Schweizerische Demokratie

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Zum politisch virulentesten Integrationsproblem haben freilich die Beziehungen zwischen der einheimischen und der ausländischen Wohnbevölkerung sowie den Flüchtlingen aus der weltweiten Migration geführt. Seit den 1950er-Jahren verlangten verschiedenste Wirtschaftsbranchen den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte. Diese kamen aus Italien, Deutschland, Frankreich, Österreich, später aus Spanien, Portugal, Jugoslawien und der Türkei. Mit den Freizügigkeitsabkommen von 2007 und 2009 erhielten Arbeitskräfte aus dem gesamten EU-Raum freien Zugang zum schweizerischen Arbeitsmarkt. Das hat die Zuwanderung verstärkt, auf durchschnittlich 81 000 Personen netto pro Jahr für die Periode von 2007 bis 2015 (BFS 2016a).28 Bezogen auf die einheimische Bevölkerung, sind das zum Teil höhere Zuwanderungsraten als diejenigen klassischer Einwanderungsländer wie Australien oder Kanada. Insgesamt lebten 2015 rund 2,1 Millionen oder knapp 25 % Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz. Die Schweiz ist also zu einem Einwanderungsland geworden.

Hinzu kommt die Einwanderung von Flüchtlingen. Viele von ihnen sind Opfer einer innerstaatlichen Verfolgung, von kriegerischen Gewaltereignissen oder von Naturkatastrophen. Sodann gibt es einen beträchtlichen Anteil von Asylsuchenden, die aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen. Diese Süd-Nord-Migration beruht vor allem auf dem Produktivitätsgefälle zwischen reichen und armen Ländern, das bis 250:1 betragen kann und in der Geschichte noch nie so hoch war wie heute. Wer in einem Land Afrikas ein Jahr lang arbeiten muss für das, was in Europa in einem Tag verdient werden kann, hat Grund auszuwandern, auch wenn er weder eine Einreisebewilligung noch einen Job in Aussicht hat. Diese Armutsflucht wird ohne wirtschaftlichen Nord-Süd-Ausgleich auf absehbare Zeit nicht verschwinden. «Either poor countries will become richer, or poor people will move to rich countries», so das Fazit des Ökonomen Branko Milanovic. Politische wie Armutsflüchtlinge haben auch in der Schweiz zu einer starken Zunahme von Asylsuchenden geführt. So bilden heute Asylsuchende einen erheblichen Teil der Zuwanderung. Im Jahre 2015 stellten knapp 40 000 Personen ein Asylgesuch – so viele wie seit 1998/9, dem Höhepunkt des Kosovo-Krieges, nicht mehr. Ein Sechstel der Gesuche wurden im gleichen Zeitraum bewilligt; rund 8000 Personen erhielten eine vorläufige Aufnahme. Die amtliche Statistik weist per Ende 2015 knapp 70 000 Personen im Asylprozess aus (BFS 2016a).

Probleme des Zusammenlebens zwischen Einheimischen und Zugewanderten erwiesen sich seit Beginn einer grösseren Zuwanderung seit den 1960er-Jahren als unausweichlich: Konflikte am Arbeitsplatz, unterschiedliche Mentalitäten und Lebensweisen, geringes gegenseitiges Verständnis europäischer und aussereuropäischer Kultur, Minderheitssituationen von Schweizern in der Schule oder am Arbeitsplatz bargen zunehmend sozialen Sprengstoff. Die Frage der sozialen Integration der Zugewanderten wurde während langer Zeit verdrängt. In den 1970er-Jahren entstanden fremdenfeindliche Parteien. Sie verlangten auf parlamentarischer Ebene und mit Volksinitiativen Beschränkungen des Fremdarbeiterbestandes und weitere Massnahmen gegen die «Überfremdung» der Schweiz. In den 1980er-Jahren konzentrierten sich die Überfremdungsparteien vor allem auf das Problem der Asylsuchenden aus der Dritten Welt. Seit den 1990er-Jahren hat die SVP die Probleme der Ausländer- und Asylpolitik zu einem ihrer Hauptthemen gemacht. Sie stellte sich in Referenden gegen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Länder (2005, 2007, 2009), gegen das Schengen-Dublin-Abkommen (2005) und gegen die erleichterte Einbürgerung von Ausländern der zweiten Generation (2004, 2017). Auf parlamentarischer Ebene setzte sie verschiedene Verschärfungen des Asylrechts durch. Den Volksinitiativen für ein Minarettverbot (2009) und die Ausschaffung krimineller Ausländer (2010) – von der SVP mit Polemik beworben – war unerwarteter Erfolg beschieden. Einen anhaltenden politischen Konflikt mit der EU bescherte 2014 die Annahme der Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung». Sie verlangte eine eigenstaatliche Beschränkung der Einwanderung durch Kontingente, was Brüssel als unvereinbar mit dem EU-Grundsatz der Personenfreizügigkeit betrachtete und als Gegenstand einer Neuverhandlung der bilateralen Verträge bislang ausschloss.

Einwanderungs- und Asylfragen sind ein politisches Konfliktthema ersten Ranges geworden und haben massgeblich zur Polarisierung im schweizerischen Parteiensystem beigetragen (Linder 2011). Da ist zunächst die Steuerung der Einwanderung. Die Wiedereinführung eines Quotensystems, wie es in den 1990er-Jahren praktiziert wurde, steht heute im Widerspruch zur Personenfreizügigkeit innerhalb der EU. Begrenzende Quotensysteme, wie sie klassische Einwanderungsländer praktizieren, stehen nur für die aussereuropäische, nicht aber für den Hauptteil der Einwanderung aus europäischen Ländern zur Verfügung, solange die Schweiz an das Freizügigkeitsabkommen mit der EU gebunden ist. Die Massnahmen zur Begrenzung der irregulären Migration aus der Dritten Welt wiederum sind in den meisten europäischen Ländern nur begrenzt wirksam. Ein dauerhaftes Problem stellt vor allem die gesellschaftliche Integration von Einwanderungsgruppen dar.

Erstens ist es nicht möglich, Ausländerinnen und Ausländer auf dieselbe Art wie früher die eigenen Minderheiten durch die Politik der Teilhabe zu integrieren. Die ausländische Wohnbevölkerung hat auf nationaler Ebene und in den allermeisten Kantonen und Gemeinden kein Stimm- und Wahlrecht. Sie kann deshalb ihre Interessen nicht auf dem Wege politischer Machtbildung und Integration durchsetzen wie seinerzeit Romands oder Katholiken.

Ein zweites Problem ist die starke Zunahme der Zuwanderung aus aussereuropäischen Ländern, deren Kultur sich deutlich von unseren eigenen Vorstellungen unterscheidet. Nicht nur Weltanschauung und Sprache dieser Gruppen, auch deren strukturelle Kultur (Funktion der Familie, geschlechtliche Rollenteilung, Funktion der Erwerbsarbeit und des Staates, Ehre und Schande oder Recht und Unrecht etc.) unterscheiden sich teilweise stark von unseren eigenen Vorstellungen. Hinter der Frage, ob der muslimische Vater seiner Tochter das Tragen des Kopftuchs in der Schule befehlen darf, steht bekanntlich die Frage, wie weit die religiöse und familiale Kultur einer Immigrantengruppe auch gegen Kernelemente unserer eigenen Gesellschaftskultur verstossen darf (z. B. individuelle Grundrechte und Selbstbestimmung). Dabei stellt sich aber nicht nur die Frage, wie weit unseren eigenen Verfassungsrechten Nachachtung verschafft wird (z. B. bei der Verhinderung von «arranged marriages»), sondern es geht auch um den legitimen Minderheitenschutz von Eingewanderten. Hier ist die direkte Demokratie «fremden» Minderheiten gegenüber weniger offen als den eigenen oder gar diskriminierend (Vatter/Danaci 2010; Vatter 2011), wie die jüngsten Beispiele des Minarettverbots oder der Ausschaffungsinitiative zeigen.

Ein drittes Problem berührt die Grenzen der Einwanderung insgesamt. Nach den Modellen des Entwicklungsökonomen Paul Collier (2013) verlaufen Kosten und Nutzen der Immigration nicht einfach linear. Bis zu einem bestimmten Niveau ziehen die Beteiligten – das Herkunfts-, das Gastland sowie die Einwanderer – allesamt Vorteile. Oberhalb dieser Grenzen überwiegen die Kosten, etwa brain drain für das Herkunftsland oder Anpassungskosten des Gastlands. Vor allem aber nehmen die Probleme sozialer Integration zu: Je grösser eine Einwanderungsgruppe, desto geringer der Anreiz, sich mit Sprache und Kultur des Gastlands auseinanderzusetzen, und desto stärker neigt sie dazu, ihr Sozialleben auf die eigene Gruppe zu beschränken. Integration wird schwieriger, soziale Spannungen zwischen einheimischer und Einwanderungsgesellschaft nehmen zu. Nach Collier sind daher die sozialen Probleme ungesteuerter Einwanderung bedeutender als die ökonomischen Vor- und Nachteile für einzelne Gruppen.

Das vierte Problem weist hin auf die Hypothek fragwürdiger Einwanderungspolitik vergangener Jahrzehnte. Diese war vordergründig von den kurzfristigen Interessen einzelner Wirtschaftszweige an billiger Arbeitskraft geprägt. Im Hintergrund stand ein klammheimlicher Konsens von Links bis Rechts, die unangenehmere oder unqualifizierte Arbeit den Ausländern zu überlassen. Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Zwei-Klassen-Modell, in welchem sich das Konfliktpotenzial der Schichtung von oben und unten mit den Konfliktstoffen zwischen Einheimischen und Fremden verbindet. Erst in jüngerer Zeit zeichnet sich eine Abkehr von diesem hochproblematischen Modell ab: Mit dem Freizügigkeitsabkommen kommen vermehrt qualifizierte, zum Teil hoch qualifizierte Arbeitskräfte in die Schweiz. Darin sehen Unternehmen wirtschaftliche Vorteile. Dem stehen aber wiederum soziale Kosten gegenüber: Die Skepsis gegenüber der Einwanderung, Angst vor wirtschaftlichem Abstieg und Befürchtungen einer Überbevölkerung der Schweiz werden neu auch von jenen Mittelschichten geteilt, welche die Konkurrenz qualifizierter ausländischer Arbeitnehmer spüren (Freitag et al. 2015).

Unter all diesen schwierigen Vorzeichen können sich die Bemühungen der Integrationspolitik durchaus sehen lassen, auch wenn diese nicht alle Einwanderungsgruppen erreicht. Ausländerinnen und Ausländer aller Kategorien geniessen vollen Grundrechtsschutz; wer über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt, nimmt an allen Leistungen des Sozialstaats teil. In der Schweiz wurden 2015 insgesamt 40 000 Ausländer eingebürgert. Das entsprach 4,8 Einbürgerungen pro 1000 Einwohner – ein europäischer Spitzenwert, der sich in anderer Betrachtung allerdings stark relativiert: Bezogen auf die Ausländerbevölkerung, liegen die Einbürgerungen mit 2 Prozent unter dem europäischen Durchschnitt von 2,3.29 Einschlägige Statistiken weisen der Schweiz regelmässig einen Spitzenplatz bezüglich der geringen Arbeitslosigkeit jugendlicher Ausländer oder der Qualität der Berufsausbildung von Secondos zu.30 Einwanderer werden also weniger auf der politischen als der zivilgesellschaftlichen Teilhabe integriert. Das multikulturelle und institutionelle Erbe der Schweiz bleibt trotzdem relevant. Einwanderer haben nicht nur die Möglichkeit vorteilhafter Beschäftigung, sondern auch die Option, in der Schweiz jene Sprachkultur zu wählen, die ihnen am meisten entgegenkommt. Integration ist beidseitiges Geben und Nehmen und realisiert sich lokal. Das dichte soziale Netz etwa der Sportvereine und der Freiwilligenarbeit sowie die grosse Autonomie und Handlungsfähigkeit lokaler Behörden in der Schweiz (vgl. Manatschal 2013) sind günstige Bedingungen, um die Herausforderungen der Integration zu bestehen.

 

1 Mitunter gibt es Verwechslungen zwischen den Begriffen «Staatenbund» und «Bundesstaat». Ein Staatenbund bezeichnet ein Vertragssystem unabhängiger Staaten, während der Begriff «Bundesstaat» oder «Föderation» einen Staat umschreibt, in dem die Macht zwischen einer Zentralregierung und mehreren subnationalen Regierungen geteilt wird, die den Status von Mitgliedstaaten haben. Die Schweiz wird deshalb von 1815 bis 1848 als Staatenbund und seither als Bundesstaat bezeichnet.

2 Zu den sog. «Regenerationskantonen» zählen Aargau, Basel-Landschaft, Bern, Freiburg, Luzern, Schaffhausen, St. Gallen, Solothurn, Thurgau, Waadt und Zürich. Zu den labilen Kantonen, die z. T. wieder in das konservative Lager wechselten, zählt Kölz (1992:223) Luzern, St. Gallen und Freiburg.

3 Altermatt (1996:29 ff.), in seiner Abhandlung zum Ethnonationalismus, unterscheidet «Staatsnation» und «Kulturnation» wie folgt: Für die Kulturnation sind Sprache, Abstammung, Religion und geschichtliche Überlieferung von zentraler Bedeutung. Die Nation wird somit durch vorstaatliche Kriterien gebildet und beruht auf einem ethnischen Nationenbegriff. Hier sind vor allem Deutschland und Italien im 19. Jahrhundert einzureihen, später aber auch die im Zuge des Ethnonationalismus in Ex-Jugoslawien gebildeten Staaten Kroatien, Serbien und Montenegro sowie der Kosovo.

Die Staatsnation hingegen stellt die politische Einheit in den Vordergrund, und zwar als Gemeinschaft von Bürgern, die vor dem Recht gleich sind – unabhängig von Sprache, Religion oder Abstammung. Als Beispiele politischer Nationen können Frankreich, die USA, Grossbritannien oder eben die Schweiz genannt werden. Einen tieferen Einblick in die Geschichte der Nationen und des Nationalismus liefern beispielsweise Hobsbawm (2004) oder Zimmer (2003).

4 Die Landschaft verlangte 1830 die proportionale Vertretung im kantonalen Parlament, d. h. eine Anzahl Sitze entsprechend der Bevölkerungszahl. Nachdem die Stadt dies verweigert hatte, brach ein gewaltsamer Konflikt aus, der Verletzte und Tote forderte. Schliesslich anerkannte die Eidgenossenschaft 1833 die Teilung zwischen Basel-Landschaft und Basel-Stadt in zwei Halbkantone und beendete so den Konflikt. Vgl. Andrey (1983:247–249) und Mueller (2013).

5 Zit. nach Masnata/Rubattel (1991:52). Auf die überragende Bedeutung des wirtschaftlichen Faktors verweisen weitere ältere Wirtschaftshistoriker wie Rappard (1912) oder Nabholz (1954). Neuere historische Arbeiten relativieren sie, so Zimmer (2003). Einen Überblick zum Stand der Diskussion vermitteln die Aufsätze von Hans-Ulrich Jost sowie Patrick Halbeisen und Margrit Müller, beide in: Ernst/Tanner/Weishaupt (1998:91 und 117 ff.). Vgl. auch Kreis (2014).

6 Gemäss Hutson (1991) gibt es mehrere Perioden gegenseitiger Beeinflussung. Besonders wichtig waren drei Etappen: 1) Im Konflikt zwischen amerikanischen Föderalisten und Anti-Föderalisten (d. h. Konföderalisten) verwiesen Letztere auf das schweizerische Modell. 2) Die Schweizer liessen sich 1848 stark von der amerikanischen Verfassung inspirieren, als sie die Prinzipien von Demokratie und Föderalismus kombinierten. 3) Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die schweizerische direkte Demokratie von den amerikanischen Weststaaten als Referenz benutzt, als es um die Einführung von Referendum und Initiative ging. Vgl. auch die Aufsätze von Tobias Kästli und Simon Netzle in Ernst/Tanner/Weishaupt (1998:35 ff. und 49 ff.).

7 Die moderne Föderalismusforschung hat dafür die Begriffe von «shared rule» (Mitwirkung) und «self-rule» (Autonomie) geprägt (vgl. Elazar 1987; Hooghe et al. 2010).

8 Hierbei konnten die Befragten bis zu drei Hauptsprachen angeben. Nimmt man die Gesamtbevölkerung inklusive der ca. 24 % Ausländerinnen und Ausländer als Basis, so verändern sich die Anteile der Sprachgruppen wie folgt: 63 % Deutsch, 23 % Französisch, 8 % Italienisch, 0,5 % Rätoromanisch und 22 % andere Sprachen (BFS 2016b).

9 Rätoromanisch vermochte sich erst 1938 aufgrund eines Vorstosses der Bündner Regierung als offizielle Landessprache zu etablieren (Widmer et al. 2004). Die Revision von 1996 stand unter den Zielen der gleichwertigen Anerkennung der vier Landessprachen, der Förderung von Verständigung und Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften, der Verpflichtung des Bundes zur Unterstützung der Kantone Graubünden und Tessin bei der Spracherhaltung sowie der Aufwertung des Rätoromanischen zur Teilamtssprache (APS 1996:311; APS 1995:295 ff.).

10 Welches Konfliktpotenzial die kulturell-sprachliche Differenz in mehrsprachigen Kantonen bergen kann, zeigt etwa das Beispiel Freiburgs, wo ehemals rein Französisch sprechende Gemeinden wie Marly aufgrund der Migration bedeutende deutschsprachige Minderheiten ausweisen. Ein typischer Konflikt entbrannte ob der Frage, ob deutschsprachige Eltern das Recht hätten, ihre Kinder in die deutschsprachigen Schulen nach Freiburg zu schicken. Solche Konflikte regeln die Kantone grösstenteils selbst im Rahmen ihrer politischen Autonomie. In letzter Instanz wirkt in vielen Fällen das Bundesgericht an der Streitschlichtung mit und bestimmt damit den konkreten Gehalt der verfassungsmässigen Sprachenfreiheit. So hat es zum Beispiel in der Frage des Umgangs mit Behörden für unzulässig erklärt, das Rätoromanische in einem Gebiet als Gerichtssprache auszuschliessen, in welchem der Anteil der Romanischsprechenden nahezu 50 Prozent beträgt (Müller 1991:82). Andererseits ist es nach bundesgerichtlicher Praxis mit der Sprachenfreiheit noch vereinbar, dass im zweisprachigen Freiburger Saanebezirk mit rund 15 000 oder 26 Prozent Deutschsprachigen nur das Französische als Gerichtssprache anerkannt wird (BGE 106 Ia 299 ff.). Hinsichtlich der Unterrichtssprache hat das Bundesgericht in BGE 100 Ia 462 ff. entschieden, eine kleine Bündner Gemeinde sei nicht verpflichtet, für die Angehörigen der romanischsprachigen Minderheit (20 Prozent) Schulklassen zu führen, in welchen Rätoromanisch unterrichtet wird; die Sprachenfreiheit verlange auch nicht, dass die betreffende Gemeinde die Kosten des Schulbesuchs in einer Nachbargemeinde mit rätoromanischer Unterrichtssprache übernehme (Müller 1991:83).

11 Die italienischsprachige Schweiz hatte seit 1848 knapp zur Hälfte der Zeit einen Vertreter im Bundesrat (Giudici/Stojanovic 2016:296). Der gegenwärtig letzte Bundesrat italienischer Muttersprache schied allerdings 1999 aus dem Bundesrat aus.

12 Die mehrsprachigen Kantone kennen wenig formelle Regelungen zur proportional-politischen Vertretung ihrer Sprachminderheiten. Immerhin sichert das Wahlrecht von BE und VS je mindestens einen Sitz für die jeweilige Sprachminderheit in der kantonalen Regierung (vgl. Stojanovic 2017).

13 Zur vertieften theoretischen Auseinandersetzung vgl. Kapitel 11 und 14.

14 Allenfalls liesse sich ein Zusammenhang zu der Stadt-Land Unterscheidung herstellen.

15 Zitiert nach Gruner (1964:40).

16 Vgl. Gruner (1959:335–342); Katzenstein (1984); Linder (1983a); Farago (1987).

17 Vgl. Gruner (1987/88), Jost (1992) und Craig (1988).

18 Zur Geschichte der KPS: Stettler (1980). Zum Verhältnis von KPS und SPS: von Gunten/Voegeli (1980).

19 Dieses verlangte im Gegensatz zur bürgerlichen Politik nicht den Protektionismus einzelner Branchen, sondern die Ankurbelung der allgemeinen Beschäftigung durch verstärkte staatliche Investitionen. Es wäre etwa vergleichbar dem New Deal Roosevelts in den USA oder einem keynesianischen Beschäftigungsprogramm.

20 Zum Wandel der wirtschaftspolitischen Konzeptionen der SP: Scheiben (1987). Zur Haltung der Sozialdemokratie betreffend Wehrfrage: Zanoli (2003).

21 Anders in den Kantonen: Schon um die Jahrhundertwende verschaffte sich die SP in den urbanen Industriekantonen BS, GE und ZH über den freiwilligen Proporz in Volkswahlen Eintritt in die Regierung, und vor Ende des Zweiten Weltkriegs war die SP in den Exekutiven von 15 Kantonen vertreten (AG, AR, BE, BL, BS, GE, GL, NE, SG, SO, SH, TG, TI, ZG und ZH) (Felder 1993).

22 Das Friedensabkommen von 1937 war nicht ganz neu. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Gesamtarbeitsverträge zwischen einzelnen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Allerdings brachte das Friedensabkommen zwei wichtige Neuerungen: Die Arbeitgeber wurden direkt an die Entscheidungen ihrer Organisation gebunden, und Streiks bzw. Ausschliessungen wurden auch für den Fall einer Änderung des Friedensabkommens ausgeschlossen.

23 Zur Diskussion des schweizerischen Neokorporatismus: Kriesi (1980), Linder (1983a), Farago (1987), Armingeon (1996a, 2001).

24 Die Anhörung via Vernehmlassungsverfahren bleibt allerdings in Art. 147 geregelt.

25 Nach einer Studie von Martin Killias et al. (2011) hat sich das Niveau der Kriminalität allerdings weitgehend den Verhältnissen im übrigen Europa angeglichen. Namentlich bei Einbrüchen und Tätlichkeiten/Drohungen lägen die Raten der Schweiz heute höher als in rund der Hälfte der europäischen Länder.

26 Das Jesuiten- und Klosterverbot wurde 1973 aufgehoben. Auch das Schächtverbot, welches das Schlachten von Tieren nach jüdischem Ritus untersagte, wurde aus der Verfassung gestrichen, aber durch ein entsprechendes Verbot im neuen Tierschutzgesetz von 1978 ersetzt. Vgl. APS 1976:89 f., APS 1977:91 sowie APS 1978:87.

27 Vgl. Mesmer (1988); Linder (1988).

28 Zum Vergleich: das durchschnittliche Einwanderungssaldo von Ausländern für die Jahre 1998–2006 betrug 38 000 pro Jahr.

29 Nur Luxembourg ist mit 6,6 Einbürgerungen pro 1000 Einwohner noch aktiver; vgl. Alice Kohli, «Hohe Hürden für den Schweizer Pass», NZZ vom 28.11.2013.

30 Dazu beispielsweise: Equal Opportunities? The Labour Market of Children of Immigrants. OECD Publication 2010, OECD Library. www.oecd.org