzen konnte, gewann sie im Bund an Einfluss, war ab 1891 im Bundesrat vertreten und kam allmählich aus ihrer Ghettostellung heraus. Eckpunkte des heutigen Parteiprogramms bilden die christlichen Grundsätze für die Politik, die Familie als Kern der staatlichen Gemeinschaft und die föderalistische Struktur des Landes. Als wertkonservative Partei will die CVP die immateriellen menschlichen Werte bewahren. Als Volkspartei versucht sie, die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit – ehemals repräsentiert im «Wirtschafts»- bzw. «Christlichsozialen» Flügel – über die Position einer liberal-sozialen Marktwirtschaft auszugleichen. Kein EU-Beitritt, sondern Bilateralismus. Innerhalb des schweizerischen Parteiensystems verstand sich die CVP in den siebziger Jahren mit ihrem Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft als Partei der «dynamischen Mitte», die um einen Ausgleich zwischen der FDP und SP besorgt war. Diese Rolle nimmt sie auch heute zwischen dem links-grünen und dem bürgerlichen Rechtslager von SVP und FDP ein. Darin kommt ein gewisses Dilemma zum Ausdruck. Die Wählerbasis der CVP ist eher bürgerlich-konservativ, während sich im Machtspiel der Konkordanz eine Mitte-Position mit Angeboten nach rechts wie links besser auszahlt. Der anhaltende Rückgang ihrer Wählerstimmenanteile führte 2003 dazu, dass sie ihren zweiten Sitz im Bundesrat verlor.

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