Schweizerische Demokratie

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Kapitel 3: Das Volk

«Wenn Sie in der Politik etwas gesagt haben wollen, fragen Sie einen Mann. Wenn Sie etwas getan haben wollen, eine Frau.»

Margaret Thatcher, britische Premierministerin

«Es gibt wohl ausser der Schweiz kein Land in der Welt, das eine so sonderbare Mischung wahrer Natur und menschlicher Industrie darböte.»

Jean-Jacques Rousseau, Philosoph

A. Wer ist das Volk?

«Alle staatliche Macht geht vom Volke aus» – dieser Satz drückt einen Kerngehalt von Konstitutionalismus und Demokratie gleichzeitig aus: Jede politische Herrschaft beruht auf dauerhaften Einrichtungen und auf Entscheidungen, die sich durch den Willen des Volkes zu legitimieren haben. Doch wer ist das Volk? Die formale Antwort ist einfach: alle Stimm- und Wahlberechtigten. Wer aber konkret das Recht hat, an der Demokratie teilzunehmen, war gleichzeitig eine theoretische Streitfrage wie auch ein ständiger Konflikt in der realen Demokratie. Die europäischen Theoretiker liberaler Demokratie des 19. Jahrhunderts sahen die Demokratie als Einrichtung zum Schutz des aufstrebenden Bürgertums. So rechtfertigten sie die realen Beschränkungen des Zensus, der das Wahlrecht nur dem wirtschaftlich selbständigen, verheirateten und männlichen Familienoberhaupt gewährte. Fielen die politischen Rechte auch den Lohnabhängigen zu, so würden diese die Vermögenden enteignen und die «Demokratie als Schutz des Bürgertums» wäre gefährdet. John Stuart Mill war einer der Ersten, die, mit dieser Antwort unzufrieden, als liberale Theoretiker eine Ausweitung hin zum allgemeinen Erwachsenenwahlrecht forderten – freilich mit der interessanten Differenzierung nach geistigem Vermögen: Die gut Ausgebildeten hätten ein mehrfaches, die gering Gebildeten ein einfaches Wahlrecht gehabt (Macpherson 1983). Heute sieht die Demokratietheorie in der geschichtlichen Auseinandersetzung vom beschränkten zum allgemeinen Erwachsenenwahlrecht einen der bedeutsamsten Prozesse politischer wie gesellschaftlicher Demokratisierung. Das Prinzip der «Inclusion», von dem der amerikanische Theoretiker Robert Dahl (1989:119 ff.) spricht, hat sich gegen alle Formen des Zensus durchgesetzt und die Diskriminierungen von Geschlecht, Religion oder Hautfarbe hinter sich gelassen. Dieser geschichtliche Prozess ist jedoch keineswegs abgeschlossen: Noch sind in den meisten Demokratien jene Personen von der Teilhabe ausgeschlossen, die zwar als Einwohner Steuern bezahlen und die meisten zivilen Rechte geniessen, jedoch als Ausländer die Staatsbürgerschaft nicht besitzen. Gleichzeitig wollen viele im Ausland ansässigen Staatsbürger ihre politischen Rechte und Pflichten in ihrer ursprünglichen Heimat wahrnehmen. Und schliesslich könnte man sich auch denken, dass eines Tages zwar nicht Unmündige selbst, aber Eltern stellvertretend für ihre Kinder ein Wahl- und Stimmrecht ausüben, bevor diese mündig sind.1

In der Schweiz sind gegenüber dieser allgemeinen Entwicklung vier Punkte zu nennen: Erstens hat sich hier das allgemeine Männerstimmrecht sehr früh durchgesetzt. Die Einschränkungen des Zensus waren relativ selten. Zweitens finden wir einen Pionierkanton des Ausländerstimmrechts, nämlich Neuenburg, der den Ausländern bereits 1849 ein beschränktes Stimm- und Wahlrecht verlieh. Im Gegensatz zu anderen Innovationen hat sich diese Einrichtung aber nicht auf dem föderalistischen Weg verbreiten können. Drittens erfolgte die Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene im Jahre 1971 sehr spät. Viertens war die Schweiz lange Zeit ein Auswanderungsland. 2015 waren von den fast 750 000 Auslandschweizern rund ein Fünftel (142 000) in einem kommunalen Stimmregister eingetragen und beteiligen sich, als «fünfte Schweiz», am politischen Prozess ihrer Heimat. Zum ersten Mal gelang zudem einem von ihnen, Tim Guldimann (SP), die Wahl in den Nationalrat. Die Punkte zum Ausländer- und zum Frauenstimmrecht sollen kurz kommentiert werden.

1. Ausländerstimmrecht

Wenn Neuenburg den Ausländern bereits 1849 das Stimm- und Wahlrecht in kommunalen Angelegenheiten gab, so hat das seine historische Bewandtnis. Der Bund stipulierte die Niederlassungsfreiheit und die Pflicht, Bürgern aus andern Kantonen die politischen Rechte in Bundesangelegenheiten zu gewähren. Dies wurde nicht überall begrüsst, zumal die Beziehungen zwischen einzelnen Kantonen auch von gegenseitigen Animositäten geprägt waren. Das Argument der Neuenburger lautete nun: Wenn der Bund verlangt, dass kantonsfremden Bürgern politische Rechte gewährt werden müssen, dann ist es nur billig, solche den Ausländern im eigenen Kanton ebenfalls zu geben. Das anfänglich auf die Gemeindeebene beschränkte Stimm- und Wahlrecht für Ausländer wurde 2001 auf die kantonale Ebene ausgeweitet (APS 2000:24). Das Beispiel hat keine Schule gemacht. Zwar gewährt auch der Kanton Jura jenen Ausländerinnen, die seit zehn Jahren in der Schweiz leben und mindestens ein Jahr im Kanton ansässig sind, ein kantonales und kommunales Stimm- und Wahlrecht. Die Kantone Waadt (2002), Genf (2005; nur aktiv) und Freiburg (2006) haben das Stimm- und Wahlrecht für alle Gemeinden eingeführt. Den Gemeinden der Kantone Graubünden (2004), Basel-Stadt (2005) oder Appenzell Ausserrhoden (1995) erlaubt die Verfassung, das kommunale Stimm- und Wahlrecht für Ausländer einzuführen. Die drei Appenzeller Gemeinden Wald (1999), Speicher (2002) und Trogen (2004) haben davon als Erste in der Deutschschweiz Gebrauch gemacht. In den meisten Kantonen und Gemeinden scheiterten Vorstösse zum Stimm- und Wahlrecht für Ausländer jedoch wiederholt im Parlament oder in Volksabstimmungen. Vorlagen des Bundes, die Einbürgerung für Ausländer der zweiten oder dritten Generation stark zu erleichtern und sie auf diese Weise politisch zu integrieren, hatten erst 2017 (Teil-)Erfolg. Hingegen gibt es in der ganzen Schweiz Kirchgemeinden beider Konfessionen, die das Ausländerstimmrecht kennen.

In der Schweiz – mit einem Ausländeranteil von rund 25 Prozent – wäre das Ausländerstimmrecht von besonderer Relevanz. Befürworter bemängeln, dass heute ein erheblicher Bevölkerungsanteil, der bedeutende Leistungen in Wirtschaft und Gesellschaft erbringt, von der politischen Partizipation ausgeschlossen ist. Die heutige Rechtslage ist zudem in einem wichtigen Punkt inkonsistent: Ausländer in der Schweiz zahlen hier Steuern, haben aber kein Stimm- und Wahlrecht; Auslandschweizerinnen dagegen wählen und stimmen, bezahlen aber hierzulande keine Steuern. Das Ausländerstimmrecht wäre auch ein Schritt aktiver Integrationspolitik, an der die Stimmbürgerschaft ein Interesse haben könnte, weil sie der demografischen Alterung des Stimmvolks entgegenwirkt. Offensichtlich überwiegen aber die Bedenken in der Stimmbürgerschaft diese Vorteile. Die Skepsis kann anscheinend auch durch die politologischen Befunde nicht zerstreut werden, wonach das Ausländerstimmrecht keine Veränderungen der parteipolitischen Gewichte bewirkt (Cueni/Fleury 1994:175–183).

2. Frauenstimmrecht

Der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 ging ein langer und schwieriger Prozess voraus. Erste Versuche zur Einführung auf kantonaler Ebene scheiterten 1920/21 in Neuenburg, Basel, Glarus, Zürich, Genf und St. Gallen. 1929 wurde eine mit einer Viertelmillion Unterschriften versehene Petition für ein eidgenössisches Frauenstimmrecht eingereicht. Bundesrat und Parlament reagierten nicht. Erst 1959 kam es zur ersten Bundesvorlage. Die Männer lehnten im Verhältnis 2:1 ab. Im gleichen Urnengang genehmigten allerdings drei Kantone – Basel, Genf und Waadt – sowie eine Reihe von Gemeinden die politische Gleichstellung der Frau. Dies, und die Einführung in weiteren Kantonen, bereitete den Boden für die zweite eidgenössische Abstimmung: 1971 war die politische Gleichberechtigung der Frau erreicht.

Tabelle 3.1: Einführung des Frauenstimmrechts in 21 Ländern


LandJahrLandJahrLandJahr
Spanien1869/1931Österreich1918Italien1946
Finnland1906Irland1918/1922Frankreich1946
Australien1908Niederlande1919Japan1947
Luxemburg1912Deutschland1919Belgien1948
Norwegen1913USA1920Griechenland1952
Island1915Schweden1921Schweiz1971
Dänemark1918Grossbritannien1928Portugal1974

Quelle: Nohlen (1990:33)

Für diesen langen Prozess und seinen späten Erfolg werden unterschiedliche Gründe geltend gemacht. Historikerinnen zeigen, dass es in der Schweiz frühe Frauenbewegungen gab, die aber nach den Rückschlägen in den 1920er-Jahren viel von ihrem Mut verloren hatten, das Frauenstimmrecht überhaupt zu verlangen (Mesmer 1988; Hardmeier 1997). Es sei dahingestellt, ob die schweizerische Gesellschaft in den 1950er-Jahren – verschont von den Sozialkatastrophen der Weltkriege – insgesamt konservativer war als andere, aber in Frauenfragen mag das sicherlich der Fall gewesen sein.2 Als Iris von Roten 1958 ihr Buch «Frauen im Laufgitter» publizierte – ein kritischer und umfassender Bericht zur ökonomischen, politischen und sozialen Benachteiligung der Frau in der Schweiz – wurde das Werk zunächst von der Presse als skandalös zerrissen und die Autorin dann totgeschwiegen.3 Erst 1991 erlebte das Buch eine zweite Entdeckung und wurde als das schweizerische Pendant zu Simone de Beauvoirs «Le deuxième sexe» (1949) oder Betty Friedans «The Feminine Mystique» (1963) gepriesen.

 

Aus politologisch-theoretischer Sicht, so unsere Hypothese, gab es einen zusätzlichen und bedeutenden Faktor, nämlich das Erfordernis der direktdemokratischen Abstimmung. Das fundamentale Problem der demokratischen Einführung des Frauenstimmrechts lag überall darin, dass zur Entscheidung dieser Frage nur die Männer stimmberechtigt waren. Nirgendwo sonst auf der Welt aber wurde das Frauenstimmrecht durch einen direktdemokratischen Entscheid herbeigeführt. Dieser Umstand führte zu einer grundlegend anderen Entscheidungssituation als in repräsentativen Demokratien.

In Repräsentativsystemen gab es inhärente Anreize für die politische Elite, das Frauenstimmrecht einzuführen: Wer dies mit Erfolg versuchte, hatte eine gute Chance, die nächsten Wahlen – mit den Frauen – zu gewinnen. Die einzige Hürde war, dass die Männer mehrheitlich gegen das Frauenstimmrecht sein konnten – wie in der Schweiz. Diese war in repräsentativen Systemen allerdings gut zu überspringen: Die Partei, die das Frauenstimmrecht wollte, machte in ihrer Wahlplattform die übrigen Punkte ihres Programms so attraktiv, dass sie trotzdem von einer Mehrheit gewählt wurde, die ein saures neben vielen süssen Bonbons in Kauf nahm. Man kann dies theoretisch als «Positiv-Summen-Spiel» bezeichnen: eine Situation, bei der alle Beteiligten etwas gewinnen.

In der direkten Demokratie dagegen gab es kaum einen Anreiz für eine Parlamentsmehrheit, durch die Einführung des Frauenstimmrechts eine folgende Wahl zu gewinnen, denn Wahlen haben grundsätzlich eine geringere Bedeutung. Die direkte Demokratie bot auch keine Möglichkeit, den abstimmenden Männern den Verlust ihres Privilegs durch ein Kompensationsgeschäft zu versüssen; anders als Wahlprogramme erlaubt die Volksabstimmung zu einem einzigen Thema keine Kompensationsgeschäfte. Theoretisch war dies also ein Null-Summen-Spiel: Die eine Seite verlor (ihr Machtprivileg), was die andere Seite gewann (die politischen Rechte). So blieben als Ausweg nur die langfristige Überzeugungsarbeit, die zunehmende «Normalität» des Frauenstimmrechts in mehreren Kantonen und vielen Gemeinden sowie der allgemeine Wandel gesellschaftlicher Anschauungen über das Verhältnis von Frau und Mann.4 Dabei hat der Föderalismus eine zwiespältige Rolle gespielt. Einerseits erlaubte er die fortbestehende Benachteiligung von Frauen in den Territorien konservativer Gesellschaft (Ballmer-Cao 2009), andererseits war er eben hilfreich zur Bildung von Brückenköpfen eines politischen Wandels von unten, der erdauert werden musste.

2016 lag der Frauenanteil im Nationalrat mit 32 Prozent trotz später Einführung des Stimm- und Wahlrechts über dem OSZE-Durchschnitt (26 %) aber unter dem der Nachbarländer Frankreich (36 %), Italien (31 %), Österreich (31 %) und Deutschland (37 %).5 Gesetzliche Massnahmen wie die Festlegung von Mindestquoten für die Vertretung der Frauen in den Bundesbehörden waren politisch chancenlos: Eine entsprechende Volksinitiative scheiterte 2000 deutlich in der Volksabstimmung (APS 2000: 32–33). So bleiben Bemühungen zur Erhöhung des Frauenanteils im Wesentlichen eine Aufgabe der politischen Parteien. Bei der Linken und den Grünen, welche konsequent Frauenförderung betreiben, erreichen Frauen nicht selten paritätische Vertretung – in der nationalrätlichen Fraktion der SP stellen sie seit Oktober 2015 sogar die Mehrheit. Waren direkte Demokratie und beschränkter Parteienwettbewerb der Einführung der politischen Rechte der Frauen eher hinderlich, so begünstigt umgekehrt das Proporzwahlrecht den Einzug der Frauen in die Politik, vor allem in Wahlkreisen mit grösserer Sitzzahl, wie folgende Tabelle zeigt. Der Frauenanteil ist tendenziell höher in den proportional bestellten Parlamenten als in den Exekutiven, für die zumeist nach dem Majorzprinzip gewählt wird. Sodann ist bei Majorzwahlen mit kurzfristig starken Veränderungen zu rechnen. So waren 2003 23,9 Prozent der Ständeräte Frauen, dagegen fand sich im Bundesrat nur ein einziges weibliches Mitglied (14,3 Prozent). Dafür erreichten die Frauen 2010 mit der Wahl Simonetta Sommarugas (SP) in den Bundesrat das erste Mal – und auch nur für kurze Zeit – eine Mehrheit im 7-köpfigen Gremium: Dies ein Vierteljahrhundert, nachdem 1984 mit Elisabeth Kopp die erste Frau in den Bundesrat gewählt worden war.

Tabelle 3.2: Frauenrepräsentation in den Behörden von Bund, Kantonen und Gemeinden (Stand: 24. April 2016)


BehördeZahl der SitzeFrauenanteil
Bundesrat728,6 %
Nationalrat20032,0 %
Ständerat4615,2 %
Kantonsregierungen15224,0 %
Kantonale Parlamente260925,6 %
Exekutiven zehn Städte (2015)6227,4 %
Parlamente zehn Städte (2015)77650,1 %

Quellen: BFS (2016a), eigene Berechnungen. Zu den Städten zählen wir Zürich, Genf, Basel, Lausanne, Bern, Winterthur, Luzern, St. Gallen, Lugano und Biel/Bienne (>50 000 Einwohner).

B. Die Wählerschaft

1. Politische Kultur: Einige Einstellungen und Werthaltungen im internationalen Vergleich

Unter politischer Kultur kann die Gesamtheit der Werthaltungen, Einstellungen und im weiteren Sinne auch der Verhaltensbereitschaft der Bürgerschaft zur Politik und zu ihrem politischen System verstanden werden.6 Es gibt wenig systematische Untersuchungen, die zeigen könnten, wie sich das Demokratie- und Politikverständnis in der Schweiz von demjenigen anderer Länder unterscheidet.7 Umfrageergebnisse aus dem European Social Survey (2014), in welchem die sozialen und politischen Einstellungen der Bevölkerung aus über 20 europäischen Staaten untersucht werden, zeigen einige interessante Unterschiede gegenüber zwei Nachbarn der Schweiz sowie Schweden.

Zunächst fällt die hohe Zufriedenheit der Schweizerinnen und Schweizer mit der Demokratie auf (84 Prozent). Das sind deutlich mehr als in Deutschland, Frankreich und sogar Schweden. Auch in konkreteren Fragen erscheint das Vertrauensfundament schweizerischer Demokratie vergleichsweise gross: Bürgerinnen und Bürger setzen hohes Vertrauen in Polizei, Gerichte und Parlament. Selbst das Vertrauen in eine internationale Organisation wie die UNO ist in der Schweiz leicht höher als in den zwei Nachbarländern, aber tiefer als in Schweden. Allerdings bekunden Schweizerinnen und Schweizer kein deutlich höheres Interesse für Politik. Auch die Verbundenheit mit einer politischen Partei ist in der Schweiz nicht stärker verbreitet als in Frankreich und Deutschland. Hingegen unterscheiden sich die Länder in Umverteilungsfragen, wo sich die grundsätzliche Staatsskepsis der Schweizerinnen und Schweizer zeigt. Bei Betrachtung der generellen Wertorientierung fällt auf, dass in der Schweiz die politische Mitte relativ gross ist und dass die rechte Grundorientierung doppelt so stark verbreitet ist wie in Deutschland. Gleichzeitig finden sich in der Schweiz am wenigsten Bürgerinnen und Bürger mit linker Grundorientierung.

Tabelle 3.3: Politische Einstellung, Werthaltungen und politische Kultur: Vergleichsdaten aus der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Schweden (in Prozent)


SchweizDeutschlandFrankreichSchweden
Allgemeine Einstellung
ziemlich/sehr an Politik interessiert61674568
Zufriedenheit mit Demokratie84583275
Viel Vertrauen in Parlament66452666
Viel Vertrauen in politische Parteien4323944
Viel Vertrauen in PolitikerInnen4824943
Viel Vertrauen in Gerichtssystem72584869
Viel Vertrauen in die Polizei82756577
Viel Vertrauen in die UNO48374468
Parteiverbundenheit, Wertorientierungen und politische Ideologie
ParteisympathisantInnen56585377
Wertorientierung Links (0–3)20292528
Wertorientierung Mitte (4-6)57594841
Wertorientierung Rechts (7–10)24122731
Regierung sollte Einkommensunterschiede reduzieren59737067
Wegen der Zuwanderer lässt es sich schlechter leben1520237

Quellen: Ehrler et al. 2016, ESS 2014, eigene Berechnungen

Allerdings kann man in der Schweiz nicht von einer homogenen politischen Kultur sprechen. Die Sprachräume spielen eine wichtige Rolle. Anhand des Abstimmungsverhaltens in den Fragen des Umweltschutzes, der Öffnung der Schweiz sowie zur Wirtschafts- und Sozialpolitik lassen sich drei unterschiedliche Profile bilden, die man als jeweils eigenständige politische Kultur der Landesteile bezeichnen kann. Auf die Deutschschweiz passen am besten die Attribute wirtschafts- und sozialpolitisch rechts, umweltfreundlich und konservativ-geschlossen. Die italienische Schweiz steht für linke, umweltfreundliche und eher konservativ-geschlossene Anschauungen, die Romandie wiederum stimmt links, zieht individuelle Freiheiten dem Umweltschutz vor und will eine offene Schweiz (Linder et al. 2008:41ff.).

Umfragen deuten in den meisten OECD-Staaten auf ein längerfristig sinkendes Vertrauen in die Politik, in Regierungen und Parlamente. Während die Ansprüche an den Staat steigen, sinkt die Bereitschaft zur politischen Teilnahme. Es wäre indessen verfehlt, solche Trends zu Systemkrisen hochzustilisieren. Zwar sprach man auch in der Schweiz in den sechziger Jahren von der «Vermassungskrise» der Demokratie, nach 1968 von den Legitimations- und Regierbarkeitskrisen des Staats, zehn Jahre später von der Parteienkrise und der Revolution durch soziale Bewegungen und Postmoderne. In den 1990er-Jahren machte die «Krise des Nationalstaats» in der Globalisierungsdebatte Furore. Die seit 2008 noch unbewältigte internationale Finanzkrise schliesslich ist von der dreifachen Frage beherrscht, erstens, wie weit Staaten (und damit die Steuerzahler) für den hinterlassenen Schuldenberg aufkommen müssen, zweitens, ob sie den globalen Finanzkapitalismus in vernünftige Bahnen zu lenken imstande sind und drittens, ob in diesen Bemühungen Demokratie überhaupt noch eine Rolle zu spielen vermag.

 

2. Politische Teilnahme

Im Gegensatz zum hohen Vertrauen, das die schweizerische Demokratie geniesst, sind Teilnahmebereitschaft und effektive Teilnahme ihrer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an den Wahlen gering. Wie folgende Grafik zeigt, nimmt heute weniger als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger an eidgenössischen Wahlen teil. Lange war der Trend der Wahlbeteiligung sinkend – und zwar seit der Einführung des Proporzwahlrechts. Seit Ende der 1990er-Jahre hat sich die Entwicklung jedoch stabilisiert.

Grafik 3.1: Beteiligung an eidgenössischen Volksabstimmungen und Nationalratswahlen, 1919–2015 (in Prozent)


Quelle: BFS (2016a), eigene Berechnungen. Für die Volksabstimmungen wurden Durchschnittswerte über drei (bis 1930) bzw. vier (ab 1931) Kalenderjahre berechnet, zum Beispiel 2011 bis 2015. Letze Periode bis und mit September 2016.

Das Sinken der Wahlbeteiligung ist keine schweizerische Besonderheit; sie hat in den letzten 40 Jahren in geringerem Ausmass auch in anderen Ländern stattgefunden, z. B. in Finnland, den Niederlanden oder den USA. Die Forschung nennt dafür vor allem gesellschaftliche Gründe: Im Zuge des Wertewandels und der Individualisierung löst sich die einzelne Person aus gesellschaftlichen Bindungen. Politische Teilnahme ist vor allem bei den Jüngeren kaum mehr eingebettet in frühere Formen einer Vereinskultur oder des Kirchenbesuchs. Im Übrigen kann die Mitgliedschaft in Vereinen die Bereitschaft zu politischem Engagement sowohl fördern wie auch hemmen. Beide Effekte sind jedoch schwach; insofern können zivilgesellschaftliche Organisationen nur beschränkt als «Schule der Demokratie» angesehen werden (von Erlach 2006). Die Bindungen an eine politische Partei lockern sich. Teilnahme an Wahlen wird nicht mehr als staatsbürgerliche Pflicht aufgefasst, sondern als Option, ein Recht, das man ausüben kann oder nicht. Die «Selects»-Untersuchungen zu den eidgenössischen Wahlen zeigen, dass vor allem noch jene zur Urne gehen, die sich über ein ausgeprägtes politisches Interesse, über grössere politische Kenntnisse und die Identifikation mit einer politischen Partei ausweisen können. Neben diesen politisch-psychologische Faktoren ist auch die Schichtzugehörigkeit von Bedeutung: Unterschichtsangehörige wählen seltener.

Erklärungsbedürftig bleibt aber der beträchtliche Niveauunterschied: Warum liegt die Wahlbeteiligung in der Schweiz heute knapp 20 Prozentpunkte tiefer als im OECD-Durchschnitt, wie Grafik 3.2 zeigt? Dafür werden vor allem institutionelle Gründe angeführt.8 Schweizerische Wahlen sind weniger bedeutsam als Wahlen in einer parlamentarischen Demokratie: Es findet kein Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition statt; der Parteienwettbewerb ist begrenzt. Wahlen sind auch entlastet von vielen politischen Konflikten um Sachfragen, die bei anderer Gelegenheit an Volksabstimmungen direkt entschieden werden. Schweizerische Parlamentswahlen sind darum sog. «low salience»-Wahlen, für die eine geringere Beteiligung zu erwarten ist, weil es um weniger geht (Klöti/Linder 1998:304). Derselbe Effekt lässt sich an den Wahlen ins Europäische Parlament feststellen, die, weil weniger bedeutsam für die Wählerschaft, eine erheblich geringere Beteiligung auszulösen vermögen als Landeswahlen in den einzelnen Staaten der EU. Weitere Plausibilität erhält die «low-salience»-These vor dem Hintergrund der Arbeiten des holländischen Wahlforschers Oppenhuis (1995:69 ff.). Dieser findet für die europäischen Parlamentswahlen ähnliche politisch-psychologische Faktoren der Teilnahmebereitschaft wie die Selects-Studien für die Schweiz, nämlich politisches Interesse und Parteinähe.

Vereinfacht lässt sich sagen, im Trend der seit dem Zweiten Weltkrieg tieferen Wahlbeteiligung drücke sich ein allgemeiner gesellschaftlicher Wandel aus, den die Schweiz mit anderen Industriegesellschaften teilt, während das tiefere Niveau gegenüber anderen Ländern vor allem auf die politisch-institutionelle Besonderheit einer geringen Bedeutung der Parlamentswahlen zurückzuführen ist. Zum jüngsten Wiederanstieg der Wahlbeteiligung seit 1995 hat laut Lutz (2008) die zunehmende Umstrittenheit der Bundesratswahlen im Parlament beigetragen, der mit der Abwahl amtierender Bundesräte (Ruth Metzler 2003 und Christoph Blocher 2007) eingesetzt hatte. Daneben sind seit der Jahrtausendwende ein deutlich gesteigerter Parteienwettbewerb und eine verstärkte politische Polarisierung zu verzeichnen, welche nicht nur den traditionellen Links-rechts-Gegensatz betreffen, sondern auch das bürgerliche Lager gespalten haben (Mueller et al. 2016). Dies alles begünstigt die Mobilisierung der Wählerschaft.

Grafik 3.2 Wahlbeteiligung bei den letzten Parlamentswahlen und Veränderung seit 1980


Quelle: IDEA (2016), Wahlen 2012–16 und 1979–83 (ohne CL, SI, CZ, SK, HU und EE)

Diese allgemeinen Regelmässigkeiten erklären freilich nicht, warum die Beteiligung in den einzelnen Kantonen um mehr als 40 Prozentpunkte variiert. So gingen bei den eidgenössischen Wahlen von 2015 in Schaffhausen 63 Prozent, in Appenzell Innerrhoden dagegen bloss 37 Prozent der Stimmberechtigten zur Urne.

Bühlmann und Freitag (2006) belegten anhand der Selects-Daten 2003, wie wichtig der kantonale Kontext für die Wahlbeteiligung in der Schweiz ist. Der Beteiligung förderlich sind neben der Wahlpflicht im Kanton Schaffhausen die politische Polarisierung und ein starker Parteienwettbewerb (Selb/Lachat 2004:11–12). Tiefste Beteiligungen gibt es in der Regel bei blossen Bestätigungswahlen, dem Extremfall einer «low salience»-Wahl, in denen wegen fehlender Konkurrenz durch andere Kandidaten keine echte Wahl zustande kommt. Das Schaffhauser Resultat zeigt umgekehrt den hohen Einfluss der Wahlpflicht, die nur noch in diesem Kanton praktiziert wird. Es wäre indessen verfehlt, die Wahlpflicht als alten Zopf abzutun: Wernli (1998:89) belegt, dass in diesem Kanton nicht nur die Wahlbeteiligung, sondern auch das politische Interesse, die politischen Kenntnisse und Parteibindungen grösser sind als in andern Kantonen. Schliesslich behaupten amerikanische Forscher aus dem Vergleich von US-Einzelstaaten, dass ein höheres Mass an direkter Demokratie auch die Wahlbeteiligung stimuliere. Diese These lässt sich für die Schweiz nicht bestätigen – im Gegenteil: Stadelmann-Steffen/Freitag (2009) zeigen im Kantonsvergleich, dass ein leichterer Zugang zur direkten Demokratie (geringere Hürden für Volksinitiativen) mit einer geringeren Wahlbeteiligung einhergeht. Das lässt sich so interpretieren, dass die Stimmbürgerschaft den Wahlen geringere Bedeutung zumisst, wenn sie erwarten kann, mit der direkten Demokratie einen höheren Einfluss auf die Sachentscheide ausüben zu können. Der empirische Befund stützt also die These eines «Trade-offs» zwischen Wahl- und Abstimmungsdemokratie (vgl. Kap. 11, Abschnitt C.2).

Aus den Befunden vergleichsweise tiefer Wahlbeteiligung darf allerdings nicht auf eine generell geringere und sinkende Partizipationsbereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer geschlossen werden. Die politische Beteiligung an Aktionen sozialer Bewegungen ist seit den späten 1960er-Jahren stark angestiegen. Der aktive Teil der Bürgerschaft beteiligt sich nicht nur an Wahlen und Abstimmungen, sondern erweitert sein Repertoire durch andere Teilnahmeformen wie das Unterschreiben von Petitionen, das Mitmachen in neuen Bewegungen wie jener der Frauen oder des Friedens, in Umweltorganisationen, der Teilnahme an Demonstrationen oder Streiks, oder dem Boykott bestimmter Konsumgüter. Die Bereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer, sich mit unkonventionellen Partizipationsformen (Dalton 2006) aktiv politisch zu beteiligen, ist dabei im europäischen Vergleich hoch, hängt jedoch in ähnlichem Masse wie die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen vom allgemeinen politischen Interesse ab (Longchamp/Rousselot 2010).

Ähnliche Werte wie die Wahlbeteiligung weist die Stimmbeteiligung an eidgenössischen Volksabstimmungen aus (vgl. Grafik 3.1). Letztere erreichte in den 1970er-Jahren ihren ersten Tiefpunkt (unter 40 Prozent im Durchschnitt einer Legislatur), stieg dann aber wieder an und erreichte zur Jahrtausendwende sogar höhere Beteiligungswerte als in den Nationalratswahlen. Seit 2007 ist die Stimmbeteiligung allerdings wieder wesentlich tiefer als die nationale Wahlbeteiligung. Die längerfristigen Trends der Stimmbeteiligung sagen jedoch nur bedingt etwas über die Beteiligung an einzelnen Urnengängen aus. So oszillierte die Stimmbeteiligung 2003 zwischen 29 und 50 Prozent, und im Februar 2016 kam es gar zu einer überaus hohen Beteiligung von 64 Prozent. Dies rührt daher, dass die Stimmberechtigten nicht an allen Themen gleich interessiert sind. Sie beteiligen sich stärker, wenn sie sich von einem der Themen des Urnengangs besonders betroffen fühlen, dazu eine starke Meinung haben (Longchamp/Rousselot 2010) und/oder das Resultat als wichtig für die Schweiz betrachten.

3. Das Profil der schweizerischen Wählerschaft

a. Sozialstatistische Merkmale:

Als Erstes interessiert die Frage, wie weit sich Frauen und Männer, die verschiedenen Altersgruppen, Bildungs- oder Einkommensschichten einer bestimmten, bevorzugten Partei zuwenden. Dazu finden sich für alle eidgenössischen Wahlen seit 1995 Angaben in den «Selects»-Wahlstudien. Nachfolgend die Daten zu den Nationalratswahlen von 2015.

Die Parteienforschung konstatiert einen langfristigen Wandel der einstigen Milieuparteien hin zu Volksparteien, der sich im Zuge des strukturellen Wandels westlicher Gesellschaften und der zunehmenden Auflösung sozialer Milieus vollzog (Kirchheimer 1965). Diese Entwicklung fand in gewissem Masse auch in der Schweiz statt (anhand der CVP etwa: Altermatt 1989). Tabelle 3.4 zeigt aber, dass sich die Wählerschaft der grossen schweizerischen Parteien in soziodemografischer Hinsicht immer noch unterscheidet. Während die SVP mehrheitlich von Männern unterstützt wird, sehen sich Schweizerinnen eher von der SP und den Grünen vertreten. Altersunterschiede nach Parteipräferenzen gibt es nur geringe; die Wählerschaft der SVP hebt sich hier mit einem etwas grösseren Anteil älterer Bürger von den anderen Parteien ab. Deutlich sind die Unterschiede bezüglich des Bildungsgrades: SP und FDP teilen sich einen vergleichsweise grossen Anteil hoch gebildeter Wähler. Blickt man weiter nach rechts, wird ein grosses Bildungsgefälle ersichtlich: Die SVP-Wählerschaft lässt sich überwiegend bei den Leuten mit Berufslehre verorten. Den grössten Anteil an Wählern mit niedrigem und mittlerem Einkommen weist ebenfalls die SVP aus und nicht etwa die SP. Besser Situierte wählen am ehesten FDP. Wer aber sind die Nichtwähler, welche die Mehrheit der Stimmberechtigten ausmachen?

Tabelle 3.4: Sozialstatistische Merkmale der Wählerschaft der Nationalratswahlen 2015, Angaben in Prozent aller Wählenden pro Zeile


SVPFDPCVPSPGPSAndereAlle Wählenden
GeschlechtMänner32171117518100
Frauen26161221916100
Alter18–24 Jahre2514924919100
25–34 Jahre3212918821100
45–54 Jahre30161317717100
75 Jahre und älter31221118513100
Bildungsgradobl. Schule, Anlehre33122114515100
Berufslehre43131015316100
Tertiärausbildung21191221918100
Einkommenbis 4 00032121122617100
6001–80003113919919100
12 001 und mehr18271417717100
Religionprotestantisch3119417722100
katholisch28162416511100
konfessionslos27143261119100
Zivilstandverheiratet29171317519100
alleinstehend27137221021100

Quelle: Lutz 2016:12