Schweizerische Demokratie

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Kapitel 1: Einführung

«Der Schweizer hat … den dialektischen Vorteil, dass er gleichzeitig frei, Gefangener und Wärter ist.»

Friedrich Dürrenmatt, Schriftsteller

«In der Schweiz ist übrigens alles schöner und besser.»

Adolf Muschg, Schriftsteller

A. Die Schweiz zwischen Erfolgsgeschichte und Identitätskrise

Die Schweiz ist ein privilegiertes Land. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast ganz Europa in die Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkrieges gezogen wurde, überlebte die Schweiz als Demokratie, als direkter Nachbar der kriegführenden Mächte und als unabhängiger Kleinstaat. Und war das Land im 19. Jahrhundert noch arm und ohne eigene Rohstoffe, so weist die schweizerische Gesellschaft heute den nahezu höchsten Lebensstandard unter den industrialisierten Ländern aus. Dazu hat vor allem ein anhaltendes Wirtschaftswachstum in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen. Neben dem Tourismus, der starken Baubranche und den Mittel- und Kleinbetrieben des Binnenmarktes bauten die schweizerische Pharma-, Uhren-, und Maschinenindustrie sowie Banken, Versicherungs- und Handelsunternehmen ihre Geschäftstätigkeit weltweit aus. Die Wirtschaft ist stark exportorientiert und hat sich im letzten Jahrzehnt einen Spitzenrang in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit erhalten können. Die Schweiz bezeichnet sich als Kleinstaat; das ist sie jedenfalls bevölkerungs- und flächenmässig. Wirtschaftlich jedoch gilt sie als mittlere Macht im europäischen Raum; sie ist im Jahr 2015 drittgrösster Kunde der Europäischen Union (nach den USA und China) und ihr viertgrösster Lieferant (nach den USA, China und Russland) (DEA 2017:9).

Zur wirtschaftlichen Stärke gesellt sich ein leistungsfähiger Staat. Die Verschuldung der öffentlichen Hand ist im Vergleich zu jener in den OECD-Staaten gering. Schweizerinnen und Schweizer bezahlen weniger Steuern als die meisten Europäer, vor allem aber wenig im Vergleich zu den Leistungen, die sie vom Staat in Anspruch nehmen. Das Bildungswesen weist in einigen Bereichen wie der Berufsbildung hohes Niveau aus; in einzelnen Forschungsbereichen geniesst die ETH Weltruf. Das System des öffentlichen Verkehrs ist zuverlässig und dicht. Es erschliesst nicht nur die grossen Städte, sondern reicht bis in kleine Bergdörfer. Das Preis-Leistungs-Verhältnis im Gesundheitswesen und bei den Sozialversicherungen ist vergleichsweise gut. Die politische Stabilität gilt als aussergewöhnlich. Obwohl Volk und Stände im Jahresdurchschnitt etwa sechsmal über Verfassungsänderungen abstimmen, ist die Schweiz nicht das Land politischer Revolutionen. Schon eher beklagt man sich über das geringe Interesse der Stimmberechtigten, von denen sich meistens weniger als die Hälfte zur Urne bewegen.

Neben dieser Erfolgsgeschichte ist aber auch eine andere zu hören – diejenige der Schweiz, die in einer ungewissen Zukunft mit sich selbst ringt. Die Jahrzehnte jenes Wirtschaftswachstums, in denen unser Land leichter zu Wohlstand kam als andere, sind vorbei. Die Standortvorteile der Vergangenheit haben nach 1989 an Bedeutung eingebüsst. Mit dem Ende der bipolaren Ost-West-Welt ist auch die Sonderstellung der Schweiz zu Ende gegangen. Aus der Verbindung neutralitätspolitischer Abstinenz bei gleichzeitiger handelspolitischer Verflechtung lassen sich weniger Vorteile ziehen als früher. Statt des Beitritts zum EWR hat das Land 1992 den Weg bilateraler Verträge mit der EU gewählt. Sie sind das Kernstück einer weitgehenden Integration in den europäischen Wirtschaftsraum ohne institutionelle Anbindung an die EU. Damit bleibt die Schweiz allerdings verletzbar: Die Zukunft des bilateralen Wegs ist ebenso ungewiss wie die weitere politische Entwicklung der EU selbst. In Konflikten mit den USA und der EU um Bankgeheimnis und Steuervorteile spürt die Schweiz, dass sie zunehmend isoliert ist. Die unkontrollierten Risiken der globalen Finanzmärkte trafen auch die Schweiz: Die «systemrelevante» Grossbank UBS, die sich im Zuge der US-Immobilienkrise an den Rand der Insolvenz brachte, beanspruchte 2008 ein milliardenschweres Rettungspaket des Bundes. Die Schweiz hat an ideellem Kredit im Ausland eingebüsst. Historiker schreiben Abschnitte der schweizerischen Geschichte neu. Die Schweiz hat nicht nur ihren Platz in einer veränderten weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung zu behaupten, sondern auch ihre Identität neu zu bestimmen. Zwei bekannte Bonmots bringen den Gegensatz zwischen Erfolgsgeschichte und Identitätskrise auf den Punkt: «je pense, donc je suisse» und «Suiza no existe»1.

B. Zur Rolle der politischen Institutionen für die schweizerische Gesellschaft

1. Die Funktionen von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft

Die Schweiz teilt mit den liberal-demokratischen, entwickelten Industrieländern eine Reihe von Strukturmerkmalen. Dazu gehört vor allem die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in die Bereiche eines wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Systems. Diese sind zwar miteinander verflochten, erfüllen aber unterschiedliche Funktionen. Auch ihre Selbststeuerung folgt unterschiedlichen Medien des geldförmigen Tauschs, der sozialen Normen und des rechtlichen Zwangs. Das wirtschaftliche, das soziale und das staatliche System der demokratischen Industriegesellschaft lassen sich auf abstrakter Ebene wie in Grafik 1.1 unterscheiden.

Grafik 1.1: Funktionen von Wirtschaft, Staat und Sozialbereich aus systemtheoretischer Perspektive


Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Offe (1972).

Die drei Systeme erfüllen unterschiedliche Funktionen:

Wirtschaftssystem: Mit der Industrialisierung wurden Formen der Subsistenzwirtschaft (d. h. Produktion für den Eigenbedarf) durch die kapitalistische Erwerbswirtschaft abgelöst. Die Produktion der meisten Wirtschaftsgüter erfolgt in Betrieben und Unternehmungen, die Verteilung über den Markt. Wettbewerb, Gewinnstreben sowie eigennütziges Verhalten von Produzentinnen und Konsumenten prägen den geldförmigen Austausch der Güter. Der freie Wettbewerb stimuliert Innovation, Differenzierung und Wachstum. Die industrielle und später die Dienstleistungswirtschaft werden zum Motor der gesellschaftlichen Entwicklung: Sie bringen neben dem materiellen Wohlstand auch neue Schichten, Klassen und Lebensmilieus hervor sowie die Emanzipation des Individuums aus traditionalen Bindungen. Aus dem Interessengegensatz von Kapital und Lohnarbeit ergibt sich indessen ein andauernder Grundkonflikt um wirtschaftlich-soziale Ungleichheiten. Die Nichtbewertung von freien, öffentlichen Gütern durch den Markt produziert Folgeprobleme wie den ökologischen Raubbau. Der Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und ökologischer Nachhaltigkeit bleibt bis heute politisch ungelöst.

Sozialsystem: Mit der Industrialisierung verlor der Familienverband seine zentrale Funktion der Produktion und Verteilung in der Subsistenzwirtschaft. Weitere traditionelle Aufgaben wurden aus der Familie ausgelagert. Der laizistische Staat enthob die Sozialorganisationen der Kirche gesellschaftlicher Aufgaben des Bildungswesens oder der Regelung der Eherechtsverhältnisse. Der Familie und weiteren sozialen Vereinigungen verbleiben einzig jene Reproduktions- und Sozialisationsfunktionen, für die sich die Logik der Erwerbs- und Geldwirtschaft nicht eignen. Die Beziehungen im Sozialsystem beruhen auf nicht geldwertem Austausch: Individuen handeln aufgrund von bestimmten Rollenerwartungen (z. B. der Geschlechter- und Lebenslaufrollen in der Familie) sowie aufgrund kultureller Konventionen oder Moralvorstellungen.

Staatliches System: Mit der Entwicklung des modernen Flächenstaats garantiert die politische Gewalt Unabhängigkeit gegen aussen und gesellschaftliche Sicherheit gegen innen. Das staatliche Gewaltmonopol sichert Eigentum und Freiheit der Bürger, organisiert den Wirtschaftsmarkt und zivilisiert Konflikte durch eine allgemein verbindliche Rechtsordnung. Die Kontrolle des Gewaltmonopols erfolgt durch den Rechts- und Verfassungsstaat. Der Staat beschränkt sich auf die Bereitstellung öffentlicher Güter2 für das Wirtschafts- und Sozialsystem. Dazu gehören Vorleistungen für die private Produktion (Infrastruktur), die Kompensation von wirtschaftlicher Ungleichheit durch Umverteilung von Einkommen und die Bereitstellung sozialstaatlicher Leistungen sowie die Reparatur von Folgeschäden der industriellen Produktion und des Konsums (z. B. durch den Umweltschutz). Die Finanzierung staatlicher Leistungen erfolgt durch die Besteuerung der privaten Wirtschaftstätigkeit. Die Staatstätigkeiten werden durch die Verfassung und das Gesetz geregelt. In westlichen Industriegesellschaften legitimiert sich Demokratie als einzige dauerhafte, friedliche und stabile Regierungsform, weil sie ihren Bürgern unverzichtbare Freiheits- und Partizipationsrechte gewährt und die Ausübung der Regierungsmacht nach den Präferenzen der politischen Mehrheit verspricht.

Diese Funktions- und Arbeitsteilung von Wirtschaft, Staat und Sozialsystem (das wir auch als Gesellschaft im engeren Sinn bezeichnen können) folgt in der Schweiz einigen Besonderheiten. Bis in die jüngere Zeit beschränkten Kartelle und Absprachen zwischen den Unternehmen den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt stark. Das schweizerische Politiksystem gehört im europäischen Vergleich zu jenen liberal geprägten Staaten, die sich durch geringere Bürokratisierung, geringere Staatsausgaben und eine relativ bescheidene Sozialstaatlichkeit auszeichnen. Gegen aussen verband die Schweiz eine aussenpolitische Abstinenz (Maxime bewaffneter Neutralität) mit wirtschaftspolitischem Engagement für den globalen Freihandel. Die schweizerische Gesellschaft leistet sich mit ihren 26 Kantonen und 2300 Gemeinden auf bloss acht Millionen Einwohner eine fast luxuriös zu nennende politische Struktur. Wirtschaft, Staat und Gesellschaft sind stark verflochten. Der weitreichende politische Einfluss von Wirtschaftsverbänden und Sozialorganisationen, die zahlreichen Milizämter und das dichte Netz gemeinnütziger Organisationen illustrieren dies.

 

2. Die Schweiz als «paradigmatischer Fall politischer Integration»

Staatsbildungen des 19. Jahrhunderts zeigten sich, wie etwa in Deutschland und Italien, als politische Bewegung «nationaler Einigung». Dementsprechend vereinigte der Nationalstaat ein Volk gleicher Ethnie, Kultur oder Sprache. Dies gilt für die Schweiz gerade nicht. Der Bundesstaat von 1848 brachte die Völker von 25 Kantonen und vier Sprachgruppen zusammen, die sich durch unterschiedliche Geschichte und Kultur auszeichneten. Die Zustimmung der Kantone zur Bundesverfassung war darum der politische Akt einer multikulturellen Staatsgründung, und deren Resultat keine Kulturnation, sondern eine politische Staatsnation.3

Die politischen Institutionen hatten daher besondere Integrationsleistungen zu erbringen. Diese gingen über die Bewältigung jener wirtschaftlich-sozialen Konflikte hinaus, die in allen Staaten im Zuge der Industrialisierung anzutreffen waren. Denn die konfessionelle Spaltung nach der Reformation hatte zu vier Bürgerkriegen unter den alten Kantonen der Eidgenossenschaft geführt, und der Staatsgründung ging der Sonderbundskrieg zwischen konservativen Katholiken und fortschrittlichen Protestanten voraus. Die konfessionelle Spaltung setzte sich im «Kulturkampf» fort, und ihre Nachwehen reichen weit ins 20. Jahrhundert. Auch das sprachpolitische Verhältnis zwischen Deutschschweiz und Romandie war nicht immer ungetrübt. Trotz der politischen Neutralität kam es in der kritischen Zeit des Ersten Weltkriegs zu einer gefährlichen Spaltung des Landes, als die politischen Eliten sich je auf eine Seite der Kriegführenden schlugen: Die Mehrheit der Deutschschweiz sympathisierte mit Deutschland, die Romands dagegen mit Frankreich.4

Dass die Schweiz an solchen internen Konflikten nicht zerbrach, sondern trotz kultureller Heterogenität sogar noch zusammenwuchs, verdankt sie zu einem grossen Teil ihren politischen Institutionen. Nicht zufällig bezeichnete der Gesellschaftstheoretiker Karl Deutsch (1976) die Schweiz als «paradigmatischen Fall politischer Integration». Der Aufbau einer schweizerischen Nation gelang, obwohl es, überspitzt gesagt, eine schweizerische Gesellschaft 1848 noch gar nicht gab. Nationale Identität musste zum einen über Symbole gesucht werden, von der Figur der Helvetia, des Tells und seiner Armbrust auf den Briefmarken bis zu den Wirtshausschildern des «Weissen Kreuz» oder den «Drei Eidgenossen» und ihrer idealisierten Geschichte. Zum anderen waren das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht, die Armee und das Recht auf Niederlassung in jedem Kanton auch etwas Reales und womöglich das erste Gemeinsame zwischen Appenzellern und Genfern. Das Dach des Föderalismus, das den Kantonen grosse Freiheiten liess, war eine politisch-institutionelle Voraussetzung dafür, dass die historischen Konflikte zwischen den Konfessionen in der Folge auskühlen konnten und dass die sprachlichen und kulturellen Minderheiten ihre Identität zu erhalten vermochten. Sprach- und Konfessionsminderheiten erhielten Sitz und Stimme im Bundesstaat. Dies trug dazu bei, dass durch politische Integration überhaupt eine schweizerische Gesellschaft entstehen konnte. Freilich gab es auch Ausgrenzungen. Der wirtschaftlich-soziale Klassenkonflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital blieb bis zum Zweiten Weltkrieg ungelöst. Gewerkschaften und die politische Linke hatten bis zu diesem Zeitpunkt wenig Einfluss auf die Bundespolitik und blieben während Jahrzehnten aus der rein bürgerlichen Landesregierung ausgesperrt. Auch für kulturell-sprachliche Konflikte gibt es Ausnahmen vom Muster politischer Integration. Nach dem Zweiten Weltkrieg brach ein Minderheitenkonflikt offen und heftig aus, als der französischsprachige, katholische Teil des Kantons Bern die Legitimität der bernischen Regierung in Frage stellte und in einem langen Kampf 1978 die Errichtung eines eigenen Kantons erreichte.

Auch haben neben den politischen Institutionen andere Faktoren – etwa das Zusammenrücken in den Zeiten äusserer Bedrohung vor und während des Zweiten Weltkriegs – zur Abschwächung gesellschaftlicher Konflikte beigetragen. Trotzdem bleibt die erfolgreiche Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen und die friedliche Lösung ihrer Konflikte bis heute eine der wichtigsten Leistungen des schweizerischen Systems. Aus politologischer Sicht spielen dabei zwei institutionelle Einrichtungen eine besondere Rolle, nämlich der Föderalismus sowie die proportionale Machtteilung oder Konkordanz.

3. Die Eigenart schweizerischer Demokratie

Die Eigenart schweizerischer Demokratie zeigt sich an mehreren Punkten. Erstens setzte sich das Prinzip demokratischer Legitimation politischer Herrschaft früher durch als in den anderen europäischen Ländern, wo im 19. Jahrhundert der Republikanismus der Französischen Revolution auf die konstitutionelle Monarchie zurückfiel. Später, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war die schweizerische Demokratie so stark gefestigt, dass sie den Tendenzen des Totalitarismus zu widerstehen vermochte.

Zweitens setzten sich im 19. Jahrhundert unter der Devise der «Volkssouveränität» jene Formen der direkten Demokratie durch, die der Stimmbürgerschaft über das Wahlrecht hinaus die Mitwirkung an den wichtigsten Sachgeschäften erlauben. Die Abstimmungsdemokratie gewährt ihren Bürgerinnen und Bürgern eine Mitgestaltung der «res publica», die erheblich über das hinausgeht, was sich in den Demokratisierungswellen des 20. Jahrhunderts als Repräsentativsystem global durchsetzte.

Drittens gehört die Schweiz zu den föderalen Systemen. Die föderative Teilung staatlicher Macht zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten ist zwar keineswegs einzigartig, und die Kombination von Demokratie und Föderalismus durch das Zweikammersystem des Parlaments wurde auch nicht in der Schweiz erfunden, sondern aus dem amerikanischen Verfassungssystem entlehnt. Dagegen erfüllt der Föderalismus besondere politische Funktionen in der sprachlich-religiös segmentierten Gesellschaft der Schweiz: 1848 das Ergebnis eines politischen Verfassungskompromisses zwischen Katholisch-Konservativen und Protestantisch-Freisinnigen, sichert Föderalismus bis heute die kulturellen Eigenheiten der Kantone. In den weitreichenden Kompetenzen von Kantonen und Gemeinden und in deren hohem Anteil an den öffentlichen Einnahmen und Ausgaben drückt sich sodann die Präferenz der Stimmbürgerschaft für ein möglichst dezentrales Gemeinwesen aus. Dem Bund wird nur, und nur zögerlich, zugewiesen, was die Kantone nicht zu leisten vermögen.5 Die schweizerische Zentralregierung dürfte die einzige auf der Welt sein, die bis heute über keine dauerhaften, sondern bloss zeitlich befristete Einkommenssteuern verfügt.

Viertens verwandelte sich unter dem Einfluss der Volksrechte das Politiksystem von der ursprünglichen Mehrheitsdemokratie allmählich zur Verhandlungs- oder Konsensdemokratie. Das sog. Konkordanzsystem ist geprägt durch die proportionale Vertretung und Zusammenarbeit der verschiedenen Parteien in Regierung, Parlament und bei der Besetzung von Verwaltungsstellen und Gerichten. Zudem werden in der Gesetzgebung all jene gesellschaftlichen Gruppierungen und Verbände angehört, die sich über die Fähigkeit ausweisen, ein Referendum auszulösen. Das führt zur Politik der Verständigung durch Verhandeln und zum Suchen von Kompromissen. Die Konkordanz begünstigt jene Integrationsleistungen, die für die schweizerische Gesellschaft mit ihren kulturellen Minderheiten dauerhaft erforderlich sind. Direkte Demokratie bietet die Möglichkeit der Opposition: Parteien und Verbände, die gegen Vorschläge des Parlaments zu einer Verfassungsänderung sind, bringen diese in der obligatorischen Volksabstimmung nicht selten zu Fall. Oppositionelle Kräfte ergreifen gelegentlich das Referendum gegen ein neues Gesetz, und mit Volksinitiativen bringen verschiedenste Gruppen neue Probleme und Tendenzen in die politische Arena ein. Hingegen fehlt im schweizerischen System der wichtigste Grundzug aller repräsentativen Demokratien: Es gibt keinen regelmässigen Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition, der die Ausübung politischer Macht zeitlich begrenzt und mittels Wahlen die Belohnung oder Bestrafung der Regierung für ihre vergangene Politik ermöglicht.

Ein fünfter Punkt schweizerischer Eigenheit darf allerdings nicht unerwähnt bleiben: Im krassen Gegensatz zur frühen Demokratisierung steht die Tatsache, dass das Frauenstimmrecht in der Schweiz erst spät, nämlich 1971 eingeführt wurde. Diese weniger rühmliche Eigenheit schweizerischer Demokratie hat Gründe, die nicht notwendigerweise nur auf einer konservativeren Haltung schweizerischer Männer beruhen.6 Trotzdem hatte die Männerdemokratie bis dahin die Hälfte der Bürgerschaft von der politischen Partizipation ausgeschlossen.

4. Die schweizerischen politischen Institutionen im Kontext der Globalisierung

Das Gefühl, die schweizerische Demokratie sei etwas Einzigartiges, bildete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen prominenten Teil gesellschaftlicher Identität und nationalen Selbstverständnisses. Diese Vorstellung mag in den Bedrohungen des Zweiten Weltkriegs auch einen wichtigen Beitrag zur Behauptung der äusseren Unabhängigkeit und des inneren Zusammenhalts des Landes geleistet haben, ist jedoch Vergangenheit und Geschichte. Ein feindliches Umfeld europäischer Nachbarn gibt es nicht mehr, dafür die wirtschaftspolitische Integration der EU-Länder sowie gesamteuropäische Bemühungen, den Frieden kollektiv zu sichern. Demokratie verbreitet sich weltweit über den Kreis der entwickelten Industrieländer hinaus. Globalisierung, mit all ihren Licht- und Schattenseiten, befördert die weltweite Liberalisierung der Wirtschaft. Staatliche Grenzen öffnen sich. Innenpolitik wird zur Aussenpolitik, Aussenpolitik zur Innenpolitik. Was den Nationalstaaten an der Kontrolle über die Zirkulation von Kapital, Gütern, Informationen und Arbeitskräften entgeht, wird teilweise aufgefangen durch internationale, transnationale und supranationale Organismen. Dorthin verlagern sich gewichtige Teile der Politik. Der nationale Staat gewinnt Mitbestimmung im äusseren, grösseren Rahmen, verliert aber an Autonomie und Bedeutung im Inneren. Diese Verluste treffen auch die Demokratie, denn die meisten internationalen oder supranationalen Organismen sind demokratisch nur schwach legitimiert, auch wenn national legitimierte Staats- und Regierungschefs entscheiden.

Diese Vorgänge erschüttern traditionelles schweizerisches Selbstverständnis. Dieses hat sich neu zu definieren, zumal sich Schweizerinnen und Schweizer stark mit den Werten ihres politischen Systems identifizieren. Ob nationale Autonomie, schweizerischer Föderalismus und direkte Demokratie im Falle eines EU-Beitritts noch mehr gefährdet wären als bei der Fortsetzung des bilateralen Vertragswegs, ist darum politisch stark umstritten, im Grunde aber eine noch harmlose Frage. Fundamentaler müsste gefragt werden: Welcher Stellenwert kommt nationaler Staatlichkeit und Demokratie in der Globalisierung überhaupt noch zu? Nach den Krisen des globalen Finanzkapitalismus und der europäischen Staatsschuldenkrise stellt sich diese Frage verschärft. Unterdessen ist aber auch die Einsicht gewachsen, dass der Nationalstaat mit der Globalisierung noch keineswegs irrelevant geworden ist oder abzudanken hätte. Die Beschäftigung mit den politischen Strukturen eines Nationalstaats bleibt damit von Bedeutung.

C. Zum Aufbau des Buches

Das folgende Kapitel 2 behandelt die Geschichte der Staatsgründung und die Entwicklung der schweizerischen Demokratie. Es steht unter dem Leitthema der politischen Integration einer multikulturellen Gesellschaft.

Die Kapitel 3–11 analysieren die einzelnen Institutionen und Prozesse der schweizerischen Politik. Es schien angebracht, die Stimmbürgerschaft nicht wie üblich auf die Teilaspekte von Wahlen, Abstimmungen und Parteien zu reduzieren, sondern dem «Volk» als dem eigentlichen Subjekt der Demokratie ein eigenes Kapitel zu widmen (Kapitel 3). Parteien, politische Bewegungen, Verbände werden als wichtigste Organisationen der Artikulation und Bündelung von Interessen dargestellt. Besonderes Augenmerk gilt ihren je spezifischen Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheide (Kapitel 4–6). Föderalismus (Kapitel 7) ist mehr als eine Verfassungsstruktur vertikaler Machtteilung; er ist auch Ausdruck einer politischen Kultur, welche der dezentralen Selbstbestimmung gegenüber der Macht des Zentralstaats den Vorzug gibt. Die Frage, wie schweizerischer Föderalismus die Prozesse und das Ergebnis der politischen Entscheidungen beeinflusst, wird an einer Reihe von Fallbeispielen untersucht. Kapitel 8–10 sind den drei Organen gewidmet, welchen die Verfassung die formalen Entscheidungsbefugnisse zuordnet: Regierung, Parlament und Stimmbürgerschaft. Der politologischen Analyse der Referendumsdemokratie wurde dabei besondere Beachtung geschenkt, bevor das Konkordanzsystem mit seinen Vernetzungen zwischen vorparlamentarischem, parlamentarischem, direktdemokratischem und administrativem Entscheidungskomplex in Kapitel 11 dargestellt wird.

 

Wer die Eigenheiten des schweizerischen Systems verstehen will, kommt um eine vergleichende Betrachtung nicht herum. Die Kapitel 12–14 gehen der Frage nach, wie direkte Demokratie, Föderalismus und Machtteilung in anderen Ländern praktiziert werden. Dabei zeigt sich, dass Konkordanz nicht einfach einen helvetischen Sonderfall darstellt. Vielmehr kann «Konsensdemokratie» als ein Gegenmodell zur Mehrheitsdemokratie angloamerikanischer Prägung begriffen werden. Länder wie Südafrika, Belgien oder Indien zeigen, dass politische Machtteilung in anderen historischen und gesellschaftlichen Situationen Ähnliches leistet wie in der Schweiz, nämlich die Überwindung kultureller Konflikte und Spaltungen. Solche Erkenntnisse bedeuten keine Abwertung der Eigenheiten schweizerischer Demokratie – im Gegenteil. Sie öffnen erstens den Blick dafür, was diese Eigenheiten wirklich sind und was die eigenen Institutionen im Vergleich zu anderen zu leisten vermögen und was nicht. Zweitens zeigt die vergleichende Perspektive, wie weit und warum die Strukturen schweizerischer Demokratie über das eigene Land hinaus von Bedeutung sind. Das abschliessende Kapitel 15 versteht sich als Diskussionsbeitrag zur Frage, wie schweizerische Demokratie zu bestehen vermag im Prozess einer Globalisierung und Europäisierung, deren Schatten immer länger werden.

1 Beide stammen vom Künstler Ben Vautier; letzteres war auch das Motto des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung in Sevilla 1992.

2 Zu den öffentlichen Gütern und Dienstleistungen gehören: a) Kollektivgüter: Der private Markt stellt sie nicht bereit, weil sie auch von Nichtbezahlenden konsumiert werden können (z. B. öffentliche oder nationale Sicherheit) und/oder weil sie als frei zugängliches Gut durch viele übernutzt oder zerstört werden (Rivalität des Konsums z. B. von sauberer Umwelt); b) Meritorische Güter: Sie können an sich von Privaten hergestellt werden, jedoch nicht zur Menge, zum Preis oder in jener Qualität, wie sie von der Gesellschaft gewünscht werden (z. B. Bildung, Gesundheit, Kultur). Neben diesen allgemeinen ökonomischen Kriterien bestimmen Verfassung und Gesetz den Kreis und den Umfang öffentlicher Güter und Dienstleistungen.

3 Zur näheren Unterscheidung vgl. Kapitel 2.

4 Der Graben zwischen Deutsch- und Westschweiz war nach Jost (1983:120) in erster Linie ein Problem der politischen Elite und ihrer agitierenden Presse und weniger eines der Bevölkerung.

5 Der hier angebrachte Begriff der Subsidiarität lässt sich umschreiben als «Was du selber kannst besorgen, das verschiebe nicht nach oben.»

6 Näheres dazu in Kapitel 3, Abschnitt A2.