Die Musik auf den Dächern

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DAS KLEID MEINER MUTTER

Als ich aufwachte, lag wieder das Kleid meiner Mutter im Garten. Dieses Mal das mit dem bunten Blumenmuster, mitten auf dem Rasen.

Beim ersten Mal war es das rot gepunktete gewesen. Ich war aufgewacht, hatte noch ein wenig im Bett gelegen, im Haus war es still gewesen, es musste einer von den roten Tagen im Kalender sein. Ich wollte runter in die Küche gehen und mir Cornflakes holen, um sie im Bett zu essen, während ich Märchen hörte.

Als ich an der Terrassentür vorbeikam, bemerkte ich draußen einen Farbfleck auf dem Rasen. Als ich hinausschaute, sah ich das Kleid meiner Mutter. Ich ging raus und blieb vor dem Häufchen Kleid stehen. Ich sah hoch zum Schlafzimmerfenster, doch es war zu weit rechts, dort konnte sie es nicht rausgeworfen haben. Und warum sollte sie das auch tun? Aber wenn sie es nicht rausgeworfen hatte, warum lag es dann hier? Ich versuchte, mich zu erinnern, was sie am Abend angehabt hatte. Nicht dieses Kleid, glaubte ich. War ihr irgendetwas passiert? Ich war nicht aufgewacht, ich hatte Vater nicht schreien hören. Hatte sie ihren Koffer gepackt und war durch den Garten rausgegangen und hatte dabei dieses Kleid verloren? War sie weg?

Ich ging wieder ins Haus, als würde das helfen. In der Küche standen zwei Gläser, die nicht in die Spülmaschine geräumt waren. Zwei, sagte ich mir. Zwei. Zwei. Wie Hänsel und Gretel. Wie Schneeweißchen und Rosenrot. Wie Brüderchen und Schwesterchen. Wie der Fischer und seine Frau.

Zwei. Das sagte ich mir manchmal abends unter der Bettdecke. Ich zog sie mir über den Kopf und dachte: Ich werde es ganz lange hier aushalten und immer wieder zwei sagen. Zwei. Zwei. Zwei. Zwei. Eine Eins und eine Eins, die ganz fest zusammengehören. Zwei, zwei, zwei, zwei.

Ich versuchte oft, Dinge zweimal zu machen. Zwei Schlucke trinken, bevor ich das Glas absetzte. Die Türklinke zweimal herunterdrücken, bevor ich die Tür aufmachte. Immer zweimal Danke sagen. Danke. Danke. Und Bitte auch. Bitte. Bitte. Wenn ich wusste, dass niemand in der Nähe war, der schimpfen konnte, spülte ich zweimal, wenn ich auf der Toilette gewesen war. Ich hörte Märchen zweimal hintereinander. Eins und eins.

Einmal hat meine Mutter mich gefragt, warum ich ihr immer zwei Küsse gebe.

– Weil ich mir vorstelle, dass ich einen Freund habe, mit dem ich alles teile, habe ich gesagt. Für ihn gebe ich dir auch einen Kuss.

Sie hat mich komisch angesehen, aber sie hat mir geglaubt. Sie glaubte mir auch, dass das Taschengeld mir nicht wichtig wäre. Weil ich nie danach fragte, auch wenn sie es vergaß, was oft passierte. Ich wusste, dass sie mir mehr gab, wenn sie glaubte, es wäre mir nicht wichtig.

Sie glaubte, ich wäre nicht gierig. Sie glaubte, ich würde nicht lügen. Sie glaubte, ich würde schlafen, wenn sie weinte. Dabei war ich unter der Bettdecke und murmelte: zwei, zwei. Ich muss nur länger unter der Bettdecke bleiben, als sie weint. Dann wird alles gut. Dann wird alles gut.

Ich sah mich noch mal im Wohnzimmer um. Vor dem Sessel waren die Schuhe meines Vaters. Dort zog er sie sonst nie aus. Die Schuhe meiner Mutter waren nicht da. Auch nicht im Flur. War sie etwa doch gegangen? Gegangen? Ich machte den Wandschrank auf. Ich zählte. Alle Koffer waren noch da. Ich zählte noch mal.

Hatte sie eine Tasche mitgenommen? Einen Beutel? Aus dem dann das Kleid gefallen war? Es zog in meinen Handflächen und Fußsohlen, wie es schon vorher gezogen hatte, als ich das Kleid gesehen hatte. Ich kannte das Gefühl. Ich hatte es erfunden. Ich wusste aber keinen Namen dafür.

So zog es auch, wenn mein Vater auf diese bestimmte Art ausatmete und ich wusste, dass jetzt nichts mehr die Zukunft verändern konnte. Ich konnte ihn bitten, mit mir Memory zu spielen, ich konnte versuchen, mit ihm zu balgen, ich konnte ihn küssen oder ich konnte wie aus Versehen ein Glas fallen lassen, ich konnte die Musik zu laut machen, aber ich konnte die Zukunft nicht mehr verändern. Bitte. Bitte. Danke. Danke. Wenn er so ausgeatmet hatte, war alles zu spät. Ich weiß nicht, ob meine Mutter das auch wusste. Manchmal sah es so aus, als würde sie alles dafür tun, damit er so ausatmete, als sei er sehr, sehr müde. Wenn er so ausgeatmet hatte, zog es in meinen Händen und Füßen.

Ich schlich leise die Treppe hoch, nachdem ich den Wandschrank vorsichtig wieder geschlossen hatte. Ich glaubte, man könne das Gefühl hören, das ich erfunden hatte. Leise, sehr leise drückte ich die Klinke runter. Und ließ sie wieder los. Und drückte sie noch mal runter und machte die Tür auf, einen Spalt nur.

Mutter lag im Bett.

Das Ziehen in meinen Händen und Füßen verschwand.

Vater lag auch im Bett.

Man konnte ein Stück ihres Rückens sehen. Sie trug keinen Schlafanzug.

Leise schloss ich die Tür, ging wieder runter in den Garten und sah auf das Kleid. Obwohl Mutter im Bett lag, kam das Gefühl zurück, als ich auf das Kleid sah.

Ich ging in mein Zimmer und zog mir die Decke über den Kopf. Zwei. Zwei. Als ich schon keine Luft mehr bekam, zog ich die Decke weg, ging runter und holte mir Cornflakes. Dann setzte ich mich auf das Bett und hörte Die zertanzten Schuhe.

Wie oft hatte ich mir vorgestellt, ich hätte auch ein Bett, an das man klopfen konnte und das dann in der Erde verschwand und einen geheimen Gang freigab. Einen Gang, der einen an einen Ort führte, an dem man die ganze Nacht froh sein konnte.

Und wie oft hatte ich mich gefragt, warum die Prinzessinnen nicht barfuß gingen, warum sie es zuließen, dass ihre Schuhe sie jeden Morgen verrieten. Tanzen konnte man doch auch barfuß.

Jetzt fragte ich mich, ob meine Mutter vielleicht so eine Tür oder einen Schrank hatte, an den man klopfen konnte und man sah eine geheime Treppe. Und ob sie ihr Kleid nicht absichtlich hier gelassen hatte, weil es sonst morgens verriet, wo sie nachts gewesen war. Weil sie es verschwitzte beim Tanzen. Aber warum war es dann im Garten? Ich sah aus dem Fenster. Es lag immer noch da.

Waren die Prinzessinnen eigentlich unglücklich, nachdem ihr Geheimnis entdeckt worden war? Wieso sollten sie nachts nicht tanzen? Was war mit der Ältesten, die den Soldaten heiratete, der sie verraten hatte? Atmete der Soldat auch so aus wie mein Vater? Weinten die Prinzessinnen, weil sie nicht mehr in das unterirdische Schloss durften? Warum wurden nur die Prinzen verwunschen, mit denen sie getanzt hatten? Und wenn sie jetzt nachts nicht tanzten, zogen sie sich die Bettdecke über den Kopf und wünschten sich etwas, ganz, ganz feste? Ich verstand Märchen nicht, aber das hier verstand ich am allerwenigsten.

Mutter und Vater schliefen lange an diesem Morgen. Und es war etwas anders als sonst, als sie in der Küche standen. Sie ließ ihre Hand über seine Schulter und seinen Arm gleiten, als sie mit ihm sprach. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Es war, als hätten sie sonst immer etwas für sich behalten wollen, das sie jetzt einfach verschenken konnten. Vater zog mich auf seinen Schoß, während er Kaffee trank. Ich hatte am Abend unter der Bettdecke nichts anders gemacht als sonst und ich war mir deshalb fast sicher, dass es eine geheime Tür gab, von der sie mir nichts erzählten. Vielleicht hatten sie in einem unterirdischen Schloss getanzt, vielleicht hatten sie eine Musik gehört, die ich nicht kannte. Vielleicht war eine Wolke verschwunden, die sonst immer da war, und jetzt konnten wir sehen, dass der Himmel blau war und nicht weiß. Und ich freute mich, weil ich immer schon gewusst hatte, dass es nur eine Wolke war und nicht der Himmel. Es war wirklich keine Absicht, als ich das Glas fallen ließ. Aber es schimpfte keiner. Mutter lachte sogar darüber.

Vielleicht würden sie mir von der Tür erzählen.

– Warum liegt dein Kleid im Garten?

Sofort konnte ich sehen, dass sie ein Geheimnis hatten, das sie mir nicht verraten wollten.

– Dem war gestern Abend langweilig im Schrank, da haben wir ihm erlaubt rauszugehen, sagte mein Vater.

Aber er hatte mir auch erzählt, dass Löwenzahn aus dem Gebiss von Löwenbabys gemacht wird.

Sie lachten und irgendwo hinter dem Lachen war ihr Geheimnis. Ein paar Tage lang hüteten sie es, doch dann verschwand das Lachen, hinter dem sie dieses Geheimnis versteckt hatten, und sie wussten nicht mehr, wo sie es suchen sollten.

Ein paar Tage lang war es so, als würde ich verreisen, wenn ich nachts schlief, als wäre ich an einem Ort, an dem man tanzen und lachen kann. Ich merkte gar nicht richtig, wann sich das Gefühl wieder anschlich, das ich erfunden hatte. Bitte. Bitte. Danke. Danke.

Und dann wachte ich auf und wieder lag ein Kleid meiner Mutter im Garten. Dieses Mal war es das bunte mit dem Muster aus großen Blumen und nicht das rot gepunktete. Ich sah das Kleid und wollte mich freuen. Aber ich fürchtete, dass es dieses Mal anders sein könnte. Es zog in meinen Händen und Füßen. Ich musste vorsichtig sein.

EIN GEHEIMER AKKORD

Nach zwölf Jahren ist der Hase verschwunden.

Das erste Mal habe ich ihn etwa einen Monat nach dem Tod meines Vaters bemerkt. Da hatte meine Mutter noch keine Depressionen und ich war noch nicht im Internat. Zuerst konnte ich nur seine Bewegungen spüren, hinter der Stirn, an den Schläfen, im Hinterkopf, über dem Gaumen, ich fühlte ihn hoppeln, aber ich begriff noch nicht so richtig, was das bedeutete. Eines Morgens wusste ich mit dem Erwachen, dass es ein Hase war. Ich habe ihm all die Jahre nie einen Namen gegeben, obwohl wir viel Zeit miteinander verbracht haben.

– Kopfkino, sagte er. Deswegen bin ich hier.

 

Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was Kopfkino für den Hasen war. Manchmal gefiel es ihm, wenn ich las, manchmal nicht. Er freute sich, wenn ich mich mit Mitschülern prügelte. Als ich die Selbstbefriedigung entdeckte, war er begeistert, die ersten Jahre setzte er sich mit Chips und Erdnüssen in meinen Hinterkopf und ließ es sich gut gehen, wenn sich meine Hand zu den Bildern in meinem Kopf bewegte. Später verschwand er einfach, sobald ich die Hose öffnete.

Manchmal freute er sich bei Gesprächen, manchmal schlief er ein. Er langweilte sich schnell, wenn ich die falschen Drogen nahm. Koks und Alkohol gefielen ihm. Bei Gras und Meskalin verdrückte er sich still.

Wenn der Hase sich langweilte, verblasste er einfach, als würde ihm jemand die Farben abdrehen. Das fühlte sich oft gut an, doch ich vermisste ihn, wenn er sich zu lange nicht blicken ließ. Als ich aus dem Internat raus war, hatte meine Mutter wieder Depressionen, aber dieses Mal wegen eines anderen Mannes. Der Hase und ich einigten uns auf Yoga, das gefiel uns beiden. Ich bin entspannter, ausgeglichener, konzentrierter und gesünder, sagte ich. Der Hase lachte dann und sagte, du bist stärker und beweglicher und ehrgeiziger, und das ist gut so.

Yoga und Leonard Cohen hören, das waren nach dem Internat unsere Lieblingsaktivitäten. Bei Leonard Cohen gefiel mir die Melancholie, die dunkle, samtige Stimme, die spirituelle Sehnsucht. Bei Leonard Cohen fraß der Hase keine Chips, sondern stand die ganze Zeit auf den Hinterbeinen und fühlte sich wie ein Panther im Garten und nicht wie eine Katze in der Küche. Leonard auf den Kopfhörern, flogen wir nach Goa, zu Rolf Naujokat, einem Deutschen, der dort seit Jahrzehnten Ashtanga-Yoga unterrichtete. Leonard war schon lange tot und der Hase und ich hofften, dass Rolf noch lange lebte.

Eines Nachmittags lag ich in Arambol am Strand und las, während der Hase in der Sonne immer blasser und blasser wurde. Lesen am Strand lag ihm nicht.

Ein Mann näherte sich, beugte sich herunter und las laut die Worte vom Cover: Rechtsstart, Anne Hell. Ich blickte hoch, es war ein Inder. Er ging in die Hocke und fragte dann auf Deutsch:

– Entschuldigen Sie bitte, was heißt Rechtsstart?

– Es ist ein Wortspiel, sagte ich. Es hört sich an wie Rechtsstaat, aber das ist es nicht.

Er nickte.

– Sie sind Deutscher?

– Ja.

– Ich bin Student der Germanistik, ich war noch nie in Deutschland. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir ein wenig reden, damit ich Übung bekomme?

Duze ihn, sagte der Hase, er ist ungefähr so alt wie du. Und sei vorsichtig, wahrscheinlich will er dir nur etwas verkaufen oder dich in den Laden seines Onkels schleppen oder sich Geld von dir leihen. Sei clever. Sei cleverer als die Einheimischen. Lass dich nicht abziehen wie ein Tourist.

Der Hase und ich hatten da bereits mehr als elf Jahre miteinander verbracht, und ich kannte dieses Gefühl, das mir deutlich sagte, dass er falsch lag. In Arambol waren kaum Inder am Strand, es war unwahrscheinlich, hier einen jungen Mann kennenzulernen, der Supresh hieß und sich nur ausgedacht hatte, dass er 22 war, aus Chennai stammte und Germanistik studierte.

Das erzählte er mir, nachdem er die üblichen Fragen gestellt hatte. Und noch mehr. Er war computerspielsüchtig gewesen, als für drei Tage der Strom ausfiel und er aus Langeweile In der Strafkolonie aus der Bibliothek seines Vaters las, in einer englischen Übersetzung.

– Ich war überwältigt, sagte er, das war geschrieben, als könnte man Literatur programmieren, wie die Spiele, die ich stundenlang spielte. Es öffnete mir die Augen, das ganze Internet erschien mir auf einmal dieser Tötungsmaschinerie nachempfunden. Es interessiert sich ja nicht für die Surfer, sondern nur für seine eigenen Mechanismen, Abläufe und Algorithmen. Der Einzelne ist eigentlich immer verloren darin. Dieses Buch war der Grund, warum ich Deutsch gelernt habe und zwar so, als würde ich eine Programmiersprache lernen, ohne den Klang, einfach nur aus Büchern, die ich mir besorgt habe.

– Er kennt deinen Vater, raunte der Hase mir zu.

– Hast du Armin Ratkhan gelesen?, fragte ich.

– Natürlich, sagte Supresh.

– Er war mein Vater, sagte ich.

Erst nachdem ich ihm meinen internationalen Führerschein gezeigt hatte, konnte ich Supreshs Zweifel zerstreuen.

Er fing an, mir von meinem Vater zu erzählen. Der Hase nahm sich Chips, Eis, Apfelschorle, Nachos, Erdnüsse und Bier. Am liebsten hörte er zu, wie Menschen mir von meinem Vater erzählten. Als sei ich nicht sein Sohn. Als wüsste ich weniger über ihn als sie.

Diese Leute erzählen mir meine Bücher nach und zitieren Sätze, die sie schön finden, hatte mein Vater früher oft geklagt.

Doch nicht nur der Hase mochte, wenn jemand über meinen Vater redete, sondern auch ich war begeistert. Mein Vater sieht ganz anders aus, wenn die Menschen mir von ihm erzählen. Nicht wie jemand, der nie Zeit hatte, nicht wie jemand, dessen Arbeitszimmer man nicht betreten durfte, wenn er denn mal zu Hause war. Nicht wie jemand, der einen nicht ernst nahm. Nicht wie jemand, der einfach nicht aufhörte zu reden, wenn ihm etwas an seinem Sohn nicht gefiel. Nicht wie jemand, der endlos kränkende Worte auffrischte, jedes Mal eine Spur schärfer, bis er sich in Rage wiederholt hatte.

Wenn die Leute erzählen, ist Armin Ratkhan der jung verstorbene deutsche Schriftsteller, der gerade mal zweiundzwanzig war, als sein Roman Pupillen größer als die Nacht herauskam. Wenn die Leute erzählen, ist er ein Shootingstar in der deutschen Literatur, dessen Roman das Leben der Digital Natives mit einer analogen Menschlichkeit und Wärme vereint und dessen Visionen von Zusammenhalt und Verbundenheit viel tiefer gehen, als das einfache Setting des Buches vermuten lässt. So verschwurbelt klingt das Lob häufig. Einfach klasse sagt kaum jemand. Chips und Ben & Jerry’s, Sofa, bestes Kopfkino, sagt keiner. Wenn die Leute erzählen, ist Armin Ratkhan jemand, der seinen Lesern eine Nähe vermitteln kann, die weit über alternative Lebensformen und drogeninduzierte Liebesschwüre hinausgeht. Wenn die Leute erzählen, ist Armin Ratkhan einer der wenigen jungen, attraktiven Autoren, die nicht nach ein, zwei Büchern in die Nischen des Kulturbetriebs und aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden sind. Wenn die Leute erzählen, ist Armin Ratkhan ein Autor, dessen zweiter Roman mit dem simplen Titel 3 ein Bestseller wurde, als er gerade mal fünfundzwanzig war. Ein Weltbestseller mit 30 Millionen verkauften Exemplaren. Wenn die Leute erzählen, klingt es so, als würden sie an Zahlenmagie glauben, 3, 30 Millionen, drei Jahre nach seinem Debüt, ein Roman, in dem alles in Triaden aufgelöst wird.

Wenn die Leute erzählen, sitzt der Hase begeistert da und seufzt behaglich. Nur das mit der 3 gefällt ihm nicht richtig, er wird dann sarkastisch. Na klar, 3, sagt er, die Leute glauben gerne, dein Vater habe das richtig erkannt, weil die Welt ja keine Scheibe ist, wo es eine Ober- und Unterseite gibt. Sicher, die Welt ist dreidimensional, da muss es natürlich immer drei Möglichkeiten geben, damit wir zu Frieden und Fortschritt kommen. Immer diese künstlichen Dichotomien, Kommunismus – Kapitalismus, Abendland – Islam, Mann – Frau, Reich – Arm, die Erkenntnisse in der Physik sprechen schon seit Langem dafür, dass die Dinge nicht so dual sind, wie man lange geglaubt hat, und die anderen Wissenschaften beginnen, diese Einsicht zu unterstützen. Bla hier, bla da, Gelaber. Entweder du landest einen Weltbestseller oder nicht. Was soll denn da die dritte Möglichkeit sein?

So sagt der Hase. Ich hatte einmal auf Ecstasy auf dem Dach eines Hochhauses einem Mädchen von ihm erzählt. Auch dass ich glaubte, dass er ein Erbe meiner Mutter war, die viel Zeit in Anstalten verbracht hatte. Ach, so einen Hasen hat jeder, hatte sie gesagt. Ich hatte geglaubt, das wäre eine Lüge, die sie aus Liebe erfunden hatte, eine Liebe, die uns die Pillen vorlogen.

– Die Idee der Trinität war im Westen eher neu, als dein Vater 3 veröffentlichte, sagte Supresh. Obwohl ihr ja den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist habt. Obwohl ihr Körper, Geist und Seele unterschieden habt. Doch irgendwann hat die Dualität Überhand genommen. Hier in Indien thematisieren alle alten Schriften die Dreiheit, referierte er. Wir haben dieses Wissen von den Rishis, den Sehern aus den alten Zeiten. Es gibt Brahma, den Schöpfer, Vishnu, den Erhalter, und Shiva, den Zerstörer. Dein Vater hat es geschafft, diese uralte Philosophie ohne zu viel esoterischen Brei wiederzubeleben und unterhaltsam zu vermarkten, gerade in einer Zeit, in der die Menschen nach einer Aussöhnung des modernen Lebens mit uralten Sehnsüchten gesucht haben. Und er hat es gut gemacht. Ich habe alle Videos von seinen Lesungen gesehen, er konnte mitreißend vortragen.

Ja, wenn die Leute erzählen, ist Armin Ratkhan ein begnadeter Vorleser mit einer magischen Stimme. Wenn die Leute erzählen, ist Armin Ratkhan der erste kiffende Superstar der Literaturszene, nachdem es im vergangenen Jahrtausend fast nur Alkoholiker wie Hemingway, Fitzgerald, Steinbeck, Anderson und Fauser gegeben hatte. Ein gesponserter Superstar: Dieser Autor wird Ihnen präsentiert von White Kush & Gelato Chronic. Vorher hatte er einen Deal mit Marley Natural. Ein Kiffer, der immer schlagfertig und schnell war, agil und voller Elan.

Wenn die Leute erzählen, ist Armin Ratkhan der Mann, der für die ganze Diskussion um E-Books, illegale Downloads, Urheberrechtsgesetzänderungen, kulturelle Vielfalt, die gefallene Buchpreisbindung und den Konkurs kleiner Verlage nur zwei Sätze übrig hatte: Welche Gesetze auch geändert werden, wer auch geschröpft wird, was immer auch passiert, es hat seit Jahrhunderten große Literatur gegeben und es wird sie weiterhin geben. Ideen sterben nicht, Ideen leben ihr eigenes Leben, und zwar unabhängig von Kommerz.

Immer, wenn jemand diese Stelle zitiert, applaudiert der Hase in meinem Kopf, indem er mit den Ohren klatscht. Dann trinkt er einen braunen Tequila mit Orange und Zimt und murmelt: Aber bei der Kommerzialisierung des Kiffens hat er trotzdem geholfen, wo er konnte.

Wenn die Leute erzählen, ist Armin Ratkhan ein vielversprechender Autor, der mit gerade mal 28 Jahren tragischerweise beim Schwimmen im Bodensee an einer unerkannten Herzmuskelentzündung starb.

Wenn die Leute erzählen, ist Armin Ratkhan nicht mein Vater. Das gefällt mir. Dem Hasen gefällt es, gerade weil er mein Vater ist und er sich in seinem Glanz sonnen kann. Es ist wie Yoga.

– Ja, ja, deine Mudder, sagte ich dann trotzdem irgendwann, als Supresh nicht aufhörte, von meinem Vater zu erzählen. Darauf war der Hase mal gekommen und er fand es jedes Mal witzig. Supresh sah mich fragend an.

– Naja, man beleidigt ja immer die Mutter. Und das hier ist genau das Gegenteil davon, ein Loblied auf meinen Vater.

– Ja, ja, deine Mudder, murmelte Supresh, als würde er den Witz einem Test unterziehen, und lachte dann, vielleicht aus Höflichkeit. Ja, ja, dein Vater, sagte er dann, der hat es mit dieser Festplatte ja geschafft, noch lange nach seinem Tod im Gespräch zu bleiben.

Handke hat seine Bleistiftstummel der Nationalbibliothek in Wien vermacht. Mein Vater seine Festplatte dem Literaturarchiv in Marbach. Verschlüsselt. Wahrscheinlich hat er es für witzig gehalten. Es hatten schon einige Experten erfolglos daran gesessen, Literaturwissenschaftler und Biografen versprachen sich davon einen Karriereschub, derjenige, der das Passwort entschlüsselte, würde seine anderthalb Millionen Klicks Ruhm genießen und in die Nachwelt eingehen.

– Wenn ich mal versuchen könnte, das Passwort zu knacken, sagte Supresh. Brute Force dauert noch Jahre und die Skripte, die geschrieben worden sind, sind wohl nicht gut genug.

– Kannst du, sagte ich.

Er sah mich fragend an.

– Ich habe eine Kopie zu Hause.

Sein Blick veränderte sich.

– Ich kann das, sagte er. Ich kann das Passwort knacken.

Wenn du mir hilfst.

Der Hase legte sich hin. Da erst fiel mir auf, wie dick er in den letzten Jahren geworden war und wie viel Platz er in meinem Kopf einnahm.

Supresh stellte mir Fragen über meinen Vater. Was für Musik er gehört hatte, was er gerne gegessen hatte, welche Witze er mochte, ob ich wusste, welche Webseiten er gerne besuchte. Wie er reagierte, wenn er gereizt war, wann er sich freute. Der Hase hatte Schwierigkeiten, wach zu bleiben, mir fiel auf, wie wenig ich von meinem Vater wusste und wie viele Fragen ich nicht beantworten konnte. Vielleicht lag es am Bier, ich schweifte ab und erzählte von meiner Mutter, von den Depressionen nach dem Tod meines Vaters, von den Kliniken, von den Männern, von den Drogen, von ihren betrunkenen, selbstmitleidigen Monologen mit leiernder Stimme, von meiner Wut, die ich kaum unterdrücken konnte, von Männern, die kaum älter waren als ich.

 

Supresh sah zu Boden und sagte:

– Ich knacke dieses Passwort. Ich tue es für dich. Für euch. Für deine gesamte Familie.

Der Hase schlief tief und fest. Obwohl ich getrunken hatte.

Es dauerte zwei Wochen, bis Supresh das Passwort geknackt hatte. Zwei Wochen für etwas, das Experten in elf Jahren nicht gelungen war. Und dann saß ich drei Monate vor dem Rechner und durchwühlte die Mails, die Fotos, die Filme, die Bestellungen, die Textdateien, und der Hase langweilte sich und schlug dauernd Krach. Ich hatte gedacht, er würde sich freuen, so viel über meinen Vater zu erfahren, aber er wollte raus und Bier trinken. Ich ignorierte sein Quengeln und er schlug vor, ich solle wenigstens zu den Pornos meines Vaters wichsen. Mein Vater hatte ja vermutlich gewusst, dass das Passwort irgendwann geknackt werden würde, aber vielleicht hatte er sich nicht vorgestellt, dass sein Sohn die Festplatte als Erster sehen würde. Oder als Zweiter. Vielleicht hat er gar nicht dazu gewichst, sagte ich mir, vielleicht war das ein Statement, eine falsche Fährte. Vielleicht waren seine ersten sexuellen Erfahrungen irgendwie verknüpft mit Alice im Wunderland. Daher die Vorliebe für Spiegel, für Hasen und Katzen, die durch das Bild liefen, für seltsame Kostüme und Dialoge, für traumähnliche Szenen, daher vielleicht die Vorliebe für Frauen, die völlig flachbrüstig waren.

Supresh fragte mich, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er das Passwort weitergab. Ich zögerte. Welcher Mann möchte schon, dass seine Pornosammlung öffentlich wird. Und sei es postum. Pornos sind wie ich, sagte der Hase, jeder hat sie, aber keiner redet darüber. Er war müde und sah abgekämpft aus, obwohl er viel schlief. Die anderen haben auch einen Hasen?, fragte ich. Ja, sagte er. Ich glaubte ihm nicht.

Niemand schien sich für die Pornos zu interessieren. Zuerst wurde nur ein wenig über die üblen Beschimpfungen von Prominenten in seinen E-Mails geredet, die so gar nicht zu dem passten, was über ihn bekannt war.

Dann fand der Journalist Finn-Leon Nahbur in dem Ordner mit der Diskografie von Leonard Cohen versteckt einen weiteren Ordner, der mit dem zu Lebzeiten meines Vaters noch legalen PGP verschlüsselt worden war. E-Mails und Textdateien, die belegen, dass mein Vater die Bücher nicht allein geschrieben hat. Gar nicht geschrieben hat, wenn man einigen selbsternannten Experten glauben möchte. Es wird darüber diskutiert, wie gering sein Anteil am Erfolg war.

Jule von Höhenhausen war eine namhafte Literaturkritikerin in Deutschland, bevor sie sich aus dem Kulturbetrieb zurückzog und nach Schweden auswanderte. Sie hat mittlerweile per Twitter bestätigt, dass sie die Rohfassungen zu den Romanen geliefert hat. Rohfassungen, die mein Vater nur gekürzt, geglättet, pointiert und mit einem ihm eigenen Duktus versehen hat. Das ist das, was die Dateien auf der Festplatte nahelegen, und obwohl Jule von Höhenhausen jeden weiteren Kommentar und jedes Interview verweigert, wird ihr geglaubt, dass die Hauptarbeit bei ihr lag.

Nach all dem, was nun in den letzten Monaten enthüllt und über die Motive der beiden spekuliert worden ist, gilt mein Vater als ein Betrüger, als jemand, der im literarischen Olymp nichts verloren hat, ein besserer Lektor, ein attraktiver Mann mit Charme, aber ohne jegliche Kreativität, vorgeschoben, um einen Coup zu landen. So etwas gab es bisher nur in der Popmusik, schreibt Nahbur, wo Menschen, die nur gut aussahen, aber nicht singen konnten, den Mund auf- und zumachten. Er nennt Milli Vanilli als Beispiel, die musste ich erst googeln. Das ist Jahrzehnte her. Er schreibt, dass Deutsche im Ausland eben nur per Betrug so erfolgreich werden können, wie mein Vater es gewesen ist. Alle geben ihm recht. Als wäre Jule von Höhenhausen keine Deutsche.

Die Stimme des Hasen war ganz dünn, als er sagte: Die haben doch alle keine Ahnung, Betrug, Hochstapelei, Täuschung, Gaunerei. Dein Vater war wie Elvis. Der hat seine Lieder auch nicht geschrieben und gesagt: Ein Lied ist erst dann ein Lied, wenn man singt. Und er war der King. Sein Hase war so groß, der schwappte ihm dauernd aus dem Kopf. Er wiederholt nun dauernd, dass auch andere einen Hasen haben. Ich habe Supresh gefragt, eines Abends, ich war betrunken, ohne dass der Hase sich darüber freute, ich war betrunken genug, um dem eigenen Wesen auf den Grund schauen zu wollen. Ich saß am Rechner, zoomte mit Supresh und erzählte ihm von meinem Hasen, obwohl ich genau wusste, dass ihm Enthüllungen dieser Art unangenehm waren. Doch Supresh war in Indien, er war weit genug weg für die Wahrheit. – Ja, sagte er, kann sein, dass alle bei euch einen Hasen haben. Wir hier haben ein Schwein. Meines grunzt vor Freude. Nächsten Monat fliege ich nach Yale, um dort einen Vortrag über verschlüsselte Festplatten von Autoren zu halten.

Als wir auflegten, trank ich noch mehr. Ich erwachte in ein Loch hinein, mein Hase war verschwunden.

Meine Mutter erlitt nach den Enthüllungen Nahburs einen Rückfall und wies sich selbst in die Klinik ein. Wegen akuter Eigengefährdung, sagte sie. Sie sprach schon so wie die.

Ich hatte gedacht, der Hase wäre ein Erbe meiner Mutter, die Verhaltenstherapie sagt, Regenerationsprozess im präfrontalen Cortex, Serotoninwiederaufnahmehemmer, die trizyklische Antidepressiva sagt, die Analyse sagt, die Schuldgefühle sagt, die defizitär sagt, die rezidivierend sagt, Verstärkerverlust, Gratifikationskrise, meine Mutter, die der Dunkelheit so viele Namen geben kann wie die Ärzte selber. Doch es ist egal, wie du die Dunkelheit nennst, dein Kind oder deinen Hasen. Es ändert nichts.

Es ist egal, ob sie meinen Vater Schriftsteller nennen oder Hochstapler oder Marionette. Es ändert nichts. Außer, dass mir jetzt keiner mehr erzählt, wie toll er war. Außer, dass ich jetzt nicht mehr ja ja, deine Mudder sagen kann. Außer, dass der Hase auf einmal weg ist. Doch seit er weg ist, sehe ich die Hasen der anderen. Mein Hase hat nicht gelogen.

Jule von Höhenhausens Hase sagt wahrscheinlich: Du hast der Literatur ohnehin deinen Stempel aufgedrückt. Halt den Mund, mach nichts kaputt, so wirst du größer. Nahburs Hase sagt: Geil, hau einfach drauf, mit etwas Kraft auf große Namen hauen lässt auch deinen Namen wachsen. Der Hase meiner Mutter wiederholt nur die ganzen Worte, die sie von den Ärzten gelernt hat, er hält sich daran fest, weil er sonst nichts zum Festhalten hat.

Jetzt laufe ich herum und sehe Hasen, überall, wo ich hingehe, sehe ich Hasen. Und ich beneide die anderen, ich beneide sie so sehr um ihre Hasen. Der Arzt würde sagen, ich bin verrückt, ich weiß. Aber so leicht ist das nicht, vielleicht ist er ja der Verrückte. Wenn jemand rot und grün nicht unterscheiden kann, sagt man ja nicht, er sei verrückt. Wenn jemand etwas nicht sehen kann, was da ist, dann ist das in Ordnung. Wenn jemand schlecht hört, bekommt er ein Hörgerät, aber niemand sagt, er sei verrückt. Ich höre und sehe Hasen, aber meiner ist verschwunden. Ich habe zwölf Jahre mit ihm gelebt, ohne dass es jemandem aufgefallen ist. Und jetzt sehe ich die Hasen der anderen. Ich glaube, die Hasen lügen. Sie lügen alle. Und ich glaube, meiner wird wiederkommen. Sobald ich mich ein wenig besser fühle, wird er wiederkommen und mir sagen, dass ich in Ordnung bin. Aber noch liege ich hier und finde keinen Grund aufzustehen. Welches andere Tier würde mir jetzt helfen?

Das Passwort meines Vaters waren die ersten Worte aus Halleluja von Leonard Cohen: Now I’ve heard there was a secret chord.

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