Der Fuhrmann des Todes

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»Es hat eben erst drei Viertel auf zwölf geschlagen,« klärt er die Gefährten auf. »Ihr braucht euch also nicht die geringste Sorge zu machen, daß der gefährliche Augenblick schon herangekommen sei. Aber jetzt versteht ihr doch vielleicht, warum mein Kamerad so große Angst hatte. Ja, vor nichts weiter fürchtete er sich, als eben davor, der Tod könnte ihn möglicherweise in dem Augenblick überraschen, wo die Glocke in der Neujahrsnacht zwölf Uhr schlüge, und daß er dann gezwungen wäre, so dessen Fuhrknecht zu werden. Ich glaube, daß er sich am letzten Tage des Jahres immerfort einbildete, er höre das Rasseln und Knirschen des Totenkarrens. Und wißt ihr wohl, ihr Herren, was das merkwürdigste war? Er scheint tatsächlich im letzten Jahre gerade in der Neujahrsnacht gestorben zu sein.«

»Was, ist er wirklich gerade vor dem Anbruch des neuen Jahres gestorben?«

»Ich weiß nichts weiter, als daß er in der Neujahrsnacht starb; aber bei welchem Glockenschlage, ist mir nicht bekannt. Nun, ich hätte ihm eigentlich prophezeien können, daß er gerade an diesem Tag ins Gras beißen müßte; er hat ja doch nichts anderes getan, als auf den Tod gewartet. Wenn ihr Herren euch so etwas fest einbilden würdet, ginge es euch genau so.«

Die beiden andern Männer haben, während der Dritte erzählte, wie auf gemeinsame Verabredung rasch den Hals ihrer Flasche umfaßt und trinken nun einen langen Schluck. Darauf stehen sie langsam und schwerfällig auf.

»Ach, die Herren werden doch nicht aufbrechen wollen, ehe es Mitternacht geschlagen hat,« sagt der Große, der die Geschichte erzählt hat, als er merkt, daß es ihm gelungen ist, den beiden andern einen Schrecken einzujagen. »Ihr werdet doch einem solchen alten Ammenmärchen kein Gewicht beilegen, nein, das ist doch wohl nicht möglich! Mein Kamerad war auch viel schwächer als ihr, nicht von dem alten urgesunden schwedischen Schlag wie wir. Kommt, nun trinken wir einen tüchtigen Schluck, und dann setzen wir uns wieder!« –

»Es ist nur gut, daß man uns hier ungestört sitzen läßt,« fährt er fort, nachdem er die andern wieder neben sich auf dem Rasen hat. »Dies ist heute den lieben langen Tag hindurch der erste Ort, wo man mich in Ruhe läßt. Denn wo ich mich heute sehen ließ, bin ich immerfort von Heilsarmeesoldatinnen überfallen worden, die mich zu Schwester Edith, die im Sterben zu liegen scheint, mitnehmen wollten. Aber ich hab mich dafür bedankt; das fehlte gerade noch, man setzt sich doch nicht freiwillig einer so widerlichen Predigt aus.«

Als die beiden kleineren Männer den Namen der Schwester Edith hören, fahren sie, trotzdem ihr Gehirn von dem fortgesetzten Trinken umnebelt ist, heftig zusammen und fragen, ob es die Rettungsschwester sei, die der Rettungsstation vorstehe.

»Jawohl, die ist es,« antwortet der jüngere Mann. »Während dieses ganzen Jahres hat sie mich mit ihrer besonderen Aufmerksamkeit ausgezeichnet, und ich hoffe, sie gehört nicht zu den näheren Bekannten von euch, ihr Herren, damit ihr nicht zu sehr um sie trauern müßt.«

In den Herzen der beiden Landstreicher mußte indes irgendeine Erinnerung an eine von Schwester Edith empfangene Wohltat lebendig sein, denn beide erklären mit größter Bestimmtheit und Übereinstimmung, wenn Schwester Edith nach jemand verlange, so müßte er sich, wer er auch immer sei, unverzüglich zu ihr begeben.

»So, das ist eure Meinung, ihr Herren?« versetzt der Dritte. »Nun, ich würde auch gleich hingehen, wenn ihr mir ungefähr sagen wolltet, welche Freude Schwester Edith an einem Zusammensein mit mir haben könnte.«

Keiner von den beiden Landstreichern läßt sich auf die Beantwortung dieser Frage ein, aber beide versuchen ihn zu überreden, jetzt noch zu Schwester Edith zu gehen. Und als er sich fortgesetzt weigert, geraten sie in heftigen Zorn und erklären, wenn er nicht gutwillig gehe, werden sie ihn mit Gewalt hinschleppen.

Sie stehen auch gleich auf und krempeln ihre Rockärmel zurück, um zum Angriff überzugehen.

Ihr Widersacher, der wohl weiß, daß er der größte und stärkste Mann in der ganzen Stadt ist, wird plötzlich von Mitleid mit den beiden schwächlichen Tröpfen erfaßt.

»Wenn die Herren es denn durchaus nicht anders haben wollen, so bin ich selbstverständlich sofort bereit,« sagt er. »Aber ich muß gestehen, meiner Ansicht nach sollten wir uns lieber gütlich vertragen, besonders in dem Gedanken an das, was ich eben erzählt habe.«

Die beiden betrunkenen Männer wissen wohl kaum noch, was sie in Zorn versetzt hat; aber jetzt ist ihre Streitsucht geweckt, und sie gehen mit geballten Fäusten auf den Dritten los. Dieser ist sich aber seiner Überlegenheit so bewußt, daß er es nicht einmal der Mühe wert findet, aufzustehen, sondern ruhig sitzen bleibt. Er streckt nur die Arme aus und schleudert seine Angreifer wie ein paar junge Hunde nach rechts und links weg. Aber wie junge Hunde kommen sie auch gleich wieder heran, und dabei gelingt es dem einen, dem großen starken Mann einen heftigen Stoß auf die Brust zu versetzen. Im nächsten Augenblick fühlt dieser, daß ihm etwas Warmes die Kehle heraufsteigt und den Mund füllt. Und da er weiß, wie angegriffen sein einer Lungenflügel ist, ahnt er, daß dies der Anfang eines Blutsturzes ist. Er gibt den Kampf auf und wirft sich auf den Boden zurück, während ihm ein breiter Blutstrom über die Lippen quillt.

Dies ist ja an und für sich schon ein schwerer Unfall, aber das Schlimmste und Verhängnisvollste dabei ist, daß die Kameraden, die, als ihnen das warme Blut auf die Hände spritzt und sie den Mann zurücksinken sehen, meinen, sie hätten ihn ermordet, sinnlos und in wilder Flucht davonjagen und den Verletzten ganz allein zurücklassen. Der Blutsturz läßt freilich allmählich nach, aber sobald der Mann den allergeringsten Versuch macht, sich aufzurichten, quillt das Blut von neuem hervor.

Es ist keine besonders kalte Nacht; aber als der Mann so auf der Erde ausgestreckt liegt, empfindet er die Feuchtigkeit und Kälte höchst unangenehm, und nach und nach drängt sich ihm die Überzeugung auf, daß er zugrunde gehen muß, wenn ihm nicht bald jemand zu Hilfe kommt und ihn unter Dach und Fach schafft. Er liegt hier so gut wie mitten in der Stadt, und da es Neujahrsnacht ist, sind auch noch eine Menge Menschen unterwegs; er hört sie auf den Straßen hin und her gehen und um den Kirchenplatz herumwandern, aber niemand kommt in die Anlagen herein. Ja, die Menschen sind gar nicht weit weg, er kann ganz deutlich ihre Stimmen hören, und er denkt, es sei doch recht hart, daß er hier aus Mangel an Hilfe, die doch so ganz in der Nähe ist, zugrunde gehen müsse.

Wieder wartet er eine Weile, ob vielleicht jemand kommt. Die Kälte plagt ihn immer mehr; aber er kann sich nicht allein aufrichten, das merkt er wohl, und so beschließt er, wenigstens einen Versuch zu machen, jemand herbeizurufen.

Aber auch diesmal hat er kein Glück, denn gerade als er einen Notschrei ausstößt, fängt die Glocke im Turme über ihm an, zwölf Uhr zu schlagen. Die menschliche Stimme wird von dem starken Erzklang vollkommen übertönt, kein Mensch gibt auf sie Achtung, Der Kranke kann auch keinen zweiten Versuch machen, denn nach der Anstrengung fließt das Blut von neuem, und zwar diesmal so heftig, daß er kaum noch den Gedanken fassen kann, auf diese Weise verliere er alles Blut aus seinem Körper bis auf den letzten Tropfen, als es auch schon geschehen zu sein scheint.

Wie, werd' ich am Ende sterben, während die Glocke da droben Mitternacht schlägt? denkt er. Das ist doch wohl nicht möglich! – Aber zugleich hat er das Gefühl, als verlösche er wie ein ausgebranntes Licht. Und in demselben Augenblick, wo der letzte dröhnende Glockenschlag verhallt und den Anbruch des neuen Jahres verkündigt, versinkt der Mann in Finsternis und Bewußtlosigkeit.

III

Gleich nachdem die Turmuhr zwölf weithin hallende Schläge dröhnend über die Landschaft hingeschickt hat, dringt ein kurzes scharfes Ächzen und Knirschen durch die Luft.

Nach wenigen Augenblicken ertönt es aufs neue, und dann wiederholt es sich unaufhörlich in ganz kurzen Zwischenräumen von nur wenigen Augenblicken, gerade wie wenn es von einem ungeschmierten Wagenrad herkäme; aber es ist ein noch viel schärferer, widerwärtigerer Laut, als ihn ein noch so elendes Fuhrwerk hervorzubringen imstande wäre. Und mit diesem Laut dringt Angst herbei; er erweckt Angst vor allem, was man sich von Schmerz und Qual nur ausdenken kann.

Es ist ein Glück, daß das Geräusch für die meisten von denen, die hergekommen sind, den Jahreswechsel an der Kirche zu erwarten, unhörbar ist. Wenn es vernehmlich wäre, würden alle frohen jungen Leute, die die ganze Nacht auf den Straßen um den Platz und die Kirchenanlagen herumgewandert sind und sich nun lustig Prosit Neujahr zurufen, ihre Glückwünsche in Jammern und Klagen verwandelt haben über all das Schlimme, das sie selbst und ihre Freunde erwarte. Wenn das Geräusch vernehmlich gewesen wäre, würde die kleine Gemeinde in dem Vereinshause, die eben jetzt das Neujahrslied anstimmte, um Gott im Himmel Lob und Dank darzubringen, gemeint haben, es mischten sich höhnisches Pfeifen und Zischen gefallener Geister in den heiligen Gesang. Wenn das Geräusch vernehmlich gewesen wäre, würde der Redner, der mit dem Champagnerglas in der Hand in einer frohen Gesellschaft eben seine Glückwünsche zum Neuen Jahr ausbrachte, verstummt sein, weil er ein widerwärtiges Rabengekrächze zu hören vermeinte, das ihm für alles, was er hoffte und wollte, Mißerfolg und Unglück anzukündigen schien. Ja, wenn das Geräusch vernehmlich gewesen wäre, würden die Herzen aller derer, die in dieser Nacht in ihren stillen Heimstätten wachten und sich Rechenschaft über ihr Tun und Lassen im vergangenen Jahre ablegten, im Bewußtsein ihres Unvermögens und ihrer Schwachheit von Verzweiflung zerrissen worden sein!

 

Es ist ein Glück, daß das Geräusch nur für einen einzigen Menschen vernehmlich ist, und daß dieser eine Mensch zu denen gehört, die es recht wohl nötig haben, in Angst, Gewissensqual und Selbstverachtung gestürzt zu werden, wenn es überhaupt noch möglich ist.

IV

Der Mann, der den schweren Blutsturz gehabt hat, liegt noch auf dem Boden und gibt sich alle Mühe, wieder zum Bewußtsein zu kommen. Es ist ihm, als wecke ihn etwas, als fliege ein Vogel, oder was es sonst sein mag, mit lautem Geschrei über seinen Kopf hin. Aber es ist ihn eine schöne, angenehme Ruhe überkommen, aus der er sich nicht losreißen kann.

Gleich darauf ist er überzeugt, daß das Geräusch nicht von einem Vogelschrei herrühren kann, sondern daß es der Totenkarren ist, dessen Geschichte er den beiden Landstreichern erzählt hat; dieser fährt jetzt durch die Kirchenanlagen und knirscht und rasselt so schrecklich, daß der Mann nicht schlafen kann. Aber halb unbewußt weist er, während er ruhig auf dem Boden liegt, den Gedanken, es könnte der Totenkarren sein, doch von sich. So etwas bildet er sich ja nur ein, weil er erst vorhin an ihn gedacht hatte.

Er versinkt von neuem in eine Art Schlummerzustand, aber das hartnäckige Knirschen dringt wieder schneidend durch die Luft und laßt ihm keine Ruhe. Jetzt wird ihm auch plötzlich klar, daß das, was er hört, von einem wirklichen Gefährt herrührt. Nein, das ist keine Einbildung, es ist volle Wirklichkeit, und so kann er nicht hoffen, daß es bald aufhören werde.

Und da wird ihm etwas klar; es hilft alles nichts, er muß sich entschließen, aufzuwachen.

Er merkt sofort, daß er noch immer auf demselben Rasenplatz liegt wie zuvor und ihm also niemand zu Hilfe gekommen ist. Alles scheint noch unverändert zu sein, nur wiederholt dringt ein ächzender, knirschender Ton durch die Luft. Der Ton scheint aus weiter Ferne zu kommen, ist aber überaus langgezogen und dringt ihm schneidend scharf in die Ohren, und er weiß nun auch genau, daß dieser Laut es ist, der ihn geweckt hat.

Er fragt sich, ob er wohl lange bewußtlos dagelegen habe, was ihm aber nicht wahrscheinlich vorkommt. Er hört, wie sich die Leute, die in nächster Nähe umherwandern, Prosit Neujahr zurufen, und schließt daraus, daß es noch nicht lange nach Mitternacht sein kann.

Der ächzende, knirschende Ton dringt einmal ums andere an sein Ohr, und da der Mann von jeher sehr empfindlich gegen gellende, kreischende Töne gewesen ist, denkt er, es wäre gut, wenn er einen Versuch zum Aufstehen machen und fortgehen würde, damit er dieses Unwesen nicht mehr hören müßte. Ja, einen Versuch könnte er doch wenigstens machen, jetzt beim Aufwachen fühlt er sich wieder ganz wohl. Er hat nicht mehr das Gefühl, als habe er eine offene, klaffende Wunde in der Brust. Es friert ihn nicht mehr, und er fühlt sich auch nicht mehr matt, fühlt überhaupt seinen Körper gar nicht, sondern es ist ihm ganz so zumut, wie es zu sein pflegt, wenn man vollkommen gesund ist.

Er liegt noch immer auf der Seite, wie er sich hingeworfen hat, als der Blutsturz anfing, und nun will er sich zuerst auf den Rücken legen und versuchen, was sein gebrechlicher Körper aushalten kann.

›Jetzt richte ich mich vorsichtig auf den Ellbogen auf, drehe mich um und lasse mich wieder zurücksinken,‹ denkt er.

Der Mann ist, wie alle andern Menschen auch, gewohnt, sobald der Gedanke sagt: »Nun tue ich dies oder das,« es auch in demselben Augenblick bewerkstelligt zu haben. Aber diesmal widerfährt ihm etwas Seltsames: sein Körper bleibt ganz ruhig liegen, ohne die vorgeschriebenen Bewegungen auszuführen; vollkommen unbeweglich liegt er da.

›Wäre es denn möglich, daß ich sehr lange dagelegen habe und nun zu Eis erstarrt bin?‹ denkt der Mann.

Aber wenn er so hartgefroren wäre, müßte er ja tot sein, und er lebt doch, er sieht und hört ja. Und außerdem herrscht auch gar keine eigentliche Kälte, denn von den Bäumen über ihm tropft und rieselt es ja auf ihn herunter.

Der Mann ist von dem Gedanken, was für eine seltsame Lähmung sich seiner bemächtigt habe, ganz erfüllt, und so hat er eine Weile das quälende Knirschen vergessen. Aber plötzlich hört er es aufs neue.

›Ja, nun kannst du dir alle weitere Überlegung, wie du dieser Musik entgehen könntest, sparen, David,‹ denkt er. ›Jetzt mußt du es eben aushalten, so gut es geht.‹

Für jemand, der sich eben noch frisch und tatkräftig und nicht ein bißchen krank gefühlt hat, ist es nicht leicht, ruhig und geduldig daliegen zu müssen, und der Mann macht unaufhörliche Versuche, wenigstens einen Finger zu bewegen oder die Augenlider zu heben. Aber das eine ist ihm ebenso unmöglich wie das andere, und er fragt sich unwillkürlich, wie er es denn früher gemacht habe, wo er den vollen Gebrauch seiner Glieder hatte. Er denkt, er müsse diese Kunst durch irgendeinen Unfall vergessen haben.

Während der ganzen Zeit kommt das Knirschen immer näher. Jetzt ist es nicht mehr weit entfernt; er hört, daß es von einem Gefährt herrührt, das ganz langsam durch die Lange Straße nach dem Marktplatz fährt. Und ein elender Schinderkarren muß es sein, so viel ist sicher. Jetzt hört man nicht nur das Knirschen der ungeschmierten Räder, sondern auch das Krachen im Holz und wie das Pferd bei jedem Schritt auf dem Straßenpflaster ausgleitet. Wahrhaftig, wenn der erbärmliche Totenkarren, vor dem sein alter Kamerad so eine Heidenangst gehabt hatte, dahergefahren käme, es könnte sich nicht schlimmer anhören.

›Du und ich, David,‹ denkt der Mann, ›wir beide brauchen zwar keine besondere Sehnsucht nach der Polizei zu haben; aber wenn sie jetzt aufpassen und dem Unwesen ein Ende machen würde, so würden wir uns doch recht schön bei ihr bedanken.‹

Der Mann pflegt sich mit seinem stark ausgeprägten Sinn fürs Komische zu brüsten, aber jetzt fängt er doch an zu fürchten, diese Knirschmusik im Verein mit allem andern, was ihm in dieser Nacht widerfahren ist, könnte seinem Humor den Garaus machen. Allerlei widerwärtige Überlegungen gehen ihm durch den Kopf: wenn er jetzt, wie er so daliegt, gefunden wird, könnte er für tot gehalten und lebendig eingesargt und begraben werden.

»Und dann mußt du alles, was um deinen Leichnam herum gesprochen wird, mit anhören, und das klingt vielleicht auch nicht schöner als der Spektakel, den du jetzt anhören mußt,« sagt er zu sich selbst.

Höchstwahrscheinlich ist dieses Knirschen die Ursache, warum er plötzlich an Schwester Edith denken muß, zwar nicht mit Gewissensbissen, aber mit dem empörten Gefühl, daß sie auf irgendeine Weise den Sieg über ihn davongetragen habe.

Das Knirschen erfüllt die Luft, und es zerreißt ihm die Ohren; aber es erweckt in dem daliegenden Manne keine Reue über das Unrecht, das er anderen zugefügt hat, sondern nur zornige Erinnerungen an alles Böse und Widerwärtige, das ihm andere angetan haben.

Aber gerade wie er sich so recht in diese Anklagen hineingesteigert hat, bricht er jäh ab und horcht eine ganze Minute lang angestrengt in die Nacht hinein. Das Gefährt ist zwar die Langestraße hinuntergefahren, aber nicht in den Marktplatz eingebogen. Das Pferd gleitet nicht mehr auf den runden spitzigen Pflastersteinen aus, jetzt schreitet es über einen Sandweg. Es nähert sich dem Platz, wo der Mann liegt, es ist in die Kirchhofanlagen hereingefahren.

In seiner Freude über die Möglichkeit, Hilfe zu erlangen, macht der Mann noch einen Versuch, sich aufzurichten. Aber es geht ihm dabei genau wie bei den vorhergehenden Malen. Nur allein seine Gedanken bewegen sich, der Körper nicht.

Dagegen hört er, daß das Gefährt tatsächlich näher herankommt. Das Holzwerk kracht immerfort, das Geschirr knarrt, und die ungeschmierten Räder quietschen und knirschen, und zwar so erbärmlich, daß der Mann allmählich Angst bekommt, sie könnten auseinanderfallen, ehe das Gefährt bis zu ihm gelangt wäre.

Das Gefährt bewegt sich unglaublich langsam, und der Mann, der von dem einsamen und hilflosen Daliegen gereizt und ungeduldig geworden ist, meint, es dauere noch viel länger, bis das Gefährt ihn erreicht, als es tatsächlich der Fall ist. Und er kann auch gar nicht daraus klug werden, was denn das für ein Gefährt sein kann, das mitten in der Neujahrsnacht in die Kirchenanlagen hereinfährt. Der Kutscher ist vielleicht betrunken, wenn er solche Wege einschlägt, aber dann kann er ja keine Hilfe von ihm erwarten.

›Das Knirschen ist es, das dich so niederdrückt, David,‹ denkt er. ›Das Gefährt hat gewiß nicht die andere Allee eingeschlagen, wie du dir jetzt einbildest, sondern kommt gerade auf dich zu.‹

Jetzt kann das Gefährt nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt sein, aber das entsetzliche Knirschen, das er weniger wie irgendein anderer aushalten kann, hat den Mann ganz mutlos gemacht.

›Du hast heute Unglück, David,‹ denkt er. ›Und du wirst sehen, daß hier nichts als ein neues Unglück heranrückt. Es ist gewiß eine schwere Straßenwalze, die über dich wegfährt, oder irgend etwas Ähnliches.‹

Im nächsten Augenblick wird der Mann gewahr, was es ist, auf das er so eifrig gewartet hat, und obgleich es durchaus keine Straßenwalze ist, die ihn zu zermalmen droht, verliert er bei seinem Anblick doch fast die Besinnung vor Schrecken.

Er kann seine Augen ebenso wenig bewegen wie irgendein anderes Glied seines Körpers, und deshalb sieht er nichts weiter, als was gerade vor ihm ist. Da nun das knirschende Gefährt von der Seite hergefahren kommt, taucht es erst allmählich vor seinem Sehfeld auf. Das erste, was sich dem Manne zeigt, ist ein alter Pferdekopf mit ergrautem Stirnhaar und einem erblindeten Auge, das ihm zugewendet ist. Dann erscheint die vordere Hälfte eines Pferds, das statt des einen Beins nur noch einen kurzen Stumpf aufzuweisen hat, und das in ein mit schlechten Schnüren und Birkenweiden zusammengebundenes und mit schmutzigen Garntroddeln verziertes Geschirr gespannt ist. Dann erscheint der ganze elende Gaul und der ganze elende Karren mit der zerbrochenen Holzeinfassung und den losen, wackeligen Rädern, ein gewöhnlicher, aber so schrecklich mitgenommener Marktkarren, daß er aussieht, als könne man nichts mehr darauf laden.

Der Fuhrmann sitzt auf dem Sitzbrett, und er stimmt ganz genau mit der Beschreibung überein, die der Mann vor einer kleinen Weile selbst von ihm und seinem Gefährt und allem andern gemacht hatte. Die Zügel, an denen der Fuhrmann den Gaul leitet, sind so oft zusammengebunden, daß ein Knoten am andern sitzt, die Mantelkapuze hat er tief ins Gesicht hereingezogen, und er sitzt zusammengesunken auf dem Karren, wie von einer Müdigkeit gebeugt, von der er sich niemals genügend ausruhen darf.

Als der Mann nach dem heftigen Blutsturz in Ohnmacht sank, war es ihm, als sei seine Seele aus seinem Leibe entwichen und ausgeflackert wie eine verlöschende Flamme. Aber so ist es jetzt nicht mehr, jetzt ist ihm, als werde sie so geschüttelt und verrenkt und herumgewirbelt, daß sie nie wieder in die richtige Verfassung kommen könnte.

Man sollte nun eigentlich meinen, der Mann hätte nach allem, was der Ankunft des Gefährts vorausgegangen war, darauf gefaßt sein müssen, etwas Übernatürliches daherkommen zu sehen; aber wenn ihm auch so ein Gedanke aufgestiegen war, so hatte er ihm keine Bedeutung beigelegt. Und als er jetzt das vor sich sieht, von dem er als von einer alten Sage reden gehört hat, will es sich durchaus nicht mit irgendeinem seiner flüchtigen Erlebnisse in Einklang bringen lassen.

›Dies wird dich noch verrückt machen, David,‹ denkt er mitten in seiner Verwirrung. ›Nicht allein mein Körper ist zugrunde gerichtet, nun komme ich auch noch um meinen Verstand.‹

Was ihn in diesem Augenblick hauptsächlich beschäftigt, ist das Gesicht des Fuhrmanns. Das Pferd ist dicht vor ihm stehen geblieben, und da hat sich der Fuhrmann aufgerichtet, als erwache er aus einem Traum. Mit einer müden Bewegung hat er die Kapuze zurückgeschlagen und schaut sich nun suchend nach allen Seiten um. Dabei sieht ihm der am Boden Liegende in die Augen, und er erkennt in dem Fuhrmann einen alten Bekannten.

›Ei, das ist ja der Georg!‹ denkt er. ›Er ist zwar höchst seltsam ausstaffiert, aber ich erkenne ihn doch, ich erkenne ihn!‹

›Kannst du mir sagen, David, wo er sich wohl diese ganze Zeit über aufgehalten hat?‹ fragt er im stillen weiter. ›Ich glaube, ich bin während des ganzen letzten Jahres nicht ein einzigesmal mit ihm zusammengetroffen. Aber weißt du, David, der Georg ist ein freier Mann und nicht an Frau und Kinder gebunden. Er hat wohl eine große Reise gemacht, ja vielleicht kommt er vom Nordpol, er sieht bleich und erfroren aus.‹

Er betrachtet den Fuhrmann genau, denn in dessen Ausdruck liegt etwas, was er bisher nicht an ihm gekannt hat. Aber es muß der Georg sein, sein alter Kamerad und Saufkumpan, es ist nicht anders möglich. Er erkennt ihn an dem großen Kopf und der Adlernase, an dem mächtigen schwarzen Schnurrbart und dem spitzen Kinnbart. Wer ein Aussehen hat wie ein flotter Sergeant, ja man könnte sagen, ein Aussehen, auf das jeder General stolz sein würde, darf sich nicht der Hoffnung hingeben, von einem alten Bekannten nicht wieder erkannt zu werden.

 

›Was sagst du da, David?‹ beginnt der Mann von neuem. ›Hast du sagen hören, Georg sei im vorigen Jahr gerade in der Neujahrsnacht in einem Krankenhaus zu Stockholm gestorben? Weißt du, mir ist, als habe ich es auch gehört, aber wir beide haben uns nicht zum erstenmal getäuscht. Denn der Fuhrknecht hier ist der Georg, wie er leibt und lebt. Sieh ihn nur an, jetzt, wo er aufsteht. Ist das vielleicht nicht der Georg mit dem kleinen ärmlichen Körper, der nie mit seinem Korporalskopf übereinstimmte? Ja, was sagst du nun, David? Hast du gesehen, als er vom Karren heruntersprang, flog sein Mantel so weit auseinander, daß sein alter langer zerlumpter Rock, der ihm immer bis auf die Fersen herunterhing, zum Vorschein kam? Und zugeknöpft bis zum Hals hinauf war er, David, genau wie immer, und das große rote Halstuch wedelte ihm um den Hals, aber ebenso wie früher war keine Spur von Hemd oder Weste da.‹

Der Gelähmte fühlt sich ganz aufgemuntert. Er hatte laut lachen können, wenn es ihm überhaupt möglich gewesen wäre, ein Lachen hervorzubringen.

›Wenn wir beide, du und ich, David, einmal wieder zu Kräften kommen, wollen wir dem Georg diesen Spaß heimzahlen. Es ist ihm mit diesem Aufzug fast gelungen, mir den Verstand in die Luft zu sprengen, wie wenn er Dynamit darunter gelegt hätte. Aber es gehörte auch so ein Kerl wie der Georg dazu, um darauf zu verfallen, sich so einen Gaul und so einen Karren zu verschaffen und damit bis zur Kirche herzufahren. Nicht einmal du, David, wärst imstand gewesen, so einen schnurrigen Aufzug auszuhecken. Ja, ja, der Georg ist dir immer über gewesen.‹

Der Fuhrmann ist indessen zu dem am Boden Liegenden getreten und betrachtet ihn. Sein Gesicht ist starr und ernst. Es ist ihm durchaus nicht anzusehen, ob er weiß, wen er vor sich hat.

›Ein paar Punkte sind doch noch da, über die ich durchaus nicht ins Reine kommen kann,‹ denkt der Mann. ›Erstens, wie der Georg herausgebracht hat, daß ich und die Kameraden uns hier auf dem Rasen niedergelassen haben, so daß er auf die Idee kam, hierher zu fahren, um uns zu erschrecken. Zweitens, daß er sich in die Gestalt des Fuhrknechts des Todes zu verkleiden gewagt hat, vor dem er doch immer so große Angst hatte.‹

Jetzt beugt sich der Fuhrmann über den Daliegenden, aber immer noch mit demselben fremden Ausdruck.

»Der Ärmste hier wird nicht sehr froh sein, wenn er erfährt, daß er mich ablösen muß,« hört David ihn vor sich hinmurmeln.

Auf die Sense gestützt, beugt er das Gesicht immer tiefer herab, und im nächsten Augenblick erkennt er seinen Kameraden. Da bückt er sich ganz hinunter und sieht ihm in die Augen.

»Ach, ach, es ist David Holm!« ruft er aus. »Das war das einzige, von dem ich glaubte, es würde mir erspart bleiben.«

***

»Ach, David, daß du es bist, daß du es bist!« stöhnt er, indem er die Sense wegwirft und neben dem Daliegenden in die Knie sinkt. »Während dieses ganzen Jahres,« fährt er mit großer Herzlichkeit und tiefer Betrübnis fort, »hab' ich immer gewünscht, Gelegenheit zu bekommen, dir nur ein einziges Wort zu sagen, ehe es zu spät ist. Einmal wäre es mir beinahe geglückt, aber du hast mir widerstanden, so daß ich nicht bis zu dir hingelangen konnte. Ich glaubte, ich würde es jetzt in der nächsten Stunde, gleich wenn ich von meinem Dienst abgelöst wäre, tun können, aber nun liegst du schon hier! Und jetzt komme ich zu spät, um dir zu sagen, du sollest dich in acht nehmen.«

David Holm hört dies alles mit unbeschreiblichem Erstaunen.

›Was meint er nur?‹ denkt er. ›Er redet ja, wie wenn er tot wäre. Und wann soll denn das gewesen sein, wo er mir nahe war und ich ihm widerstanden hätte? Aber es ist ja wahr,‹ beruhigt er sich, ›er muß ja so reden, wie es zu seiner Verkleidung paßt.‹

Nun fängt der Fuhrmann wieder an zu sprechen, und zwar mit tief bewegter Stimme.

»Ach, David, meinst du, ich wisse nicht, wie viel Schuld ich daran trage, daß es ein solches Ende mit dir genommen hat? Wenn du mir nicht begegnet wärst, hättest du auch fernerhin ein ruhiges, rechtschaffenes Leben geführt. Du hättest dich mit deiner Frau zum Wohlstand heraufgearbeitet; nichts hätte euch daran gehindert, denn ihr waret beide junge, tüchtige Leute. Du kannst versichert sein, David, während dieses ganzen letzten endlosen Jahres ist nicht ein einziger Tag vergangen, ohne daß ich voller Angst darüber nachgedacht hätte, daß ich es war, der dich von deinem fleißigen Lebenswandel weggelockt und dich meine eigenen schlechten Gewohnheiten gelehrt hat. Ach, ach,« fährt er fort, indem er dem Freunde zärtlich übers Gesicht streicht, »ich fürchte, du bist noch weiter vom Guten abgekommen, als ich tatsächlich weiß. Wie hätten sich sonst diese furchtbaren Linien um deine Augen und deinen Mund eingegraben?«

David Holms gute Laune fängt an, sich in Ungeduld zu verwandeln.

›Laß es jetzt des Scherzes genug sein, Georg,‹ denkt er. ›Geh lieber und hole jemand herbei, der dir helfen kann, mich auf den Karren zu heben, und fahr' mich so rasch du kannst nach dem Lazarett.‹

»Ich nehme an, daß du weißt, was ich in diesem Jahr zu tun gehabt habe, David,« sagt der Fuhrmann. »Und du weißt auch, was das für ein Karren und was es für ein Pferd ist, die mich hergebracht haben. Ich brauche dir auch nicht erst zu sagen, wer nach mir die Sense hier ergreifen und die Zügel führen soll. Aber, David, bedenke wohl und vergiß es nicht, ich bin es nicht, der dich zu diesem Schicksal bestimmt hat. Denk doch, während dieses ganzen entsetzlichen Jahres, das dich erwartet, nie und nimmer, ich hätte meinen eigenen Willen gehabt und es vermeiden können, heute nacht mit dir zusammenzutreffen. Sei überzeugt, wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich alles getan, um es dir zu ersparen, dasselbe durchmachen zu müssen wie ich.«

›Vielleicht ist Georg tatsächlich verrückt geworden,‹ denkt David Holm. ›Sonst müßte er doch begreifen, daß es sich für mich um Leben und Tod handelt, und er nicht auf diese Weise saumselig sein dürfte.‹

Doch in dem Augenblick, wo David Holm also denkt, sieht ihn der Fuhrmann unsäglich wehmütig an.

»Du brauchst dich nicht aufzuregen, weil du nicht ins Lazarett gebracht wirst, David. Wenn ich zu einem Kranken gekommen bin, ist es zu spät für ärztliche Hilfe.«

›Ich glaube, heute nacht sind alle Teufel losgelassen, um ihren Spuk mit mir zu treiben,‹ denkt David Holm. ›Wenn nun endlich ein Mensch daherkommt, der mir helfen könnte, dann ist er entweder verrückt oder so heimtückisch, daß es ihm ganz einerlei ist, ob ich zugrunde gehe.‹

»Ich möchte dich an ein Vorkommnis vom vorigen Sommer erinnern, David,« fährt der Fuhrmann fort. »Es war an einem Sonntagnachmittag, da bist du durch ein schönes, breites Tal gewandert, wo dir überall, so weit das Auge reichte, große Äcker und schöne Höfe mit blühenden Baumwipfeln entgegenlachten. Es war ein erstickend heißer Nachmittag, wie sie manchmal im Hochsommer vorkommen, und ich glaube, es fiel dir auf, daß du in der ganzen Umgegend das einzige Wesen warst, das sich bewegte. Die Kühe standen regungslos auf den Weiden und wagten sich nicht von den schattenspendenden Bäumen weg, und die Menschen waren alle miteinander verschwunden. Sie mußten sich unter Dach geflüchtet haben, um der Hitze zu entgehen. Sag, war es nicht so, David?«

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