Dubrovnik Turboprop

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Frau Dresenkamp hatte mit dem Rollstuhl neben der Großmutter angehalten, war aber übersehen worden in der Wiedersehensfreude. Als sie nun höflich wartend von der feinen alten Dame bemerkt wurde, wehrte diese ihre Hilfe ab:

»Nein, nein.«

Gestützt an Ivos Arm, so aufrecht und sicher wie es ihr möglich war, ging sie auf das Hotel zu, als habe jemand Geburtstag, nur ich kam mir vor, als sei ich dazu nicht eingeladen worden, seltsam. Sie gingen auf den Eingang, die Treppe zu, langsam, keine Eile, stolz und als ob es etwas zu beweisen gäbe, Schritt für Schritt, mit beiden Händen an Ivos Arm schritt sie auf die Treppe zu, und Maria nahm Großmutters anderen Arm, ebenfalls stützend – aber die feine alte Dame hielt sich mit beiden Händen nur an Ivos Arm (als könne sie nicht davon lassen, als wäre er ihre einzige Sicherheit, ihre einzige Rückversicherung – der Arm, der Ivo –, bloß: wofür?) und sagte:

»Es geht schon. Geht schon. Nur eben langsam.«

Sie lächelte Maria an und Maria sagte, dass sie das prima mache: »Prima machen Sie das!«, und dass das, die beiden Mädchen, die da oben (etwas verloren) auf dem Treppenabsatz stünden, dass das – »Anne! Franceska!« – ihre beiden Töchter seien, welche nun, immer noch unsicher auf dem Treppenabsatz stehend, einen Wink ihrer Mutter bekamen, die Treppe halb hinunterschritten, grazil, fast etwas kokett, und der feinen alten Dame die Hand reichten, ihr nacheinander, die Jüngere zuerst, die Hand gaben und das Ganze mit einem kleinen Knicks betonten, aufwerteten, meine Großmutter aufwerteten – und eben: Ich hatte es geahnt, aber vorher nicht gewusst, dass da etwas gewesen war, dass was im Busch (wie man so sagt) gewesen war, und hatte jetzt das Gefühl, es zu wissen, vielleicht, zumindest, also mutmaßlich, aber jetzt hatte ich also ganz bestimmt das Gefühl oder vielmehr das bestimmte Gefühl, meiner Großmutter bei der nächstmöglichen Gelegenheit eine ähnliche Gunst erweisen zu müssen.

»Mensch, seid ihr groß geworden!«

Mit dieser Erkenntnis, dem nun endlich benennbaren Gefühl dessen, was ich wohl offensichtlich verabsäumt hatte zu tun, stand ich noch etwas alleine da, schaute mich verlassen um und trottete dann der Gruppe wie unnütz hinterher. Nicht einmal meinen eigenen Koffer, nicht einmal meine Umhängetasche durfte ich selbst tragen.

»Nein, nein, die tragen wir für Sie!«, sagte der Concierge, der die Boys, die Laufburschen, rief, die in ihren roten Uniformen gelaufen kamen und alles Gepäck (Koffer, Taschen, Geschenke), welches der Imre inzwischen die Treppe hinaufgetragen hatte, in zwei Hotelgepäckwagen verstauten und damit wegfuhren, aber einen anderen Weg einschlugen als die feine alte Dame am Arm des Ivo und der Maria, gefolgt von Frau Dresenkamp und den Töchtern (auf halber Strecke hatte sich die alte Dame dann doch in den Rollstuhl gesetzt – oder hatte sie sich bereits vorher schon gesetzt oder von Ivo setzen lassen?), jetzt von Ivo, dem treuen Ivo, dem sie doch immer Carepakete geschickt hatte, geschoben, und ich wusste im ersten Augenblick nicht, welcher Gruppe ich folgen durfte, wollte oder sollte, weil ich für einen kurzen Moment unaufmerksam gewesen war (»Das Hotel, was für eine seltsame Architektur! Gab es für den Entwurf eine öffentliche Ausschreibung? So weiß, so verspiegelt? Oder gibt es noch mehrere dieser Hotels, nur an anderen Orten, handelt es sich um eine sozialistische Einheitsarchitektur?«, fragte ich mich in Anbetracht des Kreuzfahrthotelschiffes), kurz den Laufburschen (leuchtend rote Uniformen: Wie kriegen die das hin? Neu?) hinterhergetrottet war, nicht bemerkt hatte, dass sie sich von der anderen Gruppe (Großmutter, Ivo, Imre, Maria und Entlein) getrennt hatten, den Irrtum dann aber feststellte, dabei jedoch nicht sicher war, ob es tatsächlich ein Irrtum sein konnte, weil ich mir in diesem kurzen Moment meines Platzes nicht bewusst war, dann aber wieder kehrt machte und mich der mutmaßlich richtigen Gruppe (immerhin) selbst hinterhertrug.

Das Zimmer, von dem meine Großmutter sagte, es wäre das »Zimmer wie immer« (was ihr von Maria mit »Natürlich. Selbstverständlich. Für Sie. Wie immer.« bestätigt wurde), befand sich im siebten und letzten Stock des Hotels, zum Meer hin, das Zimmer, das kein Zimmer war, sondern eine Suite in plüschigem Rosa, loftartig mit breiter Fensterfront zum Meer hin, raus zur Dachterrasse, und dahinter lag das Meer, weit, mit sanftem Wellenspiel, das Meer, und darüber Möwen und dahinter, hinter dem Meer, Italien, irgendwo, unsichtbar, und in der Ferne, am Horizont, kurz vor dem Horizont, vor dieser Linie, hinter der alles aufzuhören scheint, aber dennoch weitergeht, auch wenn es nicht so aussieht, sodass man in diesem Fall seinen Augen nicht trauen darf, kurz davor kündigte sich ein Gewitter an – am Horizont über dem Meer war es schon sichtbar, von dort wehte ein frischer, salzig riechender, angenehm kühler Wind durch die offene Glasschiebetür, die Frau Dresenkamp nun sanft zu schließen begann, während der Ivo die feine alte Dame neben den Wohnzimmertisch platzierte (den danebenstehenden Stuhl hatte Maria beiseitegenommen und einer der beiden Töchter gegeben, mit einer Anweisung, die ich nicht verstanden hatte, aber wohl die Bitte beinhaltet haben musste, den Stuhl nach draußen, vor die Türe der Suite zu stellen, denn genau das tat Anne oder Franceska), und die feine alte Dame eben dort, an diesem wunderbaren Ort platzierte, von dem aus man alles im Blick hatte, das Meer, den Ivo, die Maria, den Imre, Frau Dresenkamp, mich und die Töchter, mit dem Rücken zur Wand.

Und da war er jetzt (einem Zaubertrick gleich), der Ivo, stand in ihrem Hotelzimmer, in der Suite, mitten unter den anderen – und ständig suchte sie, die greise alte Dame, seinen Blick –, und manchmal, wenn sich wie zufällig ihre Blicke trafen, schaute sie, als sei sie schüchtern, wie beiläufig zur Seite, schaute weg, als sei es eben ein Zufall, ja, nicht einmal das!, gewesen, dass sich ihre Blicke getroffen hatten, als wäre dies beim natürlichen, beim nur allzu natürlichen Umherschauen geschehen, als habe sie ihn nicht einmal bewusst angeschaut, ja nicht einmal gesehen, sondern allenfalls und bestenfalls mit dem Blick gestreift, also so, als wäre er es gewesen, der sie angeschaut habe und sie immer wieder anschauen würde (ein Trick, den sie seit ihrer Pubertät beherrschte, ohne dass er ihr beigebracht worden wäre), und dann, wenn sie weggeschaut hatte, lächelte sie. Wie für sich. In sich hinein, als würde sie sich sagen, immer wieder selbst sagen: Welch ein Glück, welch ein Glück! (– also ein Glück, das nur die Pubertät und dann eben wieder das Alter kennt.) Und Maria begann ihre Erzählung vom Krieg und der Kriegszeit, begann die Erzählung, wie aus dem Nichts (oder zumindest auf ein Zeichen hin, das ich übersehen hatte) oder einfach eben nur so, als ob es eine Lücke zu überwinden, eine Brücke zu bauen, vielleicht auch nur eine peinliche Stille zu überdecken galt. (Manchmal ist Schweigen Silber und Reden Gold …) Sie erzählte, und ihr Gesicht arbeitete dabei, arbeitete mehr als ihr Körper, legte sich – so weit in seiner Teigigkeit möglich – mal nachdenklich in Falten, mal zog es sich wieder straff, produzierte dann ab und an ein (ungewöhnlich hohes, nicht aus dem Körper kommendes) Lachen, fror wieder ein (beinahe mitsamt der Lippen), stieß erneut Worte, einen ganzen Strom von Worten, einen Wortfluss hervor, der abrupt versiegte, sich aufstaute und von Neuem aus ihrem Gesicht hervorquoll und das teigige, fleischige Gesicht erzittern ließ, aber eben ohne ihren Körper zu bewegen, noch ihre Arme oder Hände, oder ihre Hände gar für unterstreichende Gesten zu gebrauchen. Ihre Arme und Hände hingen nutzlos herunter, als stünde sie, Maria, während sie erzählte unter Schock. Und was sie erzählte, war:

Dass sie sich freue. Dass es lange her sei. Dass sie das nicht glauben könne. Dass die Zeit schrecklich gewesen sei. Dass der Krieg schrecklich gewesen sei. Dass das Hotel im Krieg auch Kriegsschauplatz gewesen sei. Dass es beschossen worden sei. Dass es einen Brand im Hotel gegeben habe. Dass später Flüchtlinge ins Hotel gezogen seien. Dass die Hotelleitung die Verantwortung niedergelegt und geflüchtet sei. Dass das Hotel in dieser schwierigen Zeit ohne Leitung gewesen sei. Dass sie zusammen mit anderen Angestellten die Leitung interimistisch übernommen habe, sich um das Hotel gekümmert habe – und um die Flüchtlinge, sich um beides ja habe kümmern müssen. Dass ihr Mann ihr im Hotel keine Hilfe habe sein können. Dass er ja Polizist sei. Und dass die Polizisten im Krieg ja alle Hände voll zu tun gehabt hätten, sich um den Rest der öffentlichen Ordnung hätten kümmern müssen, um die Menschen, die Flüchtlinge und die ganzen Flüchtlingsströme, ja, in Wellen seien sie gekommen, und überhaupt so vieles hätten sie, die Polizisten, organisieren müssen. So, wie sie auch – und die anderen – im Hotel viel zu organisieren, zu improvisieren hatten. Und dass es da manchmal geholfen habe, dass ihr Mann bei der Polizei gewesen sei, denn der hatte Kontakte, und die Kontakte habe sie nutzen können. Und dass trotzdem das Hotel viel Schaden genommen habe. Auch wegen der Flüchtlinge. Durch die Flüchtlinge. Aber man habe sie ja nicht einfach verjagen können, nicht? Und dass es erst jetzt wieder bergauf gehe, dass die letzten Kriegsschäden erst seit einem Jahr beseitigt seien. Und dass sie jetzt Teilhaberin des Hotels sei. Mit einem kleinen Anteil, einem winzigen Anteil. Der aber wichtig sei für sie, eine Belohnung für die freiwillig übernommene Arbeit »in jener Zeit« sei. Und jetzt sei sie für das gesamte Reinigungspersonal zuständig. Nicht mehr nur auf einem Stock. Nein, für das gesamte Hotel. Auch für den Garten. Auch für die Hausmeister, den Swimmingpool und den Tennisplatz. Dass es viel Arbeit sei, aber dass es ihr auch Spaß mache, sie könne ja täglich den Fortschritt sehen, wie alles wieder aufgebaut werde. Und: dass die Touristen wiederkommen würden. Kommen sollten. Wie früher. Denn: Es sei doch noch immer schön hier, nicht? Beinahe schöner als vorher. Zumindest das Hotel. Jetzt. Man hätte es ja ohnehin modernisieren müssen. (Worüber sie lachte.) Und dass sie ihren Mann leider entschuldigen müsse, er wäre so gerne zur Begrüßung dagewesen, aber Dienst sei eben Dienst. Und dass er nebenher jetzt versuchen würde, ein Import-Export-Geschäft aufzuziehen. Dass er aber alsbald mit ihr zusammen zu Besuch kommen werde, denn sie würden natürlich zusammen den Ehrengast, die feine alte Dame, besuchen wollen.

 

Und währenddessen hatte der Ivo unter den anderen gestanden, hatte aufmerksam mitgehört, zugehört, gelächelt und genickt – und immer wieder hatten sich die Blicke des Ivo mit denen der feinen alten Dame getroffen, hatten sich ihre Blicke flüchtig berührt, und die Großmutter sagte ab und an: »Ach.«, »Wirklich?«, »Oh!«, »Ja.«, »Nein.«, »Das ist ja …«, »Mhm« und nickte oder schüttelte den Kopf und war bei all dem gerührt. Es war schön, die feine alte Dame so zu sehen. Und dann war Marias Geschichte vorbei und es entstand eine Pause. Nicht unangenehm, denn irgendwie begann die Luft zu knistern.

Es ging an die Geschenkverteilung, die Präsentausgabe, wobei Frau Dresenkamp, die sich während Marias Erzählung verlegen und etwas abwesend, aber nicht unhöflich abwesend, mit den Daumenballen ihrer Hände und mit ihrem Altersfleck beschäftigt hatte (der Fleck hatte immer noch nicht weggehen wollen – manchmal hatte sie ihre »Handarbeit« plötzlich, als wäre sie in diesem Moment erst selbst darauf aufmerksam geworden, unterbrochen, aber dann hatte sie doch wieder selbstvergessen damit begonnen), geflissentlich das Mitgebrachte reichte, die Päckchen und Pakete der Großmutter reichte, die sie entgegennahm und dann unter der Nennung des jeweiligen Namens weitergab an die betreffende und bedachte Person, die sich darauf artig und überschwänglich bedankte, die beiden Mädchen machten sogar einen Knicks, selbst Imre wurde bedacht und natürlich auch Frau Dresenkamp, und alles war wie ein frohes Fest, wie Weihnachten, bloß ohne Schnee, dafür ohne Firlefanz, auch wenn der treue Ivo leer ausgegangen war, wenn er nichts bekommen hatte, sondern eben nur einen Blick, einen langen Blick mit der feinen alten Dame austauschte und sie beide ihren (vielleicht) wissenden Blick teilten und still lächelten, und die Großmutter dann noch mal den sich über sie ergießenden, überschwänglichen Dank entgegennahm. Noch glücklicher: Seligkeit.

Und dann war sie müde. Erschöpft, natürlich, wobei sie sich ans geschwollene Knie fasste, die Runde auflöste und somit alle verabschiedete, und auch ich wurde verabschiedet, und zwar als Erster. Man würde sich dann zum Abendessen sehen, nicht? Neunzehn Uhr?

Ich gab der feinen alten Dame ein Küsschen links und rechts auf die Wange und ging aus dem Zimmer, aus der Suite, den Gang runter, ging den Gang entlang (ockerfarbener Teppich, weiß gestrichene Raufasertapete (vielleicht auch deren Kunststoffpendant: Wenn man auf die Erhebungen drückt, geben sie nach: Schaumstoff)) und ging einen anderen Weg, nicht den Weg, den ich im Gefolge der alten Dame heraufgegangen (und dann im Silber und Messing des verspiegelten Aufzugs hinaufgefahren) war, ich ging den Gang weiter, bis zu einem anderen Aufzug neben einer Treppe, einem schlichten Aufzug, die Türen verschrammt, abgeplatzte bordeauxrote Farbe, die Linien des Pinsels in der Farbe noch deutlich zu sehen: Ergebnis einer hastigen Renovierung (entsprechend den Überstreichungen der durch das Salzwasser korrodierenden Schiffsaufbauten), der Aufzug für Bedienstete, der Aufzug der Boys, der Kofferträger, der modernen Sklaven des Kapitalismus: eilfertig und unterbezahlt.

Ich fuhr ins Erdgeschoss und stieg kurz hinter der Lobby aus. Ich ging zum Ausgang, die elektrische Schiebetüre öffnete sich, ich stand auf dem Treppenabsatz. Schwüle Luft schlug mir entgegen. Ein diesiges Blau, der Himmel: drückend, lastend. Das Gewitter kündigte sich an, verengte den Horizont, aber es war nicht wirklich zu erkennen in dem kleinen Ausschnitt des Meeres, den man von hier aus sehen konnte, über dem Möwen und das Zirpen von Zikaden in der Luft hing – ich versuchte durchzuatmen, musste husten und ging rein, ins Hotel, ging durch die Hoteleingangstüre. Der Portier lächelte mich freundlich an, Maria stand daneben und fragte, ob ich nicht auch auf mein Zimmer wolle?

Das mir zugeteilte Zimmer lag dem der feinen Dame gegenüber, war aber keine Suite und nicht feudal, sondern schlicht, aber geräumig, dazu ein großer Balkon mit Blick aufs Meer, und das Meer ging unruhig, der Himmel hing tief und die ersten Regentropfen fielen, große Regentropfen, sie zerplatzten auf dem Beton des Balkons und klopften ans Fenster.

Maria erzählte noch einmal, wie sie sich freue, gerade auch mich kennenzulernen, und dass ich unbedingt ihre Töchter näher kennenlernen müsse, und auch und überhaupt (fuhr sie überschwänglich fort) ihren Mann, der eben mit dem Aufbau seines Import-Export-Geschäfts beschäftigt und sonst nach wie vor bei der Polizei beschäftigt sei, ihr Mann, der mich ja noch nicht einmal gesehen habe, und dass die feine alte Dame doch noch erstaunlich rüstig sei, erstaunlich rüstig, ja, in der Tat. Auch die Sache mit dem Knie sei sicherlich zu beheben. Ich antwortete »Ja, ja.« Und fragte mich, ob ich ihr Geld geben müsste für das Zeigen des Zimmers, für die Laufburschen, die mein Gepäck ins Zimmer gestellt hatten und die nun höflich im Hotelflur warteten; entschied mich aber dagegen, hatte ohnehin nichts zur Hand, dachte, es könnte auch als unhöflich ausgelegt werden, verzichtete und verabschiedete mich von Maria.

Zum Abendessen kam ich pünktlich, aber scheinbar doch zu spät. Die feine alte Dame saß mit einem vorwurfsvollen Blick, dem ich mit einem freudigen Lächeln zu begegnen suchte, aufrecht, ordentlich und stolz zu Tische, neben ihr Frau Dresenkamp, die mit dem Geraderücken des Bestecks beschäftigt zu sein schien. Die Großmutter wies mir meinen Platz ihr gegenüber am Vierertisch zu, mitten im riesigen Speisesaal, dem Hotelrestaurant, das etwa zu einem Viertel gefüllt war, die Tische selbst allerdings nur spärlich besetzt – die Hotelgäste wirkten etwas verloren in der Größe des Saales, als wolle keiner laut sprechen, als traue sich niemand, die Tischkonversation in normaler Lautstärke zu führen, geschweige denn die Stimme zu erheben, ein dumpfes Gemurmel füllte den Raum, schwoll ab und an, auf und nieder, und – wie ein Versehen – gesellte sich ab und an ein Gläserklingen hinzu. Die feine alte Dame schien jetzt wieder ausgeruht, beinahe etwas überdreht, als sei sie selbst erheitert über ihre Freude, was mich beruhigte, denn die Reise war für sie ein Triumph, eine Selbstüberwindung gewesen, und jetzt schon ein Sieg, der Anlass zur Freude im doppelten Sinn: Der Ivo, er würde sie morgen besuchen kommen, und vielleicht übermorgen wieder. Und am darauffolgenden Tag? Und die Maria? Und das Hotel – war Dubrovnik nicht wieder die Erfüllung aller Wünsche, war es nicht ein Versprechen, das gehalten worden war, nach wie vor, trotz allem, nach all der Zeit, trotz des Krieges, trotz ihres schlimmen Knies golden glänzend?

Aus diesen Gründen war sie angestachelt von den Erlebnissen des Tages und von dem Gedanken daran, was der morgige Tag bringen würde, und so fragte sie mich, was, wenn der morgige Tag doch schon so viel Gutes verhieße, was dann die gesamte Zeit hier – in ihrem Dubrovnik – erst verheißen würde! Trotzdem, warum ich zu spät gekommen sei?

»Ich habe mit meiner Freundin telefoniert.«

»Diesem Mädchen aus dem Studium?«

»Ja.«

»Na ja, wenn man jung ist! Wenn ich noch mal jung wäre, wer weiß!«, sagte sie und lachte.

Dann entschied sich jeder für sein Menü und die feine alte Dame entschied sich für eine Flasche Rotwein; nicht für sich, sondern für uns alle, denn: Gab es nichts zu feiern?

Frau Dresenkamp fragte, ob sie sich kurz entschuldigen dürfe. »Familiäre Angelegenheiten«, sagte sie und schaute nervös die feine alte Dame an. »Nichts ist so wichtig wie die Familie.«, sagte diese, und Frau Dresenkamp räusperte und verabschiedete sich mit einem Nicken.

»Gutes Personal ist heute schwer zu finden.«

Ein uniformierter Kellner servierte den Rotwein, und die feine alte Dame nahm einen großen Schluck und sagte, wie gut das tue und wie gut das schmecke und dass man im Altersheim ja immer vergesse, wie schön das Leben gewesen sei, wie gut es mitunter zu einem sei. Aber natürlich, auf der anderen Seite sei das Leben ja nicht immer gut zu einem. Wie käme man sonst in ein Altersheim? Und überhaupt: Das Leben sei keine leichte Aufgabe. Das habe schon ihr Vater gesagt. Manchmal müsse man einfach nur Haltung bewahren. Darauf käme es an. Und natürlich auch auf Glück. Und auf Sicherheit. Finanzielle Sicherheit. Liebe sei etwas, das man sich leisten können müsse. Da habe sie auch früher anders drüber gedacht. Denn: Daran denke man in der Jugend ja nicht. In der Jugend, da sei die Liebe nicht mal ein Geschenk, sondern nur eine Sehnsucht. Und deswegen würden sich die jungen Leute ja auch ständig verlieben. Aber sie, sie habe dabei immer an die ewige Liebe geglaubt, immer daran gedacht. Und als sie dann den Vater, meinen Großvater, kennengelernt hatte, da war sie sich sicher, dass das die ewige Liebe sei. Das habe sie einfach gewusst und gespürt. Aber auch das habe sie schon damals nüchtern betrachtet (so sagte sie mir, und sie sagte, dass ich das jetzt vielleicht in meinem Alter noch nicht verstehen könne, aber man würde das lernen, müsse das lernen, mit der Zeit), denn:

»Nichts ist sicher. Alles verändert sich. Die Umstände verändern sich. Immer. Ständig«, und dann spülte sie ihren letzten Bissen Cevapcici mit einem Schluck Rotwein hinunter – man müsse das nüchtern sehen, denn:

»Zunächst glaubst du an die ewige Liebe. Du machst ein paar Anläufe und dann denkst du, du hast den Richtigen gefunden, die Liebe fürs Leben. Erst wohnt ihr zur Miete, später baut ihr ein Haus und irgendwann, ja, irgendwann schenkst du ihm Kinder, weil ihr beide wollt, dass eure Liebe Fleisch wird. So geht das ein paar Jahre, man entwickelt sich, er geht mal fremd, weil das so sein muss bei Männern. Ich war immer treu, weil ich es wollte, dazu brauchst du einen Willen, aber den findet man bei Männern schwer. Das tut erst weh, aber irgendwann kommst du darüber weg, weil es so sein muss und am besten weißt du nichts davon, denn … Und dann wird man älter, und zusammen älter, und hat das mit dem Haus und den Kindern geschafft, das eine Haus ist längst gebaut, das Dach inzwischen erneuert, dann ein weiteres Haus gebaut, ein moderneres, das alte bekommt das eine Kind und das andere wird das andere Kind bekommen, wenn ihr tot seid. So geht es also über die Jahre, und es geht alles gut, ja, es ging gut, ganz gut soweit über die Jahre, die Jahrzehnte, dann stirbt der Vater, unser Vater, schließlich war er älter, aber er stirbt nicht einfach so weg, sondern er lässt sich Zeit beim Sterben, denn er stirbt an Krebs, und das dauert seine Zeit, auch im Alter, auch ohne Chemo. Und das ist hart. Hart für den Partner, weil er sich Zeit lässt, langsam weniger wird, aber zäh am Leben klebt und festhält. Das war nicht einfach für mich. Manchmal wollte ich einfach alles hinschmeißen und wegfahren. Wegfahren, einfach raus und nicht wiederkommen, erst wiederkommen, wenn es endlich vorbei ist. Ich konnte das nicht mehr sehen. Wenn ich eins gelernt habe – und du kannst alt werden wie eine Kuh, du lernst doch immer noch dazu –, dann, dass alles zugrunde geht, dass nichts bleibt, nichts bestehen, kein Wert bestehen bleibt. Was haben wir nicht alles verloren, der Vater und ich. Wirtschaftskrise, Inflation, Krieg. Immer alles weg. Alles, was dir dann bleibt, ist ein Haus, aber auch ein Haus kann abbrennen, das Dach ist marode, irgendwas ist immer, und dann ist das auch kaputt. Alles geht irgendwann kaputt. Das einzige, das bleibt, ist Gold. Gold behält seinen Wert. Gold rostet und verkommt nicht, und du musst es nicht instand halten.«

Ich nickte und wir nahmen einen Schluck Rotwein.

Dann folgten ihre Fragen nach meinem Studium und, wie sie sagte, nach dieser neuen Freundin, die ich im Studium jetzt kennengelernt habe. Ich antwortete höflich-einsilbig und gab vor, mit dem Verzehr des Nachtischs beschäftigt zu sein. Aber ich sagte, wie sehr ich mich für sie freuen würde. Für sie, dass sie diese Reise noch einmal gewagt und auf sich genommen habe.

»Hättest du vorher nicht gedacht, oder?«, sagte ich.

»Schön, dass ich dir das noch alles zeigen kann«, sagte sie.

Und dass der Ivo in der Tat ein interessanter Mensch sei.

»Ein Gentleman.«

 

»Ja.«

»Weißt du, man muss auch zusammenhalten können. Vertrauen fassen können. Je älter man wird, desto schwieriger wird das. Umso größer ist dann das Geschenk. Wenn dir jemand Vertrauen schenkt. Das muss man annehmen können. Das muss man erst wieder lernen. Da muss man manchmal über seinen eigenen Schatten springen. Die Freunde werden ja immer weniger. Und man selbst immer komischer.«

Und dann nestelte die feine alte Dame an ihrer silbernen Halskette und setzte den silbernen Hampelmann wie beiläufig in Bewegung, während Frau Dresenkamp mit geröteten Augen zurückkam.

»Ach, was heißt schon komisch!«, sagte ich.

Wir lästerten noch etwas über die Wunderlichkeiten und Sonderbarkeiten ihrer alten, inzwischen größtenteils verwitweten Freundinnen. Vom Lachen hatte sie Tränen in den Augen. Zum Abschied gab mir die feine alte Dame einen Kuss auf die linke und die rechte Wange:

»Ach, alt werden ist schwer, hat der Vater immer gesagt.«

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?