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Kapitel 3

Der Vorhof zur Hölle hätte nicht lauter, heißer und ausgelassener sein können als das Innere des Moulin Rouge in dieser Nacht. Nach einem schier endlos erscheinenden Labyrinth aus schmalen Korridoren und spärlich beleuchteten Gängen platzen wir schließlich, noch immer angeführt von Charles Zidler, durch eine Seitentür mitten hinein ins Getümmel des Varietés. Die Luft steht vor Rauch, billigem Parfüm und Schweißgeruch. Die Stimmung ist wie statisch aufgeladen. Überall elektrische Lichter, die sich hundertfach in den bunten Kleidern und Roben der Gäste brechen und billigen Tand zum Funkeln bringen, als seien es lupenreine Diamanten. Inmitten dieses überbrodelnden Hexenkessels sieht eine ausgelassene, wild feiernde Menge begeistert dabei zu, wie eine junge, blonde Frau mit dunklen Seidenstrümpfen in einem mehr als nur aufreizenden Spitzenhöschen auf dem Rücken liegt und die Beine in die Lüfte streckt und mit ihnen strampelt, als würde sie Hochrad fahren.

Die Meute tobt, als sie sich schließlich herumdreht und den mit einem roten Herzchen verzierten Allerwertesten in die Höhe reckt, dabei kokett über die Schulter einen Schmollmund formt und den Herren neckisch zuzwinkert, ehe ihr dunkel gekleideter Tanzpartner sie elegant zurück auf die Beine zieht und in einen schnellen Tango verwickelt. Mit einem kecken Lachen setzt sie sich sogleich den Zylinder ihres Begleiters auf die wallende Mähne.

»Das ist Louise! Virtuos wie immer!«, schreit Toulouse gegen die allgegenwärtige Geräuschkulisse an. Er grinst breit über das gesamte bärtige Gesicht.

Irgendwie dachte ich mir das schon.

Und auch wenn ich ihn nicht absonderlich sympathisch finde, so bin ich in diesem Moment doch unsagbar froh darüber, dass wir Zidler folgen. Er ist wie ein Wellenbrecher. Nicht nur aufgrund seiner Größe, vielmehr noch aufgrund seines Status, als Teilhaber des Moulin Rouge springen ihm die Menschen aus dem Weg und bilden eine Gasse, wo immer er auch geht und steht. Ein Spalier, in das Toulouse und ich uns dankbar und eiligst einreihen.

Sichtlich zufrieden lässt sich Toulouse in einen der zerschlissenen Ohrenbackensessel in der Loge fallen, in die Zidler uns zielstrebig manövriert hat. Mit wackeligen Beinen und wattigem Kopf tue ich es ihm gleich und lasse mich tief in die dunkelroten Polster sinken, die sich sogleich sanft an mich schmiegen. Wenn sie mich doch nur verschlucken würden. Ich verstehe nicht, was Toulouse und Zidler neben mir besprechen, höre nur noch das aufdringliche Gelächter der Damen und das Pfeifen der Männer, und all das permanent überlagert durch diese schrecklich aufdringliche 2/4-Taktmusik.

Erst als die Musik verstummt und der tosende Beifall abebbt, blicke ich hinüber auf die Tanzfläche, von der sich gerade unter vielen Luftküssen, Verbeugungen, Knicksen und weiteren Luftküssen Louise fürs Erste von ihrer Anhängerschar verabschiedet.

»Großartig, nicht wahr?!«, brüllt Toulouse direkt in mein Ohr. Ihm ist offensichtlich noch nicht aufgefallen, dass die Musik zu spielen aufgehört hat.

Mit einem gekünstelten Lächeln nicke ich nur hektisch und nehme stumm das Glas aus seinen Händen entgegen. Mehr denn je sieht Toulouse aus wie ein Dandy, wie er sich so in den Tiefen des für seine Größe viel zu überdimensionierten Sessels fläzt, lässig eine Zigarre raucht und mit der anderen Hand das Glas Cognac schwenkt. Henri Toulouse-Lautrec ist in seinem Wohnzimmer angekommen.

»Eine großartige Atmosphäre, so voller Leben und Ekstase«, fährt mein Freund in einem etwas gemäßigteren Tonfall fort und seine Mundwinkel zittern verzückt.

»Und du wolltest allen Ernstes zu Hause bleiben, mein Junge.« Er schüttelt verständnislos den Kopf.

»Ja, es ist interessant.« Ich lächle das wohl falscheste Lächeln meines Lebens und nippe abwesend an dem scharfen Getränk in meinem Glas, das mir augenblicklich ein warmes Gefühl in den Beinen bereitet.

Die Augenbrauen Toulouses ziehen sich merklich verstimmt zusammen, doch in dem Moment, da er etwas Gepfeffertes antworten möchte, kommt etwas vollkommen anderes aus seinem Mund herausgeplatzt:

»Louise! Louise, meine Liebe! Hierher!«

Meine Ohren klingeln, als würde ich neben einem pfeifenden Teekessel sitzen.

Augenblicklich springt Toulouse aus dem Sessel.

Und selbst wenn er den Namen nicht in solch ohrenbetäubender Lautstärke hinausgeschrien hätte, es wäre mir dennoch sofort klar gewesen, weswegen er so freudig erregt die Hände in die Luft reißt und eifrig winkt, um von Weitem besser gesehen werden zu können.

Aus dem undurchdringlichen Menschengewirr bahnt sich mit bedächtigen Schritten ein Paar seinen Weg zu unserer Loge. Mit einem feinen Lächeln auf den überaus angenehmen Zügen kommt die Dame näher und verwirrt mich zutiefst. Es scheint eine vollkommen andere Frau zu sein als die, die sich noch vor wenigen Minuten lasziv der feiernden, kreischenden Menge präsentiert hat. Leicht den Arm ihres Begleiters umgreifend, schlendert sie mit zaghaftem Hüftschwung in einem wallenden, schwarzweiß gestreiften Chiffonkleid zu uns herüber.

Ihr Lächeln wird ein wenig wärmer, als sie Toulouse begrüßt.

»Hat dir die Darbietung gefallen?«, fragte sie unumwunden und knufft ihren Begleiter mit den finsteren Gesichtszügen und der markanten Nase scherzhaft in die Seite. »Valentin war der Ansicht, wir hätten mit einer Quadrille anfangen sollen, aber Zidler war da anderer Meinung. Er hat sich den ganzen Abend fürchterlich darüber geärgert, nicht wahr?«

Das feine Lächeln bekommt einen spöttischen Hauch, als sie kokettierend mit den Wimpern klimpernd zu ihrem Tanzpartner mit der stoischen Miene aufblickt. Dessen dunkle Augenbrauen ziehen sich skeptisch zusammen, kräuseln sich noch ein wenig mehr, als sein starrer Blick zu Toulouse hinübergleitet.

»Es hat ja auch so gut geklappt«, entgegnet er knapp und blickt nach einem kurzen Abschätzen stoisch über Toulouse hinweg, was dieser jedoch schon längst nicht mehr bemerkt.

»Wie hat dir das Plakat gefallen?«, stellt Toulouse auch sogleich die Frage, die ihm unter den Nägeln brennen muss wie siedendes Blei. Unruhig tippelt er von einem Fuß auf den anderen und wieder zurück. Louises Gesicht wird augenblicklich von einem bezaubernden Lächeln erhellt.

»Es ist großartig! Einfach fantastisch! Oh, ich wusste, wenn wir jemanden für die Plakatwerbung engagieren, dann nur dich! Ich bin einfach wunderbar getroffen, findest du nicht auch, Valentin?«

Das warme Lachen seiner Begleiterin vermag den von Toulouse nicht absonderlich schmeichelhaft verewigten Valentin nicht anzustecken. Ein kurzes Nicken ist alles, was er sich abringen kann, ehe sein Blick wieder über Toulouse hinweggleitet und somit auf mir hängen bleibt.

Wie ein Geier.

Louise folgt dem eisigen Blick Valentins und schaut merklich interessiert zu mir herüber, ehe sie sich fragend an Toulouse wendet: »Und darf man erfahren, wer dieser junge Mann in deiner Begleitung ist, Toulouse?«

Toulouse scheint erneut um einige Zentimeter zu wachsen.

»Aber natürlich darfst du, Louise. Darf ich vorstellen, mein Freund Noël Poisonnier. Ein überaus begabter junger Maler«, gibt der Mentor Toulouse sofort freudig Auskunft über seinen dressierten Königspudel, ergreift meinen Arm und zerrt mich mit einer enormen Kraft aus dem Sessel, sodass ich nun halb über der unbequemen Lehne hänge und nur ein vages Lächeln in die Richtung der beiden Neuankömmlinge werfen kann. Louise scheint dies köstlich zu amüsieren.

»Ach du meine Güte, du nimmst das junge Gemüse also unter deine Fittiche?«

Ein einnehmendes Lachen erklingt und ich merke, wie es mir die Schamesröte ins Gesicht treibt.

»Muss auch sein, muss auch sein. Bei so einem guten Vorbild wie Toulouse müssen Sie einfach ein großer Maler werden, mein Lieber. Aber nehmen Sie sich bloß nicht seinen Lebenswandel zum Vorbild«, kichert sie vergnügt, während sie mir verschmitzt zuzwinkert. Valentin indes scheint dies gar nicht zu gefallen, mit einem Ruck an ihrem Arm versucht er, sie unsanft aus der Loge zu befördern. »Wir sollten nun auch so langsam –«

»Ach Papperlapapp, sei nicht immer so kurz ab, Valentin«, wiegelt sie ihn ab und macht sich kurzerhand von seinem Griff los. Mit der nun freien Hand auf ihren Begleiter deutend, wendet sie sich wieder Toulouse und mir zu. »Darf ich nun wiederum vorstellen? Mein überaus begabter, wenn auch nicht besonders geselliger Partner Valentin le Désossé.«

»Der Knochenlose«, nicke ich anerkennend, habe ich doch bereits einiges von ihm gehört und lüpfe unbeholfen meinen zu groß geratenen Zylinder.

Valentin ruckt das Kinn zu einem bestenfalls angedeuteten Nicken. Er hat eine mehr als nur kühle Art an sich, die es schwierig macht, ihn auf Anhieb zu mögen. Um nicht zu sagen, er ist mir von der ersten Sekunde an aus tiefster Seele unsympathisch. Ich kann Toulouses Abneigung diesem Mann gegenüber nach nur wenigen Sekunden mehr als nur nachvollziehen. Es ist schwer vorstellbar, dass er und Louise so gut miteinander auskommen, wie sie es offensichtlich tun.

Armer Toulouse.

»Wie ich sehe, haben Sie von mir gehört, Herr Künstler«, entgegnet der Knochenlose schließlich in einem leicht nasalen Tonfall. Etwas an der Art und Weise, wie er das Wort Künstler betont, zieht etwas in mir zusammen. Aus seinem Mund klingt es wie eine Beleidigung.

 

Seinen Zylinder behält er auf dem Kopf.

Es krampft mir den Magen zusammen. Matt und mit einem Mal ungemein erschöpft, lasse ich mich zurück in die Polster sinken, während Toulouse das Gespräch erneut und das sehr zum Missfallen Valentins auf das überaus gelungene Plakat lenkt. In mir brodelt es.

Nein, es ist nicht nur der knochenlose Valentin.

Für das gesamte Moulin Rouge, für Zidler, Louise, den miesepetrigen Kartenverkäufer, für all sie bin ich nichts weiter als das Anhängsel an Toulouses Rockzipfel. Ein namenloser Schatten an der Seite des großen Künstlers, irgendwo in der Gosse von Montmartre aufgelesen, den man wie Louise es so treffend ausdrückte unter die Fittiche nehmen muss.

Diese Erkenntnis lässt mir die Galle hochkommen. Siedend heiß brennt sie in meinem trockenen Rachen und verätzt mir die Kehle, während ich meine Gesichtsmuskeln dazu zwinge, sich zu einem der Höflichkeit geschuldeten Lächeln zu verziehen. Es misslingt mir gründlich.

»Würden Sie mich bitte für einen Augenblick entschuldigen?«, formen meine Lippen wie von selbst diese Worte, während ich mich bereits aufrichte und hektisch nach einem Ausgang aus diesem chaotischen Sündenpfuhl suche.

Und natürlich entschuldigen sie mich. Louise lächelt mir noch ein letztes Mal verhalten zu, nickt sacht, während Valentin noch nicht einmal diese winzige Geste für angebracht hält. Lediglich Toulouse starrt mich aus weit aufgerissenen braunen Augen an, während sein Mund ein tonloses Wohin zur Hölle willst du? formt.

Ich beachte es nicht weiter. Mir schwirrt der Kopf. Der Tanzsaal ist wie ein aufgescheuchtes Bienennest. Überall laute Stimmen, Gekicher, Gekreische, Gegacker Es geht alles in einem monotonen Rauschen unter. Ich will hier nur noch raus, raus, raus! Und das so schnell wie möglich!

Eilig quetsche ich mich an Menschentrauben vorbei, achte nicht im Geringsten darauf, wessen Rocksaum ich so grade verdreckt habe, oder wessen Gehstock ich mitreiße.

Erleichtert platze ich hinaus auf den mittlerweile beinah menschenleeren Innenhof.

Gott sei Dank, endlich!

Die kalte Abendluft schlägt mir wie eine Wand entgegen, während ich, einem Ertrinkenden gleich, heftig nach Luft schnappe und versuche, so viel Sauerstoff auf einmal in mich aufzunehmen, wie eben möglich. Für einen kurzen Augenblick dreht sich alles, verschwimmen und verwackeln die hellen Lichter über dem Platz, surren umher wie kleine Glühwürmchen. Erst nach einigen weiteren tiefen Atemzügen wird die Welt um mich herum wieder ruhiger, das Wanken hört auf, die Leuchtkäfer verschwinden. Dumpf und schwer dröhnt die Musik aus den Tiefen des Moulin Rouge zu mir herüber, doch das gottverdammte Summen hat endlich aufgehört.

Wie zur Hölle hältst du das nur Nacht für Nacht in diesem Wahnsinn aus, Toulouse?, frage ich mich im Stillen und richte den verrutschten und viel zu tief über meinen Augen hängenden Zylinder. Keine Stunde in diesem Tollhaus und mir brummt bereits der Schädel.

Kopfschüttelnd richte ich halbherzig mein schief sitzendes Jackett, bereits im Begriff, den Ausgang anzusteuern, als mich doch noch etwas von diesem Vorhaben abhält.

Den Zylinder fest auf meinen Kopf drückend, lege ich selbigen in den Nacken und folge der schier endlos hohen Wand aus dunklem Stein, die sich gegen den schwarzen Nachthimmel auftürmt wie die Trutzwand einer Burg. Das spitz zulaufende Dach und das beeindruckende Rosenfenster tun ihr Übriges, um dem Gebäude eine gewisse Würde zu verleihen.

Der gotische Turm.

Dort kannst du auch zu Abendessen, hallen Toulouses Worte in meinem Kopf nach. Essen wäre in meiner jetzigen Verfassung mit Sicherheit keine gute Idee, aber mit einem leichten Lächeln erkenne ich den ausladenden, großen Balkon, der zur Straße hin das kleine Kassenhäuschen von Jaques überragt. Die Aussicht muss traumhaft sein. Und die frische Luft erst.

Entschlossen klemme ich mir meinen Zylinder fest hinter die Ohren und steuere die mit zwei Fackeln auf jeder Seite schummrig beleuchtete Treppenflucht zum Eingang des gotischen Turms an, wo mich zwei gänzlich in Rot gekleidete Männer mit einer tiefen Verbeugung begrüßen und die doppelflügelige Tür aufreißen.

Warmes Licht, Kerzen und ein angenehmer Geruch nach Süßspeisen empfangen mich, als ich das Innere des Turmes betrete und von einer jungen Dame die Treppe hinauf in das Restaurant begleitet werde.

»Ich möchte eigentlich nichts essen«, flüstere ich verlegen, als wir den Speisesaal erreichen. Selbst der Gedanke, der mich mit dem Konsum einer Tasse Kaffee spielen ließ, verschwindet augenblicklich aus meinem Kopf, da ich die Preise ausgeschlagen sehe.

»Ich möchte eigentlich nur auf Ihren schönen Balkon. Ein bisschen die frische Luft genießen«, setze ich hastig nach, als mich die junge Frau erst verwirrt, dann herabschätzend mustert. Verlegen nesteln meine Finger wieder und wieder an meinem Jackett herum, um die nicht zu übersehenden Rostflecken zu verstecken.

»Ganz wie Sie wünschen, Monsieur«, gibt sie mit professioneller Freundlichkeit, die bereits so eingeübt ist, dass sie künstlich wirkt, von sich und geleitet mich weiter Richtung Balkon.

»All unsere Gäste erhalten ein kostenloses Begrüßungsgetränk. Sie können es ja auf das Geländer stellen, wenn Sie es nicht möchten«, setzt sie spitz nach und drückt mir im Gehen ein von einem Silbertablett gegriffenes Gläschen in die Hand, ehe sie mich auf den Balkon hinausscheucht, um sich postwendend wieder der zahlenden Kundschaft zuzuwenden.

Krampfhaft halte ich mich an meinem Kristallgläschen fest und betrete durch ein niedriges Portal den kolossalen Balkon. Eingerahmt von farbenprächtigen, hängenden Blumenkaskaden in mannshohen Steinschalen und flackernden Windlichtern, die den menschenleeren Balkon dennoch warm und einladend erscheinend lassen, bietet er einen atemberaubenden Blick auf das nächtliche Paris. Vorsichtig trete ich näher an die Balustrade heran, bis meine Finger den kalten, rissigen Sandstein unter ihren Kuppen spüren. Ein angenehm kühler Wind weht mir um die Nase.

Paris.

Ein Lichtermeer breitet sich zu meinen Füßen aus, grenzt bis an den Horizont und darüber hinaus.

Lichtermeer.

Bald wirst du das echte Meer wiedersehen. Sehr bald schon, schießen mir die dunklen Gedanken wie aus dem Nichts durch den Kopf.

Nein. Paris ist nicht schön.

»Was hat es mit dem langen Gesicht auf sich?«

Zu Tode erschrocken zucke ich zusammen und lasse um ein Haar mein Glas auf die Straße fallen. Perplex wirble ich herum und suche den Besitzer der fremden Stimme.

Ich finde ihn sofort.

Lässig an eine der großen steinernen Blumenschalen gelehnt, steht ein junger Mann, dessen kohlrabenschwarzes Haar im vollkommenen Kontrast zu seinem strahlend weißen Anzug steht. Er hält die Arme vor der Brust verschränkt und blickt mit einem spöttischen Grinsen auf den scharfgeschnittenen Lippen zu mir herüber.

Nur mit Mühe kann ich meine Stimme davon abhalten zu zittern. Mein Herz schlägt mir so wild und heftig gegen die Rippen, dass es wehtut.

»Entschuldigen Sie, Monsieur Ich habe habe Sie nicht bemerkt«, entgegne ich knapp und wende mich so schnell wie möglich wieder der nächtlichen Stadt zu. Das noch immer anhaltende, eingehende Mustern des Fremden ist mir unbehaglich.

Ein helles Lachen erklingt hinter meinem Rücken und auch wenn ich es nicht sehe, so höre ich doch, wie er die Arme entfaltet und mit langsamen Schritten den Raum zwischen uns durchmisst, bis er nur wenige Schritte von mir entfernt stehen bleibt.

»Das ist mir durchaus aufgefallen«, fährt er lakonisch fort und lehnt sich entspannt mit dem Rücken gegen die Brüstung. »Aber das beantwortet meine Frage nicht.«

Über die in sündhaft teuren Stoff gekleidete Schulter verstohlen zu mir herüberschauend, versucht er, einen Blick in mein Gesicht zu erhaschen.

»Welche Frage?«, spreche ich desinteressiert in die Nacht hinaus.

Sich in einer fließenden Bewegung herumdrehend, sodass er nun ebenfalls die Straße und die Stadt im Blick hat, fährt er in einem Tonfall fort, der mir absolut nicht zu gefallen vermag: »Warum Sie so deprimiert dreinschauen. Die Nacht ist lau, die Gesellschaft überaus anregend und die Kulisse durchaus beeindruckend. Dennoch scheinen Sie alles andere als erfreut darüber zu sein.«

Aus dem Augenwinkel registriere ich, wie sich zwei dünne Brauen fragend in die Höhe ziehen.

»Ich glaube nicht, dass ich der Gesellschaft heute Abend noch viel abgewinnen kann. Ich hatte sowieso vor, gleich zu gehen«, formuliere ich meine Worte mit Bedacht. Eilig leere ich den Inhalt meines Glases, um einen Grund zum Gehen zu haben. Die Wärme des Getränkes schießt mir augenblicklich in den Kopf und lässt mich leicht schwindeln.

Zitternde Hände stellen das Glas auf der Brüstung ab.

»Aber Sie sind doch gerade erst gekommen. Schade. Wirklich sehr schade«, seufzt der fremde Mann und klingt aufrichtig enttäuscht.

»Sie machen sich wohl nichts aus dem Trubel und der Heiterkeit. Wie Sie hier trübsinnig und verlassen am einsamsten Ort des gesamten Varietés stehen.«

Bei diesen so sanft gesprochenen Worten stellen sich mir die Nackenhaare auf.

Ach, so soll das also laufen, ja? Das Spiel können auch zwei spielen.

»Und warum bitte sind Sie dann hier draußen, wenn es Ihnen drinnen im Trubel doch so viel besser gefällt?«, entgegne ich spitz und reiße mich wütend von der Aussicht los, ehe ich fortfahre: »Das erscheint mir ein wenig heuchlerisch, finden Sie nicht auch, Monsieur?«

Zu meinem Leidwesen scheint mein Gefühlsausbruch mein Gegenüber lediglich zu erheitern. Mit einem feinen Lächeln um die Lippen betrachtet er mich einen kurzen Augenblick lang aus seltsam scharfen Augen, ehe er sich erneut entspannt gegen die Balustrade lehnt und fortfährt, in die Nacht hinauszublicken, als habe er von einer Sekunde auf die andere das Interesse an einer Unterhaltung verloren.

Erst als ich im Begriff bin, den Ausgang anzusteuern, lässt ein leises, amüsiertes Kichern erahnen, dass er mit der Unterhaltung doch noch nicht abgeschlossen hat.

»Vielleicht kann ich mit all dem Trubel dort drinnen genauso wenig anfangen wie Sie, kann dies jedoch einfach besser verstecken?«

»Vielleicht können Sie das. Mir ist diese Gabe leider nicht gegeben«, fauche ich wütend und mache auf dem Absatz kehrt, um zurück in den Turm zu gehen.

»Nun gehen Sie doch nicht, nur weil ich Sie ein wenig aufgezogen habe!«, ruft er hinter mir her und etwas in seiner Stimme veranlasst mich dazu, doch noch einmal innezuhalten und mich umzudrehen. Er steht noch immer lässig an die Balustrade gelehnt da. Der leichte Wind zerzaust sein Haar, das sanft sein feingeschnittenes Gesicht umrahmt.

»Sie sind doch hergekommen, um die Aussicht zu genießen. Dann bitte, tun Sie das doch auch.«

Mit einem aufmunternden Kopfrucken deutet er auf den zuvor von mir verlassenen Platz an seiner Seite und widerwillig komme ich seiner stummen Aufforderung nach.

»So berauschend ist die Aussicht auch wieder nicht«, murmle ich verhalten und postiere mich mit steifen Bewegungen neben dem Fremden, der geistesabwesend in weite Fernen blickt, die wohl nur er sehen kann.

»Wieso sind Sie dann hier? Wenn Sie doch gar nicht hier sein wollen? Ist das nicht ein wenig absurd?«

Warum bist du noch hier, wenn du eigentlich gar nicht mehr hier sein willst?

Augenblicklich schwappt die Erinnerung an ein besorgt dreinschauendes Paar brauner Augen in meinen Geist.

Diese Frage.

Diese eine schreckliche Frage, auf die ich keine Antwort weiß. Und ich höre sie heute schon zum zweiten Mal.

Ich schlucke schwer. Abwehrend mit den Schultern zuckend, beiße ich mir auf die Unterlippe, bis der metallische Geschmack von Blut meinen Mund ausfüllt. Wortlos verschränke ich die Arme vor der Brust und blicke hinab in die von Lichtpunkten durchbrochenen dunklen Fluten. Schweigen.

 

Nur entfernt dringen gedämpfte Stimmen und die Geräusche des beinah gänzlich zum Erliegen gekommenen Verkehrs des Place Blanche zu uns herauf. Dumpfe Laute werden zu uns heraufgeweht, wie weit entfernte Schatten. Blasse Erinnerungen an das Leben in diesem Ozean zu unseren Füßen.

»Es sieht aus wie das Meer.«

Ich weiß nicht, warum ich diese Worte ausspreche. Ich weiß nicht, wieso ich nicht einfach gehe, diesen Ort verlasse und nie wieder zurückkomme. Und ich weiß nicht, wieso ich einfach nicht aufhören kann, dieses schrecklich schöne Meer aus kleinen Lichtpunkten zu betrachten, obwohl es sich mir bis ins Mark meiner Knochen einzuätzen scheint.

Erst das leise Rascheln von Stoff reißt mich aus meinen Gedanken und erschrocken registriere ich, wie der Fremde auch noch den letzten Abstand mit Leichtigkeit vernichtet.

»In der Tat. Das tut es«, pflichtet er mir bei. »Wie der weite Ozean bei Nacht.«

Seine Worte sind nicht viel mehr als ein Hauch. Würde er nicht so nah bei mir stehen, hätte ich sie für das Säuseln des Windes gehalten.

»Komisch, dass Sie das sagen«, fährt er fort, erneut einen Punkt in der Ferne fixierend. »Ich muss auch jedes Mal, wenn ich hier oben bin, an das wunderschöne Meer denken. Seltsam, nicht?«

»Das Meer ist nicht wunderschön«, entgegne ich bitter und beginne abwesend in den Taschen meines schlecht sitzenden Jacketts nach dem Päckchen Zigaretten zu suchen, das sein Eigentümer wohl in ihm vergessen haben muss.

Als meine Finger die kleine Pappschachtel ertasten, fällt mir jedoch auf, dass ich gar keine Streichhölzer habe.

»Sie erlauben?«, lächelt der Fremde, als habe er in diesem Augenblick meine Gedanken gelesen. Das Zischen eines angerissenen Streichholzes erklingt. Die Flamme flackert hektisch vor meinen Augen. »Danke«, nuschle ich leise und klemme mir die Zigarette zwischen meine trockenen Lippen. Knisternd steckt die kleine Flamme das dünne Papier in Brand, ehe sie wieder verlischt.

Versonnen atme ich bläuliche Rauchschwaden aus und sehe ihnen nach, wie sie über unseren Köpfen verblassen.

»Wieso sagen Sie, das Meer sei nicht schön?«

Er spricht zu den Rauschwaden, nicht mit mir.

Silbergraue Schleier ziehen über unseren Köpfen ihre Kreise.

Ich überlege kurz, lege mir die Worte in meinem Kopf zurecht, doch sie scheinen mir allesamt zu entgleiten.

»Es ist grausam«, antworte ich schließlich und ziehe ein weiteres Mal tief an der Zigarette, obwohl es die Kopfschmerzen zurückbringt.

»Fürchterlich grausam. Was es einmal in seinen Tiefen verschlungen hat, gibt es nie wieder her. Nachts ist es unfassbar laut, wenn die Wellen gegen den Steilhang schlagen, bei Tag stinkt es bestialisch nach Tang und Fisch und es ist so eine endlose …« , ich stocke kurz, um nach den richtigen Worten zu suchen. »So eine endlose tote Masse, die nur den Anschein erweckt, als würde sie leben.«

Die nur halb gerauchte Zigarette befördere ich mit einem Fingerschnippen über die Balustrade, atme den letzten Rest Silber aus und blicke meinem Gegenüber direkt in die Augen.

Grün.

Sie sind unfassbar grün.

»Es ist genau wie diese Stadt. Laut, grausam und so unendlich tot.«

»Sie scheinen das Meer gut zu kennen«, stellt der Fremde mit ruhiger Stimme fest und seine Finger beginnen in den Taschen seines Anzugs zu kramen, fördern schließlich ebenfalls ein Päckchen Zigaretten hervor.

»Genau wie diese Stadt. Doch scheint Ihnen leider der Blick für ihrer beider Schönheit abhandengekommen zu sein.«

Wieder das Zischen eines Streichholzes. Er bläst den Rauch der frisch angesteckten Zigarette in einer feinen Wolke in den dunklen Himmel. Stumm blicke ich den Rauschwaden hinterher.

»Und ich kann meine Frage nur erneut stellen. Warum sind Sie hier, wenn Sie gar nicht hier sein wollen? Weil es woanders noch schlimmer ist? Das ist keine besonders gute Antwort, mein Bester.«

Mit einem Lächeln, das das erste Mal jeglichen Spott vermissen lässt, legt er eine Hand an meine Wange und wendet mein Gesicht sanft, aber bestimmt wieder der Aussicht zu. Warme Finger zwingen mich, hinab auf die langsam einschlafende Stadt zu blicken.

»Bei all der künstlichen, penetranten Schönheit, die sich einem hier regelrecht aufdrängt, verliert man schnell den Blick für die wahre Schönheit.«

Er unterbricht sich kurz, indem er wieder in dieses leichte Lachen verfällt, das so seltsam hell klingt, dass es nicht recht zu seiner restlichen Erscheinung passen mag.

Wie das Lachen eines Kindes.

»Das Meer ist nicht tot.«

Sein Atem kitzelt meine Schläfen.

»Es lebt. Es pulsiert. Wie diese Stadt. Paris ist ein unendlich weiter Ozean und nachts sind die Sterne vom Himmel gefallen, um das Dunkel zu erhellen. Wenn das keine wahre Schönheit ist, dann weiß ich auch nicht weiter.«

Ich registriere kaum, wie die angenehme Wärme meine Wange verlässt.

Ich kneife die Augen zu Schlitzen zusammen und plötzlich sehe ich es.

Sterne.

Ganze Landschaften tun sich vor meinen Augen auf und ja Paris sieht wirklich aus wie das Meer bei Nacht, erhellt von den Reflexionen abertausender Sterne.

Nein, keine Reflexionen. Sterne, wirkliche Sterne, die in das Wasser gefallen sind und dennoch unbeirrt weiterstrahlen. Vollkommen unbeeindruckt.

Wunderschön.

»Sie haben recht!«

Begeistert drehe ich mich zu meinem Begleiter um, möchte ihm danken, möchte ihm sagen, wie sehr mir seine Worte geholfen haben, doch stelle ich mit Erschrecken fest, dass sich dieser gar nicht mehr an meiner Seite befindet. Hektisch drehe ich mich um, sehe nur den Schatten eines schneeweißen Anzugs hinter der Eingangstür verschwinden.

»Warten Sie! So warten Sie doch!«

Beinah über meine eigenen Füße stolpernd, stürze ich zur Tür und platze in den Innenraum des Restaurants, in dem mich zwei Dutzend irritierter Augenpaare anstarren.

»Ich würde mich gerne wieder mit Ihnen unterhalten!«, rufe ich in den Raum hinein, doch mein Wunsch verhallt ungehört. Der fremde Mann ist bereits in den Tiefen des gotischen Turms verschwunden.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?