Ein Lied in meinem Hause

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2. Moritz von Hessen-Kassel fasst einen Entschluss


Der Landgraf Moritz von Hessen war 1598 nach Dresden gereist, um den jungen Kurfürsten Christian II. und seine Mutter Sophia zu besuchen. Am Dresdner Hof wurde zu dieser Zeit der neue Erzieher des Kurfürsten, Bernhard von Pölnitz, in sein Amt eingeführt. Anlässlich dieser Amtseinführung wurde ein Fest gefeiert. Während der Festlichkeiten gelang es Moritz von Hessen, ein längeres Gespräch mit dem um drei Jahre älteren Erzieher zu führen – ein Gespräch, das für den Landgrafen und für die Familie Schütz große Tragweite bekommen sollte.

Während des Festmahles saß der Landgraf neben Bernhard von Pölnitz, und als das Mahl beendet war, wandte sich Moritz von Hessen dem Erzieher zu und sagte:

„Ich gratuliere Ihnen zu dem neuen verantwortungsvollen Amt. Ich freue mich sehr, dass Christian in Ihnen einen gebildeten und weitgereisten Lehrer gefunden hat. Besonders glücklich bin ich darüber, dass Christian zu Ihnen ein tiefes Vertrauen besitzt.“

„Mich ehrt es, die Aufgabe der Erziehung des jungen Kronprinzen zu übernehmen. Sie haben es ja eben miterlebt, dass ich zum Appellationsrat und zum Kammerjunker ernannt wurde und den Amtseid ablegte.“

„Wie ich erfuhr, haben Sie auf einer Studienreise die Schweiz, Italien, Kroatien und Österreich kennengelernt.“

„So ist es! Aber auch Sie sind ein weitgereister und sehr gebildeter Mann. Man nennt Sie den „Gelehrten“. In Adelskreisen spricht man mit größter Achtung über Ihre Sprachkenntnisse und über Ihre gelungenen Kompositionen.“

„Ja, ich interessiere mich sehr für die Musik. Seit meiner Regierungsübernahme habe ich mir das Ziel gesetzt, eine Hofkapelle aufzubauen, die für alle deutschen Herrenhäuser Vorbild werden soll.“

„Dieses Ziel verfolgt auch Kurfürst Christian. Leider merke ich aber, dass der junge Herrscher mehr Sinn für die Freuden der Tafel und für die Jagd und Turniere hat, denn für Musik.“

„Trotz dieser Interessen sollte er den Aufbau der Hofkapelle nicht vernachlässigen. Hochzeiten, Taufen und Begräbnisse müssen musikalisch umrahmt werden. Auch die Kirchenmusik muss gefördert werden. Das ist unabdingbar.“

„Da haben Sie Recht! Aber die Musiker müssen heute auch den neuen Anforderungen gerecht werden. Ich habe in Italien eine Musik kennen gelernt, die die Herzen ergreift. Es ist eine so klangvolle göttliche Musik, dass ich ganz davon ergriffen wurde.“

„Solch eine Musik auch in Deutschland erklingen zu lassen, das ist mein Anliegen. Meine Reise gilt vor allem der Talentsuche. Ich brauche Musiker, die ich nach einem Studium in meiner Hofschule „Mauritianum“ in Kassel nach Italien zu Giovanni Gabrieli schicken kann, um sie dort zu exzellenten Musikern ausbilden zu lassen. Meine Hofschule soll eine Vorschule für die Musiker der Hofkapelle werden.“

„Ihre Hofschule …! Erzählen sie mir davon!“

„Im Mauritianum werden adlige Schüler in verschiedenen Sprachen, Naturwissenschaften und Gesang ausgebildet. Mir ist es aber auch wichtig, talentierte nichtadlige Schüler zu finden. Voraussetzung ist, dass sie aus gutem Hause kommen, wohlerzogen sind und über eine gute sprachliche, naturwissenschaftliche und musikalische Grundausbildung verfügen.“

„Da kommt mir ein Gedanke! Ich habe kürzlich in Weißenfels logiert. Dort wurde vom kürzlich verstorbenen Organist Georg Weber und dem Bürgermeister Heinrich Colander ein Collegium musicum gegründet, dass von sich Reden macht und – das ist bemerkenswert –, auch über gute Nachwuchstalente verfügt. Sie sollten sich diese Konzerte mal anhören. Vielleicht finden Sie in Weißenfels ein Talent, dass ihren Anforderungen entspricht!“

„Das ist wirklich eine gute Idee. Ich danke Ihnen für Ihren Hinweis! Auf der Rückreise nach Kassel werde ich in Weißenfels vorbeischauen.“

Als Moritz von Hessen in Weißenfels erschien, herrschte auf dem Marktplatz ein großes Gedränge. Viele Neugierige waren erschienen, um den fürstlichen Reitertrupp zu bestaunen. An der Spitze des Zuges ritt der Vorreiter mit einer Standarte und wies die Richtung an. Dann folgten bewaffnete Reiter.

Hinter der Reiterwehr ritt ein fürstlich gekleideter Herr in den zwanziger Jahren.

„Das ist der Landgraf Moritz von Hessen!“, riefen sich die Weißenfelser zu.

„Seht, die den Landgraf begleitenden Reiter haben Musikinstrumente bei sich!“, rief ein älterer Bürger.

„Er kommt wohl, um das Collegium musicum zu verstärken!“, meinte ein kleiner Junge.

Tatsächlich ritt der Trupp zum „Goldenen Ring“, in dessen Gasträumen heute, am Sonnabend, das Collegium musicum proben würde.

Heinrich und seine Brüder Christof und Georg waren dem Zuge gefolgt und sahen, wie der Landgraf mit seinem Gefolge vor dem „Goldenen Ring“ von den Pferden stieg.

Vater Christof und Mutter Euphrosine standen festlich gekleidet am Tor und begrüßten den hohen Gast.

„Fürstliche Durchlaucht, es ist uns eine Ehre, dass Sie in unserem Gasthaus logieren wollen.“

Vater Schütz verneigte sich.

„Es ist nur für eine Nacht. Ich reise morgen in der Frühe wieder ab. Jetzt aber bereiten Sie mir ein gutes ländliches Mahl und sorgen Sie auch für ein gutes Bier!“

„Fürstliche Durchlaucht, halten zu Gnaden, aber ich muss Ihnen sagen, dass nach dem Nachtmahl das Collegium musicum hier im Gastzimmer zusammenkommt, denn jeden Sonnabend ist hier in der Gaststätte Probe.“

„Deshalb bin ich gekommen. Der Ruf des Collegiums musicums ist so groß, dass ich eigens deshalb kam, um mich von dem Können der Musiker zu überzeugen.“

Als der Landgraf zunächst seine Schlafstätte aufsuchte, rief Christof Heinrich zu:

„Lauf zum Bürgermeister Heinrich Colander. Er soll die Ratsherren und die Musiker davon verständigen, welch hohen Gast wir heute haben werden.“

Christof Schütz ist froh. Es läuft alles so, dass er zufrieden sein kann. Die Köchinnen haben ein gutes Mahl bereitet und die Gäste scheinen zufrieden zu sein. Nach und nach treffen der Bürgermeister, die Ratsmitglieder und die Musiker ein, und als das Nachtmahl beendet ist, stellt sich der Knabenchor auf, und die Musiker nehmen ihre Plätze ein.

Bürgermeister Colander aber lässt es sich nicht nehmen, den hohen Gast feierlich zu begrüßen.

„Fürstliche Gnaden, wir die Bürger von Weißenfels und die Musiker des Collegiums musicum begrüßen Sie auf das Herzlichste, und wir wollen Ihnen heute vier-, sechs- und achtstimmige Chöre vorstellen. Wir singen die Werke der Meister Dulichius, Leisring, Vintzius und Ihres Kasseler Hofkapellmeisters Georg Otto, aber auch Werke unseres verstorbenen Kantors Georg Weber.“

Der Chor hat sich inzwischen aufgestellt und die Musiker nehmen ihre Plätze ein.

In der ersten Reihe der Chorknaben stehen Heinrich, Christof und Georg.

Heinrich Colander geht zum Spinett und gibt den Einsatz. Es ist der 23. Psalm von Georg Weber, der zuerst gesungen wird. Dem Organist kommt es darauf an, dass der Landgraf die anmutige Stimme Heinrichs kennenlernt, denn in dieser Motette singt der Dreizehnjährige die Solopartie.

Heinrichs heller Sopran erfüllt den Raum. Der blonde schlanke Knabe scheint während des Gesanges zunächst ganz in sich versunken zu sein, dann aber, als er die bewundernden Blicke des Landgrafen spürt und bemerkt, mit welchem Entzücken der Landgraf sein Solo aufnimmt, wirft er seinen Bewunderer einen strahlenden Blick zu. Der Fürst erwidert seine Blicke und nickt ihm aufmunternd zu.

Es ist, als hielten die beiden Musikbegeisterten ein stummes Zwiegespräch.

Heinrichs Herz jubelt. Er findet den Beifall des hohen Gastes.

Als Heinrich Colander nach diesem Musikstück das Konzert fortsetzen wollte, winkte der Landgraf ab. „Lass uns miteinander plaudern!“, rief er. Daraufhin nahmen Gäste und Musiker wieder an den Tischen Platz und es begann eine lebhafte Unterhaltung.

Landgraf Moritz wendete sich an Heinrich Colander.

„Mir gefallen die Psalmen Davids von Georg Weber. Sind sie schon gedruckt?“

Moritz von Hessen wartete eine Antwort gar nicht erst ab. Schon stellte er die nächste Frage.

„Sie spielen Werke meines Hofkapellmeisters Georg Otto. Welche Werke sind das?“

Heinrich Colander war eifrig bemüht, die Fragen zu beantworten, aber es schien, als wollte der Fürst gar keine langen Ausführungen hören. Es drängte Moritz von Hessen, die für ihn wichtigste Frage zu stellen:

„Wer ist der junge Solosänger?“

„Das ist der dreizehnjährige Heinrich Schütz, Sohn des Gastwirtes.“

Der Landgraf schien mit dem Gespräch zufrieden zu sein, denn er forderte die Musiker auf, die Probe fortzusetzen. Jetzt wurden auch die Kasseler Musiker mit einbezogen. Es wurde ein erquickendes Konzert und für alle Beteiligten ein einmaliges Erlebnis. Zum Schluss vereinigten sich alle Sänger – die Weißenfelser und die von der Hofkapelle Kassel – und sie sangen zum Schluss gemeinsam:

„Die Nacht ist kommen …“

Ehe Heinrich den Gastraum verließ, trat der Landgraf auf ihn zu.

„Ich erwarte dich morgen früh vor dem Frühstück hier im Gastraum. Ich möchte dich examinieren.“

Heinrich sah den Fürst mit großen Augen an, verbeugte sich und sagte: „Ich werde mich morgen früh bereit halten!“

Danach verließen sowohl die Gäste als auch die Musiker den Gastraum. Nur der Wirt und der Landgraf waren geblieben.

„Holen Sie uns den besten Wein Ihres Weinkellers und füllen Sie unser beider Becher!“, rief der Landgraf frohgemut.

Nachdem beide, der Landgraf und der Wirt, sich gegenübersaßen und den Wein genossen, sagte der Fürst:

 

„Ich bin begeistert von der guten musikalischen Darbietung und bin erstaunt darüber, dass im thüringisch-sächsischen Raum die Musik so gepflegt wird.“

„Es freut mich, Eure Durchlaucht, ein solches Lob aus Ihrem Munde zu vernehmen. Unser Collegium musicum wurde 1592 vom Stadtrat bestätigt. Wir pflegen Kirchenmusik und singen und spielen bei Festlichkeiten. Stolz sind wir auch auf unseren Nachwuchs. Viele unserer Chorknaben sind Schüler der hiesigen Lateinschule.“

„Ich bewunderte heute Abend vor allem die Stimme ihres Sohnes Heinrich. Man spürt, dass ihn die Musik ganz und gar erfüllt und ihm die Liebe zur Musik aus dem Herzen kommt. Ist er auch ein Lateinschüler?“

„Ja, er besucht die Lateinschule und ist, nach Aussage seiner Lehrer, ein sehr guter Schüler, der mit Begeisterung lernt.“

„Ich suche gute Sänger, die auch wohlerzogen und gebildet sind. Deshalb will ich ganz frei heraus sprechen: Geben Sie mir Ihren Jungen mit. Er soll in meiner Hofschule eine gute Ausbildung erhalten, eine Ausbildung, die Voraussetzung für ein Studium ist, denn Ihr Sohn soll nicht nur gesanglich, sondern auch sprachlich und naturwissenschaftlich ausgebildet werden.“

Fragend und erwartungsvoll schaute Moritz von Hessen Christof Schütz an und konnte die Antwort kaum erwarten. Aber es kam keine Antwort. Für Christof Schütz war dieses Angebot zu überraschend, zu unvermittelt. Zwar war er stolz auf seinen Sohn, aber er wusste, wie sehr Euphrosine an dem Jungen hing, und er konnte es sich einfach nicht vorstellen, schon morgen diesen Jungen in die Ferne zu schicken. Außerdem hatte er Angst, dass Heinrich zum Musiker ausgebildet werden sollte. Er hat anderes mit seinen Jungen vor. Sie sollten Ärzte oder Juristen werden. Musik können sie nebenbei betreiben, war seine Meinung.

Moritz von Hessen-Kassel war verärgert. „Warum antwortet der Mann nicht?“, dachte er und zog die Stirn in Falten.

„Geben Sie mir Bedenkzeit“, äußerte sich endlich der Gastwirt.

„Aber nur bis morgen in der Frühe, denn ich reise morgen schon beizeiten ab.“

Recht unmutig verabschiedete sich der Landgraf an diesem Abend, und Christof Schütz tat nichts, um den Unmut des hohen Gastes zu besänftigen.

Heinrich kommt, wie versprochen noch vor dem Frühstück in den Gastraum. Der Landgraf sitzt schon am Spinett. Er spielt eine Melodie und fordert den Knaben auf: „Sing die Melodie nach!“

Heinrich fällt das nicht schwer.

Dann spielt Moritz von Hessen einen Ton, dazu soll Heinrich die Terz, dann die Quart, die Quint, die Septime und die Oktave singen. Er soll einen Dur- von einem Molldreiklang unterscheiden. Zuletzt fordert der Prüfende den Knaben auf: „Spiel du etwas auf dem Spinett!“

Heinrich spielt das Lutherlied: „Eine feste Burg ist unser Gott …!“

Kaum hat Heinrich das Lied beendet, kommt der Vater, um das Frühstück vorzubereiten.

Der Landgraf schickt Heinrich fort und tritt auf den Wirt zu.

„Ich warte auf Ihre Antwort! Wie haben Sie sich entschieden?“

Wieder zögert der Vater mit der Antwort. Dann überwindet er sich und sagt:

„Der Junge ist uns sehr ans Herz gewachsen. Meine Gemahlin kann den Gedanken, ihn so jung in die Fremde zu schicken, nicht ertragen. Das Angebot kommt gar zu unvermittelt.“

Der Landgraf ist enttäuscht, tief enttäuscht und begreift nicht, dass ein Gastwirt es sich leisten kann, ein Angebot, das seinem Sohn eine fürstliche Erziehung in Aussicht stellt, abzuschlagen.

Im Frühjahr 1599 saß Moritz von Hessen mit Georg Otto am Spinett und spielte mit ihm eine seiner Kompositionen. Als das Spiel beendet war, lehnte er sich zurück, stöhnte laut und sagte:

„Ich will Nachwuchs fördern und habe kein Glück bei der Talentsuche, Praetorius bliebt in Braunschweig und auch Haßler ist nicht zu bewegen, zu mir zu kommen. Am meisten aber ärgere ich mich über meinen Misserfolg in Weißenfels. Ich kann nicht begreifen, dass der Vater dieses musikalisch so talentierten Heinrich Schütz sich weigert, die göttlichen Gaben seines Sohnes zu fördern. Das Collegium musicum mag eine Vorstufe für eine gute musikalische Ausbildung sein, aber hier in Kassel habe ich treffliche Lehrer, die den Schülern eine universelle weltliche und musikalische Ausbildung geben, die der Junge in Weißenfels nie und nimmer erlangen kann.“

„Sie sollten noch einmal nachstoßen. Schreiben Sie dem Vater!“

„Was soll ich ihm denn schreiben?“

„Das, was Sie mir jetzt versucht haben plausibel zu machen!“

Moritz lachte: „Sie sind ein Schalk! Aber Recht haben Sie! Dennoch – ist es nicht demütigend, wenn ich, der Landgraf Moritz von Hessen, den Gastwirt Schütz, nachdem er mich abwies, ein zweites Mal bitte und noch dazu schriftlich?“

„Wollen Sie Nachwuchstalente oder nicht?“

„Wiederum haben Sie Recht! Noch heute setze ich mich hin und schreibe.“

Moritz von Kassel hielt Wort. Er setzte sich tatsächlich noch am selben Abend an den Schreibtisch und schrieb an Christof Schütz, den Ratsherren und Gastwirt zu Weißenfels.

Er schrieb die gleichen Worte, die er Georg Otto gegenüber geäußert hatte und setzte noch hinzu, dass er im Sommer mit seiner Hofkapelle auf Reisen gehen und, an Weißenfels vorbeireitend, einen Kurier zum „Goldenen Ring“ schicke werde, um Heinrich abzuholen.

Dann setzte er seine Unterschrift unter das Schreiben: „Der Euch wohlaffectionierte Landgraf Moritz von Hessen.

Am Morgen übergab er den versiegelten Brief einem reitenden Boten mit den Worten:

„Reiten Sie nach Weißenfels und geben Sie diesen Brief dem Gastwirt des „Goldenen Ring“ persönlich!“

Wie staunten die Weißenfelser als im Frühjahr ein reitender fürstlicher Bote Einlass in die Stadt begehrte und geradewegs zum Gasthof „Goldener Ring“ galoppierte.

Am Gasthof angekommen, übergab er das schweißtriefende Pferd dem Pferdeknecht und eilte in die Gaststube. Es war früher Nachmittag und in der Gaststube saßen nur wenige Gäste. Euphrosine hielt sich mit der vier Monate alten Justine im Gastraum auf und spielte mit dem fröhlich ausgelassenen Kind. Sie hatte in Weißenfels drei Kinder geboren, das jetzt sechsjährige Töchterchen Euphrosine, den dreijährigen Christian und den zweijährigen Benjamin, die heute in der Obhut einer Magd waren.

Da eilte schnellen Schrittes ein fürstlicher Bote in das Zimmer. Christof Schütz schaute erschrocken hoch, und ehe er es sich versah, überreichte der Kurier ihm ein versiegeltes Schreiben.

Christof wurde blass: Es war ein Brief von Moritz von Hessen.

Aufgeregt entsiegelte er den Brief. Als er ihn gelesen hatte, nickte er Euphrosine zu:

„Komm und lies. Der Landgraf schreibt uns. – Welch eine Ehre! – Übergib mir unser Töchterchen, damit du in Ruhe lesen kannst.“

Zärtlich nahm Christof Schütz Justine in den Arm. Das Kind jauchzte auf und fuhr dem Vater unsanft in die Haare.

Als Euphrosine den Brief gelesen hatte, leuchteten ihre Augen.

„Christof, welch eine Freude! Ich dachte schon, wir haben Heinrichs Glück aufs Spiel gesetzt!“

„Aber Euphrosine, ich begreife nicht! Gerade du, die den Knaben abgöttisch liebt, willst ihn in die Fremde geben?“

„Frag Heinrich selbst. Eines steht fest: Er war tief enttäuscht über deine Absage und litt damals sehr darunter. Hast du das nicht bemerkt?“

„Ruf Heinrich!“

Es war, als hätte Heinrich sich schon in der Nähe aufgehalten, denn er stand schon wenige Minuten später vor den Eltern.

„Heinrich, der Landgraf will dich in Kassel an seiner Hofschule ausbilden lassen. Du bist noch sehr jung und wirst Vater, Mutter und Geschwister entbehren. Was meinst du, sollen wir dich in Kassel ausbilden lassen?“

„Ja gern, denn ich habe Lust und Liebe in die Welt zu ziehen!“

Dabei strahlten Heinrichs Augen und Christof dachte: „Er ist wie die Mutter, seine tiefen Gefühle spricht er selten aus, aber man muss ihn nur in die Augen sehen, um zu begreifen, was er denkt und fühlt!“

Christof Schütz aber war ein bedächtiger Mann. Solche schnellen Entschlüsse konnte und wollte er nicht fassen.

„Ich berate mich noch mit Heinrich Colander, ehe ich mich entscheide.“

Als er an diesem Abend nach Hause kam, sagte er zu Euphrosine:

„Wenn der Kurier im Sommer kommt, werde ich mit nach Kassel reiten und bis dahin sollen Heinrich, Georg und Christof das Reiten erlernen. Sie werden alle drei ein Pferd bekommen. Die Pferde kann ich auch in der Wirtschaft gut gebrauchen. Aber eines steht fest: Meinen Sohn lasse ich nicht entführen. Ich führe ihn eigenhändig dem Fürsten zu – und damit basta!“

3. Heinrich Schütz unter dem Einfluss des Landgrafen Moritz von Kassel


Der Landgraf hatte Vater Schütz gebeten, seinen Sohn nach Rotenburg an der Fulda zu bringen, da er in den Augusttagen in seiner Sommerresidenz im Schloss Rotenburg weilte.

Beim Abschied vom Vater war Heinrich gar nicht mehr so froh und zuversichtlich, wie er während der Reise gewesen war. Ihm war es doch ein bisschen beklommen zu Mute, denn er würde jetzt, mit seinen knapp vierzehn Jahren, ganz allein in der Fremde sein. Aber tapfer verscheuchte Heinrich die traurigen Gedanken. Der Vater sollte keinesfalls merken, wie weh ihm ums Herz war.

„Wirst du dich auch immer sittsam und höflich benehmen und unserer Familie keine Unehre bereiten?“

„Aber natürlich, lieber Vater!“

„Und sei deinen Lehrern gegenüber folgsam!“

„Vater, ich war noch nie ein unfolgsames Kind. Ich mache euch bestimmt keine Schande.“

„Wie wahr, wie wahr“, murmelte der Vater und verabschiedete sich.

Es war ein wunderschöner Augustabend als der kleine Reitertrupp des Landgrafen die Höhen oberhalb des Fuldaer Tales erreichten. Stolz wies der Landgraf auf seine Hauptstadt Kassel:

„Sieh die schöne Stadt Kassel im Herzen Deutschlands. Sie gewährt 5000 Einwohner Obdach. Beachtenswert ist auch das Schloss. Es gleicht einer Zitadelle und ist von Wällen und Wassergräben umgeben, die es jedem Feind sehr schwer machen werden, in die Stadt einzudringen. In dem einen Seitengebäude des Schlosses wohne ich mit meiner Familie, im anderen Seitentrakt ist die Hofschule mit dem Internat eingerichtet.“

„Werde ich auch dort wohnen?“

„Ja, du wirst zusammen mit adligen Zöglingen die Hofschule und auch das von mir zu gründende Mauritianum besuchen, das im Oktober offiziell eingeweiht wird und allen Zöglingen offen steht.“

„Wenn ich beide Schulen besuchen werde, muss ich wohl sehr lange Wege zurücklegen?“

„Das Mauritianum im ehemaligen Karmelitenkloster befindet sich in der Nähe des Marktes und ist durch einen unterirdischen Gang mit dem Schloss verbunden.“

Während des Gespräches erreichten die Reiter das Stadttor. Der Hornruf des Wächters ertönte, um die Ankunft des hohen Herrn zu verkünden.

Als sie in die Stadt einritten, sah Heinrich sich um. Die mächtige Stadtkirche wirkte trutzig neben den kleinen Fachwerkhäusern in den engen Gassen der Innenstadt.

„Wir reiten erst einmal zum Schloss, denn bevor ich meine Familie aufsuche, will ich dich zum Internat bringen und dir deine neuen Kameraden vorstellen.“

Die zwanzig Zöglinge, die gerade beim Abendbrot saßen, erhoben sich, als der Landgraf eintrat. Einige Schüler trugen lilafarbene Gewänder, und andere schwarze. Heinrich vermutete, dass es die Adligen waren, die lila gekleidet waren. Den bürgerlichen Internatsschülern war schwarz vorbehalten.

„Ehe ihr weiter speist, will ich euch den neuen Kapellknaben Heinrich Schütz aus Weißenfels vorstellen, und ich hoffe und wünsche, dass ihr ihn kameradschaftlich in eurer Mitte aufnehmt, damit er sich bei uns wohl fühlt.“

Dabei beobachtete Landgraf Moritz die Knaben und bemerkte, wie Heinrich mit Christof Cornet freundliche Blicke tauschte. Die beiden Jungen schienen schon auf den ersten Blick Sympathie füreinander zu empfinden.

„Christof Cornet. Ich vertraue dir den neuen Zögling an.“

Christof verneigte sich leicht, trat auf Heinrich zu und reichte ihm die Hand. Dann begrüßte Heinrich auch die anderen Kameraden. Nach dieser kurzen Einführung verabschiedete sich der Landgraf.

Nach dem Abendbrot wurde Heinrich ins Internat geführt und Christof Cornet half seinem neuen Freund beim Auspacken der Wäsche, der Schuhe und der Bücher.

 

„Du wirst deine Kleidung selten tragen können, denn du erhältst auch so ein schwarzes Gewand wie es die anderen bürgerlichen Schüler tragen. In der Schule wird größter Wert auf Ordnung und Sauberkeit gelegt, und die Kleidungsstücke und die Schuhe müssen ordentlich in Regale verstaut werden.“

Nachdem die Kleidung gut zusammengefaltet in den Schränken verschwunden war, sagte Christof: „Wir müssen auch deine Bücher noch in die Regale stapeln, damit sie morgen, wenn der Unterricht für dich beginnt, gleich griffbereit sind.“

Als Heinrich dann am Abend in dem spartanisch eingerichteten Schlafsaal zur Ruhe kam, konnte er noch lange nicht einschlafen. Was würde das Leben für ihn alles Neues bringen? Er war in einem Ackerbürgerstädtchen unter Handwerkern und Bauern aufgewachsen, sprach thüringisch-sächsisch und sollte jetzt unter adligen Kameraden leben, die nur französisch und lateinisch sprachen.

Heinrich war sich im Klaren, dass er sehr viel lernen musste. Aber davor hatte er gar keine Angst, ganz im Gegenteil, er war hungrig nach neuem Wissen.

Schon beim Frühstück hatte Heinrich neben Christof Cornet gesessen, und der um zwei Jahre Ältere behandelte Heinrich so, als ob er schon immer im Internat leben würde. Auch verstand er es, den Kameraden mit Blicken zu lenken.

„Wollen wir Freunde sein?“, fragte Christof Heinrich.

„Gern!“, entgegnete Heinrich und lächelte den neuen Freund gewinnend an.

„Du sollst sehr musikalisch sein?“

„Nun, ich muss noch viel lernen, aber genau deshalb bin ich ja hier.“

„Willst du Musiker werden?“

„Was ich werden will, habe ich noch nicht entschieden. Erst will ich lernen, und wenn ich gebildet genug bin, werde ich entscheiden, welche Laufbahn ich einschlage.“

„Beim Hofkapellmeister Otto wirst du viel lernen können. Er ist ein begnadeter Musiker, komponiert auch selbst und ist als Lehrer sehr einfühlsam.“

„Ich kenne schon einige seiner Lieder. Wir sangen sie im Collegium musicum in Weißenfels.“

Der Kapellmeister Georg Otto war von seinem neuen Schüler begeistert. Dieser gut erzogene Junge gefiel ihm auf den ersten Blick.

„Er ist zwar nicht von Adel, aber seine vornehme Ausstrahlung lässt nichts davon ahnen, dass er ein Bürgerlicher ist. Ich denke, er wird bei seinen adligen Mitschülern keinen Anstoß erregen“, äußerte Georg Otto gegenüber dem Landgrafen.

Der Kapellmeister unterrichtete und vertiefte Heinrichs Kenntnisse nicht nur im Gesang, sondern auch im Umgang mit den zeitgenössischen Instrumenten – mit Fagotten, Schnabelflöten, Zwerchpfeifen, Zinken, Krummhörnern und mit deutschen und englischen Gamben. Dazu kamen die Violine, die Brazzio, die Posaune, die Regale, die Orgel und natürlich auch das Spinett.

Der Musikunterricht war aber nicht die Hauptsache. Unterrichtet wurde Mathematik, Arithmetik, Geschichte, Rhetorik, Latein, Griechisch, Hebräisch und Französisch.

Heinrich lernte mit Begeisterung. Er freute sich, Zugang zu solchem Wissen zu haben und bei hervorragenden Lehrern lernen zu dürfen. Ihn störte es nicht, dass der Tag streng eingeteilt war, dass es kaum Freizeit gab und dass der Stundenplan auf die Minute genau eingehalten werden musste. Die Sängerknaben hatten aber neben dem Unterricht mittwochs und sonnabends auch noch Kirchendienst und mussten zudem bei Feierlichkeiten an der landesgräflichen Tafel aufwarten.

Eines Sonntags nach dem Frühstück ging Heinrich im Schlosspark spazieren. Da sah er Dietrich von dem Werder, der mit einem Buch in der Hand auf einer Bank saß.

„Grüß Gott Schütz!“

Dietrich war aufgestanden und trat auf den Mitschüler zu.

„Schön dass wir Gelegenheit haben, uns auch mal außerhalb der Schule kennen zu lernen.“

„Meine Heimatstadt Köthen liegt nördlich von Halle. Wie ich gehört habe stammst du aus dem südlich von Halle gelegenen Weißenfels. Du bist von Sachsen und ich vom Anhaltischen.“

„Du weißt ja schon gut über mich Bescheid, aber sage mir, was liest du da?“

„Das ist der ‚Homer‘.“

„Du liest den Homer im Original?“

„So ist es!“

„Du scheinst sehr an Literatur interessiert zu sein.“

„Ja, ich liebe die Literatur, und ich versuche mich auch selbst.“

„Wie? Du dichtest?“

Heinrich hatte sich während des Gespräches zu Dietrich gesetzt.

„Erzähle mir, worüber du schreibst.“

„Ich schreibe über die schöne Landschaft, aber auch über traurige und bewegende Ereignisse, zum Beispiel auch über die Liebe.“

„Du bist etwas älter als ich, und da kann ich mir vorstellen, dass du dich auch schon mal heftig verliebt hast.“

„Weißt du, wenn man schreibt, schreibt man sich alles von der Seele, Freude und Leid, und wenn ich es aufgeschrieben habe, wird es ruhiger in mir.“

„Ich möchte die Worte, die unsere Gedanken und Gefühle ausdrücken, durch den Worten adäquate Musik noch in ihrer Ausdruckskraft verstärken, damit die Menschen davon tief berührt werden.“

„Das ist interessant. Ich will das Seelenleben der Menschen in Versen widerspiegeln, und du willst diese dichterischen Ergüsse in Musik umsetzen, die in ihrer Klangkraft genau den Worten entspricht. Habe ich das richtig verstanden?“

„Du verstehst mich, und das freut mich sehr!“

„Ich glaube, dass uns damit etwas verbindet, aber ich meine, dass dein Wesen freundlicher, offener ist als das meine. Ich neige zur Schwermut, zur Melancholie, und das macht mir manchmal das Leben schwer.“

„Aber du hast den Vorteil, dass du dich beim Verseschmieden von deinem seelischen Schmerz lösen kannst und dich dadurch von dem Kummer, der dein Herz belastet, befreist. Aber entschuldige mich jetzt bitte. Ich muss gehen, denn ich habe Kirchendienst.“

Noch lange blickte Dietrich Heinrich Schütz nach und dachte: „Ein begnadeter Mensch.“

Der Landgraf kümmerte sich stets um seinen Zöglinge, und er hatte auch Heinrich nicht aus den Augen verloren. Eines Tages kam er zu Georg Weber und fragte ihn:

„Was halten sie von Heinrich Schütz?“

„Ich bin äußerst zufrieden mit ihm. Er ist ein Talent. Aber, da Sie ja oft und gern an Unterrichtsstunden teilnehmen, bitte ich Sie, morgen zu meinem Musikunterricht zu kommen, der regelmäßig zwischen zwölf und dreizehn Uhr stattfindet.“

Georg Weber ließ an diesem Tag die Chorknaben das Werk von Leonhard Lechner „Die Sprüche von Leben und Tod“ singen. Heinrich sang einen Solopart.

Das klangvolle Werk rührte Heinrich durch seine mystische Tiefe derart, dass es sein ganzes Innere aufwühlte, und er mit einer Leidenschaft sang, die er selbst noch nicht an sich gekannt hatte.

Nach der Probe trat der Landgraf auf ihn zu und sagte:

„Heinrich, du hast göttlich gesungen, schön und ergreifend!“

„Mich hat das Stück tief erschüttert. Die Worte, aber auch die Töne, die Rhythmen und Harmonien erfüllen mich ganz.“

„Ich glaube, wenn du durch das Studium der Musik tiefer in ihre Gesetze eindringst, kannst du dein reiches musikalisches Empfinden später selbst einmal gestalten.“

„Ich weiß nicht, ob ich jemals dazu fähig sein werde, aber die Musik erfüllt mich ganz, und ich möchte immer tiefer in sie eindringen.“

„Ich wünsche es dir. Jetzt habe ich aber eine ganz andere Bitte. Ich möchte zum Namenstag unseres Schutzpatrons Mauritius eine Feier ausgestalten. Fühlst du dich in der Lage dazu, eine Rede in Lateinisch auszuarbeiten?“

„Ich freue mich, dass Sie mich damit beauftragen, und werde mich noch heute daran machen, den Stoff zu erarbeiten, um die ‚Oratio de S. Mauritio‘ zu konzipieren.“

„Recht so, mein Junge, zeig, was du kannst!“

So erzählte Schütz zum Namenstag des Heiligen Mauritius, wie die 300 christlich gesinnten Legionäre der „Thebäischen Legion“ sich weigerten, gegen ihre Glaubensbrüder zu kämpfen und dafür den Märtyrertod erlitten.

Als Heinrich Schütz sechzehn Jahre alt war, konnte er infolge des Stimmbruchs nicht mehr Sopran singen. Der Landgraf, dessen Interesse an dem musikalischen Talent des Jünglings nicht erloschen war, schlug ihm vor: „Du wirst weiter unterrichtet werden und außer den schulischen Fächern Instrumentalmusik erlernen. Obendrein stelle ich dir einen französischen und einen lateinischen Lehrer, damit du beide Sprachen bald fließend sprechen kannst. Wenn du dann das Gymnasium abgeschlossen hast, möchte ich dich noch einen Weile bei mir behalten. Du wirst in der Hofkapelle mitspielen und zum Organisten aufsteigen und außerdem kannst du als Praeceptor Unterricht geben.“ Heinrich wohnte von jetzt an in einer Stube über dem Gerichtszimmer.

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