Schweizerische Demokratie

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Das Internet mit seinen verschiedenen Anwendungen wird auch in der politischen Kommunikation immer mehr genutzt. Laut WEMF11 nutzte bereits im Jahr 2007 ein Drittel der Schweizer Bevölkerung das Internet, um tagesaktuelle Nachrichten zu lesen. Im Frühling 2015 surften 83 % der Bevölkerung ab 14 Jahren mehrmals pro Woche im Netz; davon lasen rund drei Viertel Online-Nachrichten oder besuchten die Webseiten von Zeitungen (BFS 2016c:3). Während sich die Bürger zu Zeiten der Parteiblätter überwiegend durch lokal orientierte Medien informierten, kennt das Internet keine räumliche Begrenzung, was der Homogenisierung der politischen Öffentlichkeit Vorschub leistet. Die politischen Konsequenzen dieser Entwicklung sind umstritten und wegen des anhaltenden Wandels des Untersuchungsgegenstandes auch schwierig einzuschätzen. Geser (1998) beispielsweise sah im Internet die Möglichkeit der Erweiterung der politischen Öffentlichkeit, indem sich ein Raum für «eine unbegrenzte Vielfalt divergierender politischer Identitätsansprüche, Utopien, Ideologien, Meinungen, Interessen, Forderungen und Alternativvorschläge» auftut. Die Euphorie hat sich mittlerweile etwas gelegt. Zwar gibt es heute Dutzende von Internet-Plattformen, die versuchen, auch politische «Gegenöffentlichkeit» herzustellen oder sich dem Mainstream des Agentur-Journalismus entgegenzustemmen.12 Auch gilt die Internet-Kampagne von 2009 durch ein kleines, überparteiliches Bürgerkomitee gegen die Einführung des biometrischen Passes als erstes «Internet-Referendum».13 Im Übrigen scheint aber die politische «Internet-Revolution» eher in Transitionsländern stattzufinden als in Demokratien westlicher Industrieländer. In der Schweiz begegnen Innovationen wie die E-Voting-Versuche und die seit den Wahlen 2003 bestehende Online-Wahlhilfeplattform «Smartvote»14 grossem Interesse. Besonders bei jungen Leuten scheint die Benutzung von smartvote durchaus einen Einfluss auf ihr anschliessendes Wahlverhalten zu haben (Ladner et al. 2012:373)

Welche künftige Medienstruktur sich angesichts der fortlaufenden Unternehmenskonzentration, der verstärkten Konkurrenz auf dem Medienmarkt und der Ausbreitung neuer elektronischer Medien abzeichnet, ist offen. Aber die Entkoppelung der Medien von den Parteien und ihre Ausrichtung am kommerziellen Interesse sind folgenreich für die politische Kommunikation (Blum 1995). Rickenbacher (1995:14) stellt eine Selektion und Eigenbearbeitung des Politischen fest, die sich «nicht nur an der Bedeutung des politischen Gegenstandes ausrichtet, sondern je länger, je mehr auch an den Informations- und Unterhaltungsinteressen der Leserinnen und Leser.» Blum (2009) stellt einen eigentümlichen Gegensatz fest: Medien unterstützen das schweizerische System kritiklos und ungefragt, während Politikerinnen und Politiker hart und respektlos kritisiert werden. Zwar hält Blum beide Funktionen für wichtig – die Medien als «Liebediener» wie als «Störenfriede». Aber er sieht wichtige Kritikpunkte: Politische Sachzusammenhänge und institutionelle Fragen bleiben unterbelichtet gegenüber der personellen Dramatisierung der politischen Auseinandersetzung.

3. Aktive politische Öffentlichkeit

Auch in der Demokratie gibt es populäre und unpopuläre Themen. Die Fragen der einstigen Behandlung der Fahrenden durch schweizerische Behörden, Gewalt in der Ehe, die Bewahrung der Greina-Hochebene vor der Überflutung durch ein Wasserkraftwerk oder die Behandlung psychisch Kranker in Anstalten haben eines gemeinsam: Sie wurden als «politische» Probleme mit Handlungsbedarf während langer Zeit nicht beachtet. Für politische Parteien oder Verbände ging es um zu kleine, unbedeutende Gruppen oder aber um ein allgemeines oder langfristiges Interesse, das nur die nächste Generation interessierte.

In solchen Situationen kommt der «aktiven Öffentlichkeit» eine bedeutende Rolle zu. Damit gemeint sind Einzelpersonen, manchmal auch Berufsgruppen, die ihr persönliches oder berufliches Prestige als Fürsprecher nicht organisierbarer und/oder nicht konfliktfähiger Themen einsetzen.15 Sie mobilisieren neue Tendenzen als «Gegenöffentlichkeit», bis das Problem in das Bewusstsein der öffentlichen Meinung dringt. Sie versuchen, ein Thema auf die politische Agenda zu bringen, und bieten ihre Kompetenzen zur Lösung des Problems an.

Zu typischen Beispielen berufsbezogener aktiver Öffentlichkeit gehören etwa der Architekt, der sich für die Erhaltung einer Betonfassade aus den 1950er-Jahren einsetzt, weil sein fachliches Auge darin bereits ein Denkmal klassisch-moderner Baukunst sieht; weiter das Engagement von Juristen für eine Strafrechtsreform oder die Öffentlichkeitsarbeit von Medizinern für die kontrollierte Heroinabgabe an therapiewillige Süchtige. Zur aktiven Öffentlichkeit gehört aber auch die Auseinandersetzung Kulturschaffender mit der Gesellschaft, dem Staat und der Politik. Insbesondere die Liste von Schriftstellern, die sich mit Grundfragen politischer Demokratie, mit öffentlicher Moral oder den Zuständen der Politik auseinandersetzen und damit zum Teil auch Spuren im politischen Bewusstsein hinterlassen haben, ist lang. Erwähnt seien hier etwa Gottfried Kellers Bettagsmandate im letzten Jahrhundert, Karl Spittelers Rede an die Nation zu Beginn des Ersten Weltkriegs, in jüngerer Zeit Karl Schmids «Unbehagen im Kleinstaat» (1963), Peter Bichsels «Des Schweizers Schweiz» (1969), Max Frischs «Willhelm Tell für die Schule» (1971) und «Schweiz ohne Armee» (1989), Niklaus Meienbergs «Der wissenschaftliche Spazierstock» (1985), Adolf Muschgs «Die Schweiz am Ende. Am Ende die Schweiz» (1990) und «Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt» (1997), Friedrich Dürrenmatts letzte Rede «Das Gefängnis» (1990), Thomas Hürlimanns «Der grosse Kater» (1998) oder Peter von Matts «Die tintenblauen Eidgenossen» (2001).

1 Siehe zum Beispiel «Kinderstimmen gegen die ‹Herrschaft der Alten›», Tages-Anzeiger vom 19.6.2016.

2 Die erste umfassende soziologische Studie über die gesellschaftliche Stellung der Frau in der Schweiz datiert von 1974 (Held/Levy 1974).

3 Von Roten (1991 [1958]). Zur Rezeption des Buches und zur Biografie der Autorin: Köchli (1992).

4 Diese Interpretation widerspricht nicht Banaszaks Studie (1991). Sie vergleicht neben dem Einfluss der Volksrechte auch die «verschiedenen Dimensionen politischer Beteiligungsstrukturen» und kommt zum Schluss, dass der schweizerischen Frauenstimmrechtsbewegung die Unterstützung anderer Bewegungen oder der Parteien fehlte. Den Grund sieht sie im schwachen und vielerorts sogar inexistenten Parteienwettbewerb.

5 Gemäss der jährlichen Klassifizierung der Interparlamentarischen Union (http://www.ipu.org/wmn-e/classif.htm) hatte Ruanda im Jahre 2016 mit 64 Prozent weltweit den höchsten Frauenanteil in der Volkskammer, gefolgt von Bolivien (53 %) und Kuba (49 %). Erstes europäisches Land ist Schweden, auf Platz 5 (44 %), die Schweiz belegt aktuell den 36. Rang (von 187) und befindet sich somit im oberen Fünftel der Liste.

6 Gabriel Almond (1963, 1980), der Mitbegründer der politischen Kulturforschung, definiert sein Konzept politischer Kultur wie folgt:

1. Politische Kultur bezieht sich auf das Muster subjektiver Orientierungen gegenüber Politik innerhalb einer ganzen Nation oder ihrer Teilgruppen.

2. Politische Kultur hat kognitive, affektive und evaluative Bestandteile. Sie schliesst Kenntnisse und Meinungen über politische Realität, Gefühle über Politik und politische Werthaltungen ein.

3. Der Inhalt von politischer Kultur ist das Ergebnis von Kindheitssozialisation, Erziehung, Medieneinfluss und Erfahrungen im Erwachsenenleben.

4. Politische Kultur und politisches System beeinflussen sich wechselseitig.

7 Beispiele sind die Untersuchungen von Longchamp/Rousselot (2010) und Gabriel/Plasser (2010), welche die politische Kultur der Schweiz im europäischen Vergleich und in der direkten Gegenüberstellung mit derjenigen Österreichs und Deutschlands behandeln.

8 Zu den europäischen Unterschieden der Wahlbeteiligung aus dieser Perspektive: Freitag (1996). Ladner und Milner (1999) zeigen anhand eines Vergleichs schweizerischer Gemeinden, dass das Proporzwahlrecht im Vergleich zum Majorz zu einer höheren Beteiligung führt.

9 Für eine ausführlichere Darstellung der drei Schulen des sozial-strukturellen, des sozialpsychologischen und des ökonomischen Rational-Choice-Ansatzes aus schweizerischer Sicht: Hardmeier (1995), Kriesi/Linder/Klöti (1998), Schloeth (1998), Milic (2008) und Milic et al. (2015) für eine Darstellung der Wahlforschungstheorien in Zusammenhang mit Volksabstimmungen sowie das Kapitel 10.

10 Im Jahr 2014 übernahmen 25 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung über 15 Jahre freiwillige Tätigkeiten in Vereinen und Organisationen (formelle Freiwilligkeit). Daneben waren 38 Prozent informell (d. h. ausserhalb von Vereinen) in der Freiwilligenarbeit engagiert, 10 Prozent hatten ein Ehrenamt inne. Freiwillige arbeiten im Durchschnitt etwa dreieinhalb Stunden pro Woche für ihr wichtigstes Engagement (Freitag et al. 2016:34). Vgl. auch http://sgg-ssup.ch/de/freiwilligenmonitor.html und BFS (2015a).

11 Die AG für Werbemedienforschung (WEMF) erhebt in der Schweiz seit 1963 Zahlen zur Mediennutzung.

12 Z. B. www.infosperber.ch oder www.domainepublic.ch. Auch die Wissenschaft selber probiert vermehrt, direkt Zugang zu der Bevölkerung zu erhalten, z. B. via www.defacto.expert oder http://geschichtedergegenwart.ch.

13 NZZ vom 26. März 2009.

 

14 www.smartvote.ch ist eine webbasierte Entscheidungshilfe für Wähler, die in der Schweiz seit 2003 angeboten wird. Auf die eidgenössischen Wahlen 2015 hin verzeichnete die Plattform mehr als 1.3 Millionen Nutzungen.

15 Zur demokratietheoretischen Funktion «aktiver Öffentlichkeit» ausführlich: Kapitel 12; zum Begriff der nicht konfliktfähigen und nicht organisierbaren Interessen vgl. Kapitel 5.

Kapitel 4: Parteien und Parteiensystem

«Parteien sind dazu da, Mehrheiten zu bilden.»

Eugen David, Ständerat SG

«Das Los der Parteien wird von den Parteilosen bestimmt.»

Lothar Schmidt, Politologe

A. Funktion und Entstehung

Politische Parteien erfüllen zentrale Funktionen im Politiksystem und sind das wichtigste Bindeglied zwischen Bürger und Staat. Im gegenseitigen Wettbewerb versuchen sie erstens, die Stimmen möglichst vieler Wähler zu gewinnen und Einfluss auf die Machtverteilung und die Entscheidungen der Politik im Sinne ihrer Anhänger zu nehmen. Der offene Parteienwettbewerb ist eine Grundvoraussetzung politischer Demokratie, denn er ermöglicht Machtbegrenzung und -kontrolle. Zweitens repräsentieren politische Parteien die Werte und Interessen ihrer Anhängerschaft dauernd und in allen politischen Belangen. Sie erfüllen dabei drittens die Funktion der Artikulation und Aggregation (Bündelung) politischer Probleme und Interessen. Viertens mobilisieren politische Parteien Wählerinnen und Wähler über ideologische Vorstellungen und gesellschaftspolitische Programme, über konkrete Forderungen und Vorschläge und über ihre Parolen zu Volksabstimmungen. Fünftens rekrutieren sie das politische Personal auf allen Stufen, offerieren also den einzelnen Bürgerinnen die Chance zur Karriere als Politikerin und organisieren über die Auslese ihrer Kandidaten den Wettbewerb der politischen Wahl mit.

Die Anfänge der Parteien in der Schweiz gehen auf die Regenerationszeit zurück. Damals bildeten sich Bürgervereine verschiedenster Art, die mit ihren Bittschriften und Petitionen, später mit dem Veto, dem Referendum und der Volkswahl aller Behörden bis hin zum Dorfschullehrer die politische Umwälzung und Demokratisierung vieler Kantone erreichten. Gruner (1977:25) hat darum die schweizerischen Parteien als «Kinder der Volksrechte» bezeichnet. Man könnte anfügen: und «Kinder der Kantone», denn die föderalistische Fragmentierung ist bis heute ein Kennzeichen der Schweizer Parteien geblieben. Erst Jahrzehnte nach der Gründung des Bundesstaats von 1848, und mit grösserer Mühe als den Wirtschaftsorganisationen von Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft, gelang es den Parteien, sich auf nationaler Ebene zu organisieren: den Sozialdemokraten (SP) 1888, den Freisinnigen (FDP) 1894 und zuletzt den Katholisch-Konservativen (heute Christlichdemokratische Volkspartei, CVP) 1912. Ideologisch orientieren sich diese Parteien an den drei grossen Strömungen des 19. Jahrhunderts in Europa: dem Sozialismus, dem Liberalismus und dem Konservatismus. Diese sind heute noch bedeutsam, wenn auch in zum Teil veränderter Form (Sozialdemokratismus, Neoliberalismus und Nationalkonservatismus).

Von 1848 bis 1890 hatten die Freisinnigen im Bundesrat unter Ausschluss aller anderer ganz allein regiert. Sie taten dies, indem sie die verschiedenen kantonalen Strömungen, die neuen bürgerlichen Schichten und sogar die Interessen der Arbeiterschaft geschickt integrierten: Es war die Zeit der «freisinnigen Grossfamilie» von Liberalen, Radikalen und Demokraten. Ihre Hegemonie ging aus verschiedenen Gründen zu Ende. Als 1891 ein erster katholisch-konservativer Vertreter Einsitz in den Bundesrat nahm, begann der Prozess des Ausgleichs mit den Konservativen und später der Bildung eines Bürgerblocks gegen die politische Linke. Demokraten und Liberale verselbständigten sich. Ab 1917 kam es zur Abspaltung der BGB, der Bauern- Gewerbe und Bürgerpartei (ab 1971 SVP, Schweizerische Volkspartei), die vor allem ländliche Interessen in den protestantischen Kantonen der Deutschschweiz vertrat und seit 1929 an der Regierung teilhat. Als sich der Interessengegensatz zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft verschärfte, wurde die Spaltung zwischen Bürgertum und politischer Linken bedeutsamer als der historische Gegensatz zwischen Freisinn und Konservativen. Es kam zum politischen Klassenkampf. Die Sozialdemokraten, politisch weitgehend einflusslos bis zur Einführung des Proporz-Wahlrechts (1919), wurden 1931 zur stärksten Partei im Nationalrat, blieben aber bis zum Zweiten Weltkrieg von der Regierung ausgeschlossen. Dies alles radikalisierte die politische Linke: Die SP selbst schwankte zwischen demokratischer Reform und Klassenkampf; eine kommunistische Partei (KP, später Partei der Arbeit, PdA) spaltete sich 1918 ab. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums stellte die rechtsradikale Frontenbewegung Parlamentarismus und Demokratie in Frage und liebäugelte – im Windschatten von Hitlertum und Faschismus – mit der Etablierung eines autoritären Regimes für die Schweiz.

In der Nachkriegszeit, nach der Bedrohung von aussen und im Zuge des Wirtschaftswachstums, bauten sich einige Gegensätze zwischen dem Bürgertum und der politischen Linken ab. Zwar bot der Kalte Krieg Anlass, kommunistische und marxistische Bewegungen und ihre Anhänger auszugrenzen und zu denunzieren (Buomberger 2017), aber ab 1959 wurden die Sozialdemokraten dauerhaft mit zwei Sitzen an der Regierung beteiligt. Die Integration der politischen Linken in den bisher bürgerlich regierten Staat1 erfolgte vor allem auf Betreiben der Katholisch-Konservativen, die sich mit ihren beiden Flügeln, den Konservativen und den Christlichsozialen, als Partei der Mitte positionierten.

Damit begann die Zeit der Regierungskonkordanz von FDP, CVP, SP und SVP. Auf der Grundlage des politischen Ausgleichs unter den Regierungsparteien erfolgte der Aufbau eines liberalen Wirtschafts- und Sozialstaats. Kleine Parteien links der SP (zuerst PdA, später Progressive Organisationen POCH und RML), der Mitte (die Evangelische Volkspartei EVP, der Landesring LdU ab den 1930er-Jahren) sowie Rechtsparteien (Überfremdungsparteien: früher Republikaner und Nationale Aktion, später Schweizer Demokraten und Freiheitspartei) fanden seit den 1970er-Jahren politische Nischenplätze, die vom Kartell der Regierungsparteien unbesetzt blieben. Nach den 1930er-Jahren kam es damit zu einer zweiten Phase der Zersplitterung des Parteiensystems. 1991 waren 17 Parteien im eidgenössischen Parlament vertreten, bis 2007 ging jedoch die Zahl wieder auf 12 zurück. Der Landesring löste sich 1999 auf, und die Schweizer Demokraten sind von der Bildfläche verschwunden. Die Freiheitspartei wurde von der SVP praktisch in corpore übernommen, und auch die links-alternativen und grünen Kräfte haben sich fast restlos der Grünen Partei angeschlossen. Darüber hinaus haben 2009 die Liberalen und die FDP fusioniert und treten nun unter dem gemeinsamen Label «FDP. Die Liberalen» auf. Es sind aber auch Gegenbewegungen zu verzeichnen: Von den Grünen spaltete sich 2007 die Grünliberale Partei (GLP) ab und von der SVP 2008 die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP).

Grafik 4.1: Gesamtschweizerische Parteienstärke in Prozent, Nationalratswahlen 1919–2015


Quelle: Bundesamt für Statistik, eigene Darstellung. Übrige Parteien links: PdA, PSA, POCH, GPS, FGA und Solidarités; Mitte: Demokraten, LPS, LdU, EVP, CSP, GLP, BDP; rechts: SD, Republikaner, EDU, FPS, Lega, MCG.

In den letzten vierzig Jahren haben sich die Koalitionen der parlamentarischen Konkordanzpolitik verändert. Die CVP, zu Beginn in der Rolle der politischen Mitte zwischen linker SP und rechter FDP, tendierte in den 1980er-Jahren noch vermehrt zum Bürgerblock. Ihr einstiger Arbeitnehmerflügel, die Christlich-Sozialen, verloren Unabhängigkeit und Einfluss. Kam der Reformdruck in den 1970er-Jahren von Mitte-links, so formierte sich später die politische Initiative im Zuge des Neoliberalismus und -konservatismus von rechts. In einer polarisierten Konkordanz verblieben SP, Grüne und Landesring in der Minderheit gegenüber einem geschlossenen bürgerlichen Lager. In den 1990er-Jahren setzte der steile Aufstieg der SVP von der bürgerlichen Juniorpartnerin zur landesweit stärksten Partei seit den Wahlen 2003 ein (siehe Grafik 4.1). Ihre Wahlerfolge verdankte sie sowohl der konsequenten Positionierung als national-konservative Partei wie der konsequenten Thematisierung der Probleme der Europäisierungs- und Globalisierungsverlierer.2 Die SVP-Parlamentsfraktion – einst das protestantische Pendant zur CVP in der Mitte – rückte ab 1992 nach rechts, verweigerte sich oft auch dem «bürgerlichen» Kompromiss und beanspruchte zunehmend jene Führerschaft im bürgerlichen Lager, die einst der Freisinn innehatte. Teile der konservativen Wählerschaft von FDP und CVP wanderten zur SVP ab. Dies und die Stimmenverluste von CVP und FDP zugunsten der SVP führten zur Spaltung des bürgerlichen Lagers. Es kündigte sich damit die Entstehung eines tripolaren Kräftesystems an, mit SP und Grünen als linke, der SVP als rechte Polparteien sowie von CVP und FDP als politischer Mitte. Die Wahlen von 2015 bestätigen dieses tripolare System weitgehend: Die FDP scheint sich zunehmend als Rechtspartei zu profilieren, während sich in der Mitte BDP, GLP und CVP zwar (noch) nicht zusammengeschlossen haben, aber doch oft gleiche Positionen einnehmen.

Insgesamt stehen die Parteien in der Schweiz heute vor ähnlichen Problemen wie in andern europäischen Ländern. Die Parteiidentifikation nimmt ab; die agile Positionierung der Parteien in den bewegenden Sachthemen und die Personalisierung der Politik sind wichtiger geworden als Parteiprogramme, um die Wählerschaft im Zeitalter der massenmedialen Politik zu erreichen. Neue soziale Bewegungen, die spontan mobilisieren und sich nicht an den Politikstil der Konkordanz halten, konkurrenzieren die Parteien. In den 1970er-Jahren waren dies vor allem die Friedens-, Frauen-, Umwelt-, Dritte-Welt- oder Quartierbewegungen, während in den 1990er-Jahren eher die integrationsfeindliche Aktion für eine Unabhängige und Neutrale Schweiz (AUNS) oder rechtskonservative Bewegungen gegen die Asyl- und Ausländerpolitik von sich reden machen. Neue soziale Bewegungen ersetzen die Parteien zwar nicht. Sie sind aber zu ergänzenden Artikulationsformen geworden, die mithin auch von parteigebundenen Aktivisten genutzt werden.

Für die Schweiz von besonderer Bedeutung sind indessen die Umschichtungen in der Wählerschaft und die Veränderungen des Parteiensystems in den letzten zwei Jahrzehnten. Treibende Kraft darin war die SVP. Sie hat sich selbst als politische Herausforderung aller übrigen Parteien verstanden und sich auch mit allen Parteien angelegt. Dies zeigte sie nicht nur im Stil der Konfrontation. Die SVP hat es vorzüglich verstanden, insbesondere jene virulenten Probleme aufzubringen, die von den übrigen Parteien gemieden wurden. In weiten Bereichen der Politik gelang es ihr, die Themenführerschaft an sich zu reissen, doch verweigerte sie sich dem Kompromiss. Die für die SVP enttäuschenden Wahlen von 2011 zeigten zwar die Grenzen dieser Politik, aber 2015 wurde sie gar zur stärksten Schweizer Partei jemals seit Einführung des Proporzes vor 100 Jahren. Trotz ihres grössten Wähleranteils, ihrer professionellen Organisation und überlegenen Ressourcen ist es jedoch wenig wahrscheinlich, dass die SVP eine Hegemoniestellung im schweizerischen System erringen wird. Zu stark sind die direkt-demokratischen und föderalen Institutionen, die zum Kompromiss zwingen. Eher bleibt die Festigung des tripolaren Kräftesystems zu erwarten. Während dieses Flexibilität und Transparenz bietet, liegt sein Nachteil in der Unvorhersehbarkeit, die von der konkordanten Machtteilung im Bundesrat bis hin zu den täglichen parlamentarischen Kompromissen reicht. Als gleichzeitige Regierungs- und konfrontative Oppositionspartei bleibt die SVP jedoch eine dauernde Herausforderung für die übrigen Regierungsparteien.

B. Das nationale Parteiensystem

1. Das Vielparteiensystem und seine politische Fragmentierung

Nach Armingeon (2003:13) gehört die Schweiz zur Gruppe der Länder mit der stärksten Fragmentierung des Parteiensystems, das heisst: Wir finden eine hohe Zahl von Parteien mit je geringen Stimmenanteilen. Die direkte Demokratie eröffnet auch den Nichtregierungsparteien Teilhabe an politischer Macht. Gerade die Kleinparteien hatten mit ihren Volksbegehren oft überdurchschnittlichen Einfluss. Das galt etwa für die Überfremdungsparteien, die zwar nie mehr als 10 Prozent der Wählerschaft mobilisierten, aber im Jahre 1970 mit der ersten ihrer zahlreichen Überfremdungsinitiativen beinahe eine Mehrheit des Stimmvolks überzeugen konnten. Als weiteres Beispiel: Der Nationalfeiertag, der 1. August, wurde arbeitsfrei durch eine Volksinitiative der Splitterpartei der Schweizer Demokraten. Sodann sind mehrere Parteien, die auf nationaler Ebene zu den «Kleinen» zählen, in einzelnen Kantonen stark verankert und gehören dort zu den Regierungsparteien – so zeitweise PdA oder POP, vor allem aber die Liberalen in Genf, Neuenburg, der Waadt und Basel-Stadt, die Grünen und früher der Landesring in den urbanen Kantonen der Deutschschweiz oder die BDP in Bern, Glarus und Graubünden.

 

Die Fragmentierung des schweizerischen Parteiensystems ist nicht nur eine Frage der absoluten Zahl der Parteien. Ebenso bedeutsam ist die Heterogenität der Einzelparteien und die Unterschiedlichkeit der kantonalen Parteisysteme, auf denen das nationale System beruht. Die Frage stellt sich nun: Warum haben sich in der Schweiz so viele Parteien etablieren können? Ihre hohe Anzahl ist umso erstaunlicher, als die Parteien – anders als etwa in Deutschland oder Österreich – keineswegs eine hohe Attraktivität beanspruchen können. Die Parteien sind bloss Organisationen des privaten Vereinsrechts3 und haben in der Verfassung erst neuerdings, mit der Totalrevision von 1999, Erwähnung gefunden. Sie werden vom Staat weder besonders gefördert noch finanziert. Als Milizorganisationen leben sie grösstenteils vom unentgeltlichen Engagement ihrer Mitglieder, und sie sind abhängig von Spenden und Beiträgen ihrer Sympathisanten, Amtsträgerinnen oder von Zuwendungen finanzkräftiger Dritter (Gernet 2011). Vor allem aber spielen sie nach politologischer Auffassung keine besonders privilegierte Rolle im schweizerischen Regierungssystem. Im Gesetzgebungsprozess hinkt ihr Einfluss hinter demjenigen der Verbände und der Kantone nach, und die schweizerische Kollegialregierung, einmal gewählt, ist unabhängig vom Einfluss einer einzelnen Partei oder von den Mehrheitsverhältnissen der Parlamentsfraktionen.

Duverger (1959:232), der einflussreiche Jurist und Politologe, formulierte in den fünfziger Jahren ein einfaches «Gesetz» zur Frage der Parteienzahl. Danach spielt das Wahlrecht die entscheidende Rolle: Das Majorzwahlrecht führt tendenziell zum Zwei-Parteien-System, der Proporz zur Ausbreitung von Mehrparteiensystemen. Spätere Untersuchungen haben diese einfache Regelmässigkeit stark in Frage gestellt. Auch wenn sie für die Schweiz eine gewisse Plausibilität behält, weil die Parteienproliferation seit der Einführung der Proporzwahl 1919 augenfällig ist, so lehren uns internationale Vergleiche, den alleinigen Einfluss des Wahlrechts auf das Parteiensystem nicht zu überschätzen und nach zusätzlichen Einflussfaktoren für die hohe Zahl der Parteien zu suchen (Nohlen 1990:55 ff.).

Eine plausible Erklärung liefert die Theorie des politischen Wettbewerbs unter den Rahmenbedingungen des Föderalismus. Die Schweiz ist für neue politische Konkurrenz ein Raum mit 26 verschiedenen Marktplätzen. Nicht alle eignen sich gleich gut für die Lancierung einer neuen Partei. Während die Hürden in kleinen Kantonen hoch sind, weisen bevölkerungsreiche Kantone als Wahlkreise mit vielen Mandaten niedrige Eintrittsschwellen in den Nationalrat aus. Das Gleiche gilt, wenn das kantonale Parlament aus wenigen Wahlkreisen (oder gar einem einzigen, wie in Genf und im Tessin) bestellt wird. Wo darum wenige Wählerinnenprozente einen Sitz garantieren, kann eine politische Bewegung ohne grössere Anstrengung und Kosten zu politischem Erfolg gelangen. Klöti (1998:45 ff.) zeigte denn auch, dass die Zahl der Parteien in einem Kanton eindeutig mit dessen Bevölkerungsgrösse zusammenhängt. Der erfolgreiche Test in einem Teilmarkt kann zur Nachahmung in andern Kantonen führen. Dies findet vor allem dann statt, wenn die neue Partei ein Thema aufbringt, das von den bestehenden nationalen Parteien vernachlässigt wird, wie etwa Probleme der Überfremdung oder der Ökologie. Damit wird die Verbreitung auf nationaler Ebene möglich. Die Grenze solcher nationalen Marktnischen liegt darin, dass die politischen Angebote der neuen kantonalen Parteien zu unterschiedlich sind für den Zusammenschluss zu einer gemeinsamen Partei auf nationaler Ebene oder dass diese Partei in zu wenig Kantonen auf Nachfrage trifft.

Die Rahmenbedingungen des politischen Wettbewerbs im schweizerischen Föderalismus helfen uns zu verstehen, wie neue Parteien entstehen und sich entwickeln. Neue Parteien bilden sich typischerweise in den bevölkerungsreichen Kantonen und breiten sich dann über andere Kantone auf die nationale Ebene aus. Diese Rahmenbedingungen erklären auch die geringe nationale Homogenität der einzelnen Parteien sowie die regionale Segmentierung des Parteiensystems: Die Unterschiedlichkeit und grosse Anzahl der Kantone begünstigen auf der einen Seite die Parteienproliferation, setzen aber auf der andern Seite Integration und Durchsetzung neuer Parteien auf nationaler Ebene Grenzen. Von den 12 im Herbst 2015 in die eidgenössischen Räte gewählten Parteien waren nur die Regierungsparteien FDP, CVP, SVP und SP sowie die Grünen in praktisch allen Kantonen verankert und damit als gesamtschweizerische Parteien zu bezeichnen, wobei sich die SVP erst in jüngerer Zeit in den katholischen Gebieten und der Romandie durchsetzen konnte. Auch die GPS brauchte lange Zeit, um Sektionen in typisch ländlichen Kantonen zu gründen. Historisch scheiterten kleinere Parteien des gesamten politischen Spektrums (von der PdA über den Landesring bis zu den Liberalen) typischerweise an den hohen Eintrittsschwellen in kleineren Kantonen, um sich gesamtschweizerisch auszubreiten; eine Schwierigkeit, die es auch für die beiden jüngsten Parteien, GLP und BDP, noch zu meistern gilt.

Einen weiteren Grund für die Proliferation der Parteien finden wir in der direkten Demokratie. Insbesondere die Volksinitiative bietet sozialen Bewegungen die Möglichkeit, ein Thema durch mehrmaligen Gebrauch ständig auf der politischen Agenda zu halten und sich als politische Organisation bei der Wählerschaft dauernd in Erinnerung zu rufen. Dies begünstigt die Entstehung neuer Parteien aus sog. «Einthemenbewegungen» wie der Grünen, der Überfremdungsbewegung oder seinerzeit der Autopartei. Volksinitiativen, häufig vor Wahlen eingereicht, dienen damit nicht nur der Mobilisierung für eine politische Forderung, sondern auch als Wahlhelfer zur nationalen Verbreitung einer neuen Partei oder zur Erhaltung der kritischen Masse ihrer Wählerschaft. Das gelingt nicht allen – die Liste der verschwundenen Kleinparteien ist lang. Trotzdem gibt das Instrument der Initiative den kleineren Parteien höhere Überlebenschancen – vor allem dann, wenn eine ursprüngliche Einthemenpartei wie die Grünen ihr programmatisches Profil erweitert. Schliesslich lässt sich auch zeigen, dass der intensive Gebrauch der direktdemokratischen Instrumente mit stärker formalisierten und professionalisierten Parteienorganisationen einhergeht (Ladner/Brändle 1999a).

2. Gesellschaftliche Spaltungen als Determinanten des Parteiensystems

Viele historisch-politologische Arbeiten betonen die schweizerischen Besonderheiten der Parteien. Dabei kommt zu kurz, dass die Parteien in einem europäisch-kulturellen Kontext entstanden und davon auch ohne formelle Kontakte beeinflusst sind. Bereits zu Beginn dieses Kapitels haben wir auf die Anlehnung der Regierungsparteien an die europäischen Ideologien und gesellschaftspolitischen Denkrichtungen des Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus hingewiesen. Noch ausgeprägter ist dies der Fall für die Repräsentation gesellschaftlicher Spaltungen (auch Konfliktlinien oder englisch cleavages genannt) durch das Parteiensystem. Nach der Theorie von Lipset und Rokkan (1967) sind alle europäischen Gesellschaften von vier geschichtlich bedeutsamen Spaltungen aus der Zeit der Staatsbildung und Industrialisierung geprägt: kulturell von den Gegensätzen Kirche und Staat sowie Zentrum und Peripherie, sozial-ökonomisch vom Stadt-Land- (als Industrie-Landwirtschafts-) Konflikt sowie vom Links-rechts-Gegensatz zwischen Eigentümern und Arbeitern in der Industriegesellschaft. Diese Spaltungen bilden das gesellschaftliche Potenzial, auf dem in Europa neben anderen sozialen Organisationen auch die Parteien entstehen. Parteien sind also zugleich in bestimmten gesellschaftlichen Segmenten und Schichten verankert. Sie repräsentieren zuverlässig die besonderen Bedürfnisse und Interessen ihrer Anhängerinnen und schöpfen deren Potenzial als Wählerstimmen aus. Für die Vergangenheit der schweizerischen Traditionsparteien lässt sich unschwer die Relevanz der Lipset/Rokkan’schen Spaltungen zeigen: Auf zentralstaatlich-laizistischer Seite belegte der Freisinn vor allem das städtisch-bürgerliche, die SVP das ländlich-bürgerliche Potenzial, während die SP die Interessen der sozialen Schichten der Lohnabhängigen vertrat. Die Katholisch-Konservativen, vor allem auf dem Land verankert, vertraten die besonderen politisch-kulturellen Interessen der kirchentreuen Katholiken in der Peripherie.