Schweizerische Demokratie

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Andere Erzählungen stärkten den internen Zusammenhalt der «Willensnation», ohne den eidgenössischen Befreiungskampf gegen fremde Mächte zu betonen. Beispielsweise wurde gemeldet, während des Ersten Kappeler Krieges 1529 zwischen dem reformierten Zürich und den katholischen Innerschweizer Orten hätten sich einfache Soldaten beider Seiten verbrüdert, um aus einem Topf gemeinsam Milchsuppe zu löffeln. Dass es eher aufgrund der Vermittlung der neutral gebliebenen eidgenössischen Orte als wegen der Fraternisierung des katholischen und protestantischen Fussvolkes nicht zur Schlacht kam, war für die verbindende Wirkung des Mythos während der Nationalstaatsgründung freilich zweitrangig.



Mythenbildung gab es auch im 20. Jahrhundert, nach dem Zweiten Weltkrieg etwa in der rückblickenden Verklärung des Widerstandswillens der Schweiz, der Neutralität, und der Armee. Beharrlich nüchterne intellektuelle Kritik – etwa des Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt

*

 – konnte dem Mythos über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg wenig anhaben. Dies änderte sich Mitte der 1990er-Jahre mit den Gerichtsklagen amerikanischer Juden gegen schweizerische Banken wegen hinterzogener Holocaustgelder und mit der Aufarbeitung der wirtschaftlichen Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs durch eine offizielle Expertenkommission von Historikern. Die in der Öffentlichkeit heftig diskutierten Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft provozierten eine Entzauberung der kollektiven Erinnerungskultur, aber auch eine fast trotzige Rückbesinnung auf den Mythos Schweiz. Was Mythos ist und was Geschichte, lässt sich nicht immer klar auseinanderhalten und bleibt kontrovers.



*

 Eine lesenswerte Sammlung der Reden und Essays findet sich in: Friedrich Dürrenmatt, Meine Schweiz – Ein Lesebuch, Zürich 1998.



C. Die Integration von konfessionellen und sprachlichen Minderheiten: Von der Koexistenz zum Pluralismus



Die Verfassung von 1848 stellte einen institutionellen Rahmen dar, der die Einheit der Nation ermöglichte und gesellschaftliche Konflikte auf demokratisch-gewaltfreiem Wege zu lösen versprach. Eine Verfassung ist aber zunächst nur ein rechtliches Dokument, das die Spielregeln der Politik festlegt. Verfolgen wir eines der wichtigsten Spiele unter den neuen Regeln: Wie entwickelte sich die Integration zur schweizerischen Gesellschaft im Rahmen ihrer Verfassung? Wir beschreiben diese Entwicklung zunächst an den zwei wichtigsten Minderheiten, an denen der schweizerische Integrationsprozess als Ganzes entweder scheitern oder aber reüssieren konnte: den Katholiken und den sprachlichen Minderheiten.



1. Der politische Katholizismus



Mitte des 19. Jahrhunderts waren etwa 40 Prozent der schweizerischen Bevölkerung katholisch, wobei die Kantonsgrenzen nur teilweise mit den konfessionellen Grenzen übereinstimmten. 1860 waren zehn Kantone überwiegend protestantisch (über 75 Prozent) und elf mehrheitlich kleinere Kantone katholisch (über 85 Prozent). Nach offiziellen Statistiken wiesen nur Genf, Graubünden, Aargau und St. Gallen ausgeglichenere Verhältnisse aus. Obschon die Katholisch-Konservativen einen annehmbaren Verfassungskompromiss erreicht hatten, wählten sie nach 1848 eher die Isolation als die Integration. Sie zogen sich auf ihre Kantone zurück und überliessen der freisinnigen Mehrheit die Initiative für nationale Projekte im jungen Staat. Die katholischen Stammgebiete waren vorwiegend ländlich und noch wenig berührt von den industrialisierten Gebieten der fortschrittlich-protestantischen Mehrheit. 1871 wandte sich das Erste Vatikanische Konzil gegen die Säkularisierung, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt sowie die Trennung von Kirche und Staat und versuchte, die Stellung des Papstes als verbindliche Autorität in allen Lebensbereichen auszubauen. Die politische Rückzugshaltung der Katholiken verstärkte sich zur Segregation und zur Herausbildung einer

«katholischen Sondergesellschaft»

 (Altermatt 1989:97 ff.): In den Jahren nach der Gründung des Bundesstaates hatten die katholischen Kantone ihr konfessionelles oder von der Kirche geleitetes Erziehungswesen schrittweise ausgebaut; 1889 kam mit der Universität Freiburg eine katholische Hochschule dazu. Ein dichtes Netz sozialer und vorpolitischer Organisationen hielt Katholiken jeglicher Schicht zusammen und sicherte die Nähe zur Kirche – auch in der schweizerischen «Diaspora», wo sie in der Minderheit waren. Die Katholiken bauten nicht nur ihre Partei und ihre eigenen Gewerkschaften auf, sondern ebenso ihre Zeitungen und Buchhandlungen. In gemischten Gebieten wussten sie, welches der katholische Metzger, Schlosser, Schreiner war. Sie gingen in «ihr» Gasthaus und kauften loyal katholisch ein, selbst wenn die Qualität des protestantischen Konkurrenten besser war. Diese Art von Segregation fand sich auch auf der anderen Seite, wenngleich nicht im selben Ausmass: Der protestantischen Schweiz fehlte die politische Führung durch eine konfessionelle Partei, die, wie auf der katholischen Seite, alle sozialen Schichten auf einer gemeinsamen Basis zusammengefasst hätte. Vor allem aber widersprach eine gesellschaftliche Segregation auf religiöser Grundlage dem Anliegen des freisinnigen Laizismus selbst: Dieser wollte die Trennung von Kirche und Staat und deklarierte den religiösen Glauben als Privatsache. So war das Ziel des Freisinns nicht eine protestantische Segregation, sondern die Bekämpfung der gesellschaftlich dominierenden Rolle der Kirche, wie sie die romtreuen Katholiken anstrebten. Es erstaunt deshalb nicht, dass sich der konfessionelle Konflikt zuspitzte – vor allem in den paritätischen Kantonen. Die Geschichtsbücher sprechen dabei vom

Kulturkampf

, in welchem es zwar in der Sache weniger um die Konfession selbst als um die Gegensätze zwischen dem (katholisch-konservativen) Lager der Kirchentreuen und dem (protestantisch-freisinnigen) laizistischen Lager ging. Trotzdem vertiefte sich die gesellschaftliche Spaltung den Konfessionen entlang, und es mag kein Zufall sein, dass die Bundesstadt Bern das Zentrum der Christkatholischen Kirche wurde, die sich in vielen Ländern als Abspaltung nach dem Ersten Vatikanum bildete: Der Freisinn sah darin ein willkommenes «Anti-Rom» gegen die unzuverlässigen «Ultramontanen», also romtreuen Katholiken.



Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 fiel in die Zeit des Kulturkampfs. Die freisinnige Mehrheit setzte dabei ihren laizistischen Standpunkt konsequent durch und diskriminierte die katholische Minderheit in einigen Verfassungsbestimmungen (siehe

Kasten 2.3

). Erst hundert Jahre später wurden die beiden diskriminierenden Verfassungsartikel (Jesuiten- und Klosterverbot) durch Volksabstimmungen aufgehoben. 2001 haben Volk und Stände schliesslich der Aufhebung der letzten konfessionellen Ausnahmebestimmung in der Bundesverfassung, des sogenannten Bistumsartikels, zugestimmt. Bis es aber so weit war, vergingen vier Generationen, und der Konfessionskonflikt wurde dabei weit weniger durch politische Aktion «gelöst» als durch die Entwicklung abgekühlt.



Die gesellschaftliche Entwicklung hat diese Abkühlung des Konfessionskonflikts in vielfacher Weise unterstützt. Der Modernisierungsprozess wirkte der Segmentierung zwischen Katholiken und Protestanten entgegen. Die Migration über konfessionelle Grenzen hinweg führte zu gemischten Kantonen, Städten und Gemeinden, aber auch zur stärkeren Verbreitung von Mischehen. Das wiederum förderte Toleranz und Zusammenarbeit. Die geringere politisch-konfessionelle Polarisierung begünstigte pragmatische Lösungen im sozialen Leben: In kleineren Gemeinden, wo zwei Gotteshäuser zu teuer wurden, benutzen heute Katholiken und Protestanten die gleiche, «paritätische» Kirche. Die katholische Gesellschaft nahm vermehrt an der Industrialisierung teil; nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand ihre wirtschaftliche und soziale Sonderstellung. Katholisches «Ghetto» und «Milieu-Katholizismus» lösten sich auf und gaben Raum für die Entwicklung eines weltoffenen politischen Katholizismus. 1971 änderten die Katholisch-Konservativen ihren Namen in «Christlichdemokratische Volkspartei». Mit der Akzeptanz der Trennung von Kirche und Staat und einer sozial verpflichteten Marktwirtschaft vollzog die CVP in der Nachkriegszeit ähnliche Wendungen des politischen Katholizismus wie die Christlich-Demokratische Union (CDU) in Deutschland oder die

Democrazia Cristiana

 (DCI) in Italien.



Kasten 2.3:

 Die wichtigsten Streitpunkte zwischen Katholiken und Protestanten in der Verfassungsrevision 1874



Die Verfassungsrevision von 1874 war stark vom Kulturkampf geprägt, welcher seinen Höhepunkt um 1870 erreicht hatte. Die liberale Verfassung von 1874 zielte auf einen laizistischen Staat und entband die Kirche von allen öffentlichen Funktionen. Mehrere ihrer Bestimmungen belegen den antiklerikalen Charakter des freisinnig dominierten Staats und vereinzelt auch die Diskriminierung der Katholiken. Streitpunkte, die im Sinne der laizistischen Mehrheit gelöst wurden:





 Jesuitenverbot (Art. 51 der alten Bundesverfassung von 1874 , 1973 aufgehoben)



 Verbot neuer Orden und Klöster (Art. 52 aBV, 1973 aufgehoben)



 Die Errichtung von Bistümern auf schweizerischem Gebiet unterliegt der Genehmigung des Bundes (Art. 50.4, 72.3 BV, 2001 aufgehoben).



 Feststellung und Beurkundung des Zivilstandes ist Sache der bürgerlichen Behörden (Art. 53 aBV).



 Das Recht zur Ehe steht unter dem Schutze des Bundes (Art. 54 aBV).



 Die geistliche Gerichtsbarkeit ist abgeschafft (Art. 58 aBV).



 Die Kantone sorgen für genügenden Primarunterricht, der ausschliesslich unter staatlicher Leitung stehen soll (Art. 27.1 aBV).

 



 Die öffentlichen Schulen sollen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können (Art. 27.3 aBV).



 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich (Art. 49 aBV).



 Die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet (Art. 50 aBV).





Soweit diese Bestimmungen nicht aufgehoben wurden, sind sie heute auf der tieferen Gesetzesebene oder nur in allgemeiner Form in der neuen Verfassung festgeschrieben: Das Verhältnis von Kirche und Staat wird in Art. 72 geregelt, das Recht auf Ehe und Familie in Art. 14, die Glaubens- und Gewissensfreiheit in Art. 15, Schule und Schulhoheit in Art. 19, 62 und 66 (Rhinow 2000; BV 1999).



Entscheidend neben der gesellschaftlichen Entwicklung aber war die Integration der Katholiken auf der

politischen

 Ebene. Dazu trug zunächst der Föderalismus bei. Er liess die katholischen Kantone ihre eigene Kultur bewahren, und dies sogar dort, wo der Bund eigene Kompetenzen besass. Obwohl den Freisinnigen z. B. das Monopol des öffentlichen Schulwesens wichtig war, erlaubte die Kantonsautonomie keine einseitige, hoheitliche Durchsetzung des Bundesanspruchs: Noch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in einzelnen Kantonen konfessionell getrennte Schulen. Auch die Trennung von Kirche und Staat wird bis heute kantonal unterschiedlich konsequent gehandhabt. Vor allem aber gewann die katholische Minderheit schrittweise Einfluss im Bund. 1848 blieb sie Minderheit im Parlament (National- und Ständerat), und der Freisinn besetzte während Jahrzehnten alle sieben Bundesratssitze. Nach der Einführung des fakultativen Referendums 1874 brachten die Katholisch-Konservativen allerdings zahlreiche Gesetze und Beschlüsse zu Fall. Von da an brauchte der Freisinn die Unterstützung der Konservativen, um Erfolg für bestimmte Vorlagen zu haben, und trat ihnen dafür 1891 einen ersten Bundesratssitz ab (Bolliger/Zürcher 2004). 1918 erreichten die Katholiken zusammen mit den Sozialdemokraten die Einführung des Proporz-Wahlsystems für den Nationalrat, was das Ende der Mehrheitspolitik des Freisinns bedeutete. Da von diesem Zeitpunkt an keine der Parteien mehr als ein Drittel der Sitze in der Volkskammer zu besetzen vermochte, wurde die Koalition mindestens zweier Parteien erforderlich. Freisinn und Katholisch-Konservative, die historischen politischen Gegner, verbanden sich als die beiden wichtigsten Parteien des Bürgerblocks in Regierung und Parlament gegen die politische Linke – eine Konsequenz nicht zuletzt des erwachten Klassenkampfes.



Die Integration der Katholiken vollzog sich damit über politischen Machtgewinn, genauer: über die Teilnahme an der Macht in der Gesetzgebung, in der Regierung und später auch in den Spitzenpositionen der Verwaltung und Gerichte. Das wiederum sicherte dem katholischen Teil der Gesellschaft Einfluss, Beachtung und Erfolg. Längerfristig schwand allerdings mit der Überwindung der konfessionellen Spaltung die frühere Bedeutung des politischen Katholizismus. Durch ihre Position der Mitte zwischen den bürgerlichen und nicht bürgerlichen Lagern, welche die CVP seit 1959 suchte, konnte sie ihren politischen Erfolg lange halten und spielte dadurch gerade im Bundesrat oft das Zünglein an der Waage. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts musste die Partei jedoch einen stetigen Wählerschwund hinnehmen und verlor Ende 2003 einen ihrer beiden Bundesratssitze. Die Spaltung zwischen Laizismus und christlich-konservativen Werten äussert sich zwar auch heute noch, wie Diskussionen um Schwangerschaftsabbruch, künstliche Befruchtung oder gleichgeschlechtliche Partnerschaft zeigen. Sie hat sich aber von der konfessionellen Spaltung (Katholizismus gegen Protestantismus) wegbewegt und artikuliert sich eher an Auseinandersetzungen zwischen religiösen und nicht religiösen Menschen (Linder et al. 2008:52; Geissbühler 1999; Rapp et al. 2014; Heidelberger et al. 2015:22).



Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass die Diskriminierung der Katholiken (Jesuiten- und Klosterverbot) erst nach hundert Jahren aus der Verfassung entfernt wurde. Die vergleichende Untersuchung von Lijphart (1980) über die Wahlmotive in den multikulturellen Gesellschaften der Schweiz, Belgiens, Kanadas und Südafrikas zeigt überdies, dass die konfessionelle Konfliktlinie hierzulande noch Anfang der 1970er-Jahre bedeutsamer war als der Gegensatz zwischen den Sprach- und sozialökonomischen Gruppen. Religiös-kulturelle Gegensätze, die grundlegende Werte und Einstellungen betreffen, lösen Konflikte aus, die politisch offensichtlich nicht über Nacht gelöst werden können (vgl. auch Siroky et al. 2017). Sie brauchen Zeit, um auszukühlen; unter Umständen auch längere Perioden des Nichtentscheidens, um ihr Wiederaufleben zu verhindern.



2. Mehrsprachigkeit: Verständnisse und Missverständnisse



Heute sprechen rund 71 Prozent der Wohnbevölkerung schweizerischer Nationalität Deutsch, 23 Prozent Französisch, 6 Prozent Italienisch, 0,7 Prozent Rätoromanisch und 11 Prozent eine Nichtlandessprache.

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 Die gesellschaftliche Integration der Sprachminderheiten und die Verhinderung einer politischen Hegemonie der Deutschschweiz über die anderen Landesteile war die zweite bedeutende Integrationsleistung des Bundesstaats. Die sprachlich-kulturelle Spaltung und ihre Konflikte unterscheiden sich von der konfessionellen in zweierlei Hinsicht: Auf nationaler Ebene wurde sie einerseits

kaum je so virulent

 wie der konfessionelle Konflikt in Zeiten des Kulturkampfs. Bei der Schaffung des neuen Bundesstaates 1848 stellte die Mehrsprachigkeit noch keinen zentralen Faktor für eine schweizerische Identität dar. Das Vorhandensein mehrerer Sprachen wurde von der politischen Elite kaum thematisiert. Die Tagsatzung nahm den Verfassungsartikel über die Sprachen (Art. 109 BV 1848) einstimmig an, doch sah sie in ihm mehr eine administrative Regelung denn eine symbolische Bedeutung (Widmer et al. 2004:118).



Andererseits blieben die sprachlich-kulturellen Gegensätze in der Schweiz

bis heute erhalten

. Sie sind in der Gesellschaft nach wie vor erlebbar und bilden Anlass häufiger Diskussion. Zahlreiche Publikationen dokumentieren über den sogenannten «Röstigraben» hinaus die kulturellen Unterschiede zwischen Französisch- und Deutschsprachigen, das gegenseitige Auseinanderleben der Landesteile oder die wirtschaftliche Dominanz der Deutschschweiz über die Romandie (Zürcher 2006; Büchi 2003; Kriesi et al. 1996; Du Bois 1991; Favez 1983; Knüsel 1994; Ruffieux 1983b). Die historische Analyse der Volksabstimmungen zeigt jedoch, dass die Gegensätze nach einem Höhepunkt Ende des letzten Jahrhunderts auf ein recht tiefes Niveau gefallen sind und sich thematisch wandeln (Linder/Zürcher/Bolliger 2008). Stand in den 1990er-Jahren ein zunehmender Dissens zwischen Romandie und Deutschschweiz bei Umweltfragen im Vordergrund (Trechsel 1994), so fallen heute vor allem die Differenzen in sozial- und aussenpolitischen Fragen auf.



Für den Schutz und die Integration der sprachlich-kulturellen Minderheiten sind folgende vier Elemente bedeutsam:



1. Sprachenfreiheit und verfassungsmässiger Schutz der vier Landessprachen:

 Art. 18 und 70 BV garantieren den Schutz der vier Landessprachen. Weder Kantone noch Gemeinden können gezwungen werden, ihre Amtssprache zu ändern. Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sind allesamt als National- und Amtssprachen definiert.

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 So erscheint der Titel «Schweizerische Eidgenossenschaft» auf Banknoten und allen offiziellen Dokumenten in allen vier Sprachen. Die praktische Umsetzung der Vielsprachigkeit des Bundes findet allerdings schnell Grenzen. Anders als etwa in Kanada oder Belgien gibt es keine Pflicht des Bundes zur Übersetzung all seiner Dokumente in alle Amtssprachen. Insbesondere Übersetzungen ins Rätoromanische, das nur von etwa 42 000 Personen gesprochen wird, finden sich nur für die wichtigeren Gesetzestexte. Das in Graubünden beheimatete Rätoromanisch ist also bloss eine «Teilamtssprache». Wichtig ist der Umstand, dass nicht Volksgruppen im Sinne von ethnisch-kulturellen Minderheiten geschützt sind, sondern nur die Sprachen der im Übrigen gleichen Bürgerinnen und Bürger. Dies bedeutet eine Absage an jede Idee eines «völkischen» Staats oder von Vorrechten einzelner Gruppen. Recht und Politik in der Schweiz wollten Multikulturalität gerade nicht durch sprachlich-ethnische Gruppenrechte sichern, sondern durch die Betonung eines allgemeinen Staatsbürgertums und einer von individuellen Grundrechten geprägten Verfassungsgesellschaft.



2. Föderalismus:

 Dem Föderalismus wird oft eine bedeutende Rolle für den Schutz der Sprachminderheiten zugesprochen. Dies hält genauerer Analyse nur teilweise stand und bedarf zumindest der Präzisierung. Zwar sichert die kantonale Autonomie die kulturellen Eigenheiten der Französisch- und Italienischsprechenden – doch nur so weit, als Romands und Tessinerinnen mit ihren Kantonen auch eigene politische Herrschaftsgebiete zu bilden vermochten. Generell schützt der Föderalismus nur räumlich segmentierte Minderheiten, die auf unterer Ebene zu politischen Mehrheiten werden. Damit ist die gleichberechtigte Vielsprachigkeit zunächst nur auf Bundesebene und im Verhältnis zwischen den Kantonen geschützt. Was den Umgang mit kantonsinternen Sprachminderheiten angeht, lässt die politische Autonomie alles offen. Einzelne zweisprachige Kantone (Wallis, Freiburg und Bern) oder der dreisprachige Kanton Graubünden kennen spezielle Statute für ihre Sprachminderheiten. Im Übrigen herrscht das Prinzip der Assimilation vor: Die Kantone verlangen von anderssprachigen Bürgerinnen und Bürgern, dass sie sich in den Schulen oder im Umgang mit Amtsstellen in der Sprache des Kantons bzw. der Gemeinde ausdrücken. Ein St. Galler in der Waadt wird also Französisch sprechen müssen und kann sich nicht auf die Tatsache berufen, dass Deutsch eine Landessprache ist. Damit sind die Auswirkungen des Föderalismus ambivalent. Er führt in den räumlich segmentierten Verhältnissen der Schweiz zu einem doppelten Modell: Auf Bundesebene schützt er die Gleichberechtigung der Sprachen, während er auf kantonaler Ebene der vorherrschenden Sprachmehrheit die Durchsetzung eines Assimilationsmodells durchaus erlaubt. Der Schutz von Minderheiten in gemischtsprachigen Kantonen schliesslich beruht typischerweise auf Garantien der verfassungsmässigen Sprachenfreiheit und nicht des Föderalismus.

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 Das Territorialprinzip schützt die bestehende Zugehörigkeit einer Gemeinde zu einer Sprachgemeinschaft, auch wenn sich das numerische Verhältnis wegen der Zuwanderung Anderssprachiger in einer Gemeinde stark ändert. Das hat dazu beigetragen, dass der Sprachenfrieden erhalten geblieben ist (Altermatt 1996:142 f.).



3. Proportionale Vertretung der Sprachgruppen:

 Entscheidend sind die Regeln zur proportionalen Teilhabe der sprachlichen Minderheiten an der politischen Macht. Da die unterschiedlichen Sprachkulturen nicht räumlich dispers verteilt, sondern auf ihre Kantone konzentriert sind, bot ihre proportionale Repräsentation im Parlament wegen der kantonalen Wahlkreise kein Problem. Mit der Einrichtung eines siebenköpfigen, gleichberechtigten Regierungskollegiums und mit der bis 1999 geltenden Verfassungsvorschrift, dass aus einem einzelnen Kanton nur ein Mitglied in den Bundesrat gewählt werden kann, wurden von Anfang an günstige Voraussetzungen zur proportionalen Machtteilung in der Exekutive geschaffen. Die Kantonsklausel wurde zwar 1999 abgeschafft; so fanden sich 2003–2007 erstmals zwei Zürcher und seit 2010 ein Berner und eine Bernerin im Bundesrat. Bei der Wahl beachtet die Bundesversammlung aber weiterhin die politische Tradition, dass die Romandie durch (mindestens) zwei Bundesräte vertreten ist. Die Vertretung der Italienischsprechenden wird in jüngster Zeit weniger beachtet. Sie ging meistens zulasten der Deutschschweiz, sodass sich der Bundesrat oft aus vier Mitgliedern deutscher, zwei Mitgliedern französischer und einem Mitglied italienischer Sprache zusammensetzte.

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 Darüber hinaus ist es zu einer allgemeinen Proportionalisierung der Parlamentskommissionen, der Spitzenpositionen in Behörden und in allen Rängen des Verwaltungspersonals beim Bund gekommen. Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass diese proportionale Verteilung recht genau eingehalten wird.

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 Allerdings müssen die Sprachminderheiten ein wachsames Auge dafür haben, dass ihre Ansprüche beachtet werden. Sonst drohen sie schnell vergessen zu gehen, wie im Nationalrat, wo in der 47. Legislatur (2003–07) praktisch alle Kommissionspräsidien an Personen aus der Deutschschweiz übertragen wurden, obwohl gemäss Parlamentsgesetz (Art. 43.3) die Amtssprachen und Landesgegenden so weit möglich angemessen berücksichtigt werden sollen.

 



Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, handelt es sich hier nicht um festgeschriebene Rechtsansprüche, sondern um «politische» Quoten, die sich als Usanz herausgebildet haben und an denen festgehalten wird, weil sie sich bewährt haben. Politische Quoten haben in der Schweiz erstaunliche Resultate für die proportionale Repräsentation der verschiedenen Sprachteile erbracht. Freilich garantiert proportionale Vertretung noch keine proportionale Einflussnahme. Stellen wir uns eine Verhandlungsrunde mit sieben Deutschschweizern, zwei Romands und einer Tessinerin vor. Das entspricht realen Verhältnissen und bevorzugt sogar ein wenig die Südschweiz. Allerdings können nun die sieben Deutschschweizer mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, ohne überhaupt die Argumente der andern zur Kenntnis zu nehmen. Und die andern müssen Deutsch lernen, bevor sie überhaupt verstehen, worum sich die Diskussion dreht. Natürlich haben die Minderheiten das Recht, Französisch oder Italienisch zu sprechen. Sie finden sich aber im Dilemma: Reden sie in der Muttersprache, werden sie von den Deutschschweizern vielleicht gar nicht verstanden; reden sie Deutsch, werden sie ihre Argumente weniger gewandt vorbringen können.



Tabelle 2.1:

 Vertretung der verschiedenen Sprachgruppen in den Bundesbehörden und der Bundesverwaltung, in Prozent




Deutsch

Französisch

Italienisch

Rätoromanisch

Bevölkerung (nur CH-Bürger)

71,3

23,2

6,1

0,7

Repräsentation

Bundesrat

57,1

42,9

0

0

Bundesgericht

60,5

31,6

7,9

0

Nationalrat

72,5

23,0

4,5

1,5

*

Ständerat

73,9

21,7

4,4

0

Ausserparlamentarische Kommissionen

71,5

23,1

5,5

0

Kommissionspräsidenten des Nationalrates

84,6

7,7

7,7

0

Kommissionspräsidenten des Ständerates

66,7

25,0

8,3

0

Bundesverwaltung

– Ganze Bundesverwaltung

71,3

21,6

6,8

0,3

– Topkader (Klassen 34–38)

72,5

21,9

4,8

0,8



Quellen:

 Bevölkerung: BFS (2016a; Zahlen für 2014); Bundesrat, Bundesgericht und Kommissionen: eigene Berechnungen (2016); Bundesverwaltung: EFD (2015:14 und 17; Zahlen für 2014).

*

Die drei Romanisch sprechenden Nationalräte Campell, Candinas und Semadeni (alle GR) wurden auch der Deutsch bzw. Italienisch sprechenden Gruppe hinzugerechnet. Wir danken Clau Dermont, Uni Bern, für diesen Hinweis. Ausserparlamentarische Kommissionen: Stand 2009.



Wir stehen also trotz verfassungsmässiger Sprachenfreiheit, Föderalismus und proportionaler Vertretung vor der Situation, dass die sprachlichen Minoritäten politisch benachteiligt bleiben können. Was sind die Gründe dafür, dass dies nicht systematisch, also ständig geschieht? Die Antwort kann auf zwei Ebenen gefunden werden. Beobachter weisen oft auf die Sensibilitäten der deutschsprachigen Mehrheit hin: Es wird tunlichst vermieden, die kulturell-sprachlichen Minderheiten vor den Kopf zu stossen. Diese politische Rücksichtnahme muss nicht unbedingt als typisch schweizerisch interpretiert werden; man kann sie auch als einen Fall «angemessenen» Verhaltens sehen, das Rollenträger je nach den Bedingungen ihrer Institutionen entwickeln (March/Olsen 1989). Für das Verhaltensmuster sprachlich-kultureller Rücksichtnahme waren wohl gleich mehrere Faktoren von Bedeutung. Erstens war der Sprachgegensatz kein ständiger und zentraler Gegenstand der politischen Auseinandersetzung; wirtschaftlich-soziale Interessengegensätze hatten zumeist grössere Bedeutung. Zweitens sind sprachliche und konfessionelle oder wirtschaftlich-soziale Konfliktlinien nicht deckungsgleich. Die Romands sind nicht zugleich die Katholischen oder die wirtschaftlich Schwächeren. Vor allem aber war entscheidend, dass sich die politischen Parteien über die Sprachgrenzen hinaus national entwickelten. Unter diesen Bedingungen werden die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Konflikte nicht ethnisch-kulturell organisiert wie etwa in Belgien. Das führte drittens dazu, dass Romands oder Tessiner sich manchmal in der Mehrheit befinden, während auch Deutschschweizer die Rolle der politischen Minderheit erfahren. Wechselnde Koalitionen begünstigen Rücksichtnahme auf kulturelle Minderheiten, weil man sie irgendwann als Mehrheitsmacher benötigt. Insgesamt sind dies auch günstige Bedingungen für die Neutralisierung des sprachlich-kulturellen Konflikts.



4. Sprachenförderung:

 Die Mehrsprachigkeit erfordert öffentliche Aufwendungen und Umverteilungen zugunsten der kleineren Sprachgruppen. Solche Kosten werden akzeptiert. Regelmässige Umfragen belegen, dass eine grosse Mehrheit der Schweizerinnen der Meinung ist, dass die Medien einen positiven Beitrag zur Integration in der Schweiz leisten (Steinmann et al. 2000:163; BR 2016a). Im Vorfeld der Volksabstimmung zur Revision des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen (RTVG) vom 14. Juni 2015 gaben 54 % der Stimmbürger an, mit der SRG eher zufrieden zu sein; weitere 18 % waren sogar sehr zufrieden (gfs.bern 2015:77). Ausser für das Rätoromanische wird für jede Sprachgruppe ein volles Fernseh- und Radioprogramm unterhalten. Die kleinste TV-Anstalt, «Radio Televisione della Svizzera Italiana», erhielt 2015 21,8 % aller Gebühren- und Werbeeinnahmen, was etwa dem Fünffachen des Bevölkerungsanteils und der Einnahmen entsprach (SRG 2015:10). Die RTVG-Revision wurde dann allerdings nur sehr knapp, mit 50.08 % Ja und lediglich 3649 Stimmen Unterschied, angenommen (BFS 2016a). Gleich wie bei der Zufriedenheit zeigten sich auch hier starke Unterschiede zwischen deutsch- (47.6 % Ja) und französischsprachiger Schweiz (58.6 % Ja; ibid.).



Schweizer empfinden die Mehrsprachigkeit ihres Landes als normal oder sind sogar stolz darauf. Allerdings ist es ein Mythos zu glauben, die Mehrsprachigkeit des Landes führe zur ausgeprägten Mehrsprachigkeit ihrer Einwohner. Nur eine Minderheit nutzt Medien der anderen Landessprachen, womit auch die politische Kommunikation segmentiert bleibt. Schweizerinnen und Schweizer verständigen sich im persönlichen Gespräch leidlich über die Sprachgrenzen hinweg. Auch lassen sich viele Beobachtungen über die Sprachverhältnisse auf das gesellschaftliche Leben übertragen: Die kulturellen Eigenheiten und Unterschiede zwischen Romands, Deutschschweizern, Tessinern und Rätoromanen bleiben trotz politischer Integration erhalten. Diese Differenzen bereichern heute das gesellschaftliche Leben, erschweren es manchmal, sind aber nur in seltenen Fällen direkte Ursache politischen Konflikts. Zum Teil ist das Zusammenleben der Sprachkulturen auch bloss ein Getrennt-Leben in den Kammern der Sprachregionen. Der Kantonsföderalismus bewahrt die horizontale Segmentierung der schweizerischen Gesellschaft und ermöglicht es den Tessinern, Romands, Rätoromanen und Deutschschweizern, nebeneinander zu leben, ohne sich gegenseitig zu stören (Watts 1991, 1996). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehren sich aber die Hinweise, dass sprachlich-kulturelle Fragen nationaler Bedeutung nicht mehr bloss an die Kantone delegiert werden können, sondern eine integrale Sprachpolitik erfordern (Watt