Engel und Dämon

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Engel und Dämon
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Shino Tenshi

Engel und Dämon

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Impressum neobooks

1

Angriff der Dunkelheit

Engel und Dämon

Hastige Schritte eilten über den von Laub bedeckten Boden. Man erkannte nur wenig im Schein des Vollmondes, dennoch bewegte sich die Gestalt zielstrebig und ohne große Mühe. Sie schien sich in diesem Wald auszukennen, wodurch sie kein einziges Mal stoppte.

Die Luft kündete von einem kommenden Winter, denn sie ließ den Atem als kleine Wölkchen zu Tage treten und auch begann der erste Raureif sich auf den Blättern und Gräsern zu bilden. Verwandelte dadurch die Umgebung in ein mystisches Reich, das zum Träumen einlud.

Doch dies alles störte sie nicht. Sie rannte unbeirrt weiter. Die Krallen ihrer Pfoten gruben sich unnachgiebig in den Boden. Gaben Halt und sorgten so dafür, dass sie sich mit aller Kraft ohne zu stürzte nach vorne bewegen konnte. Egal wie steil die Kurven auch waren.

Ihr Ziel war ein kleines Dorf, das sich zwischen die Bäume gezwängt hatte und somit hoffte, dass der Wald um sie herum die Bewohner vor der Welt dort draußen schützen würde. Doch vor diesem Wesen konnten sie nicht geschützt werden, denn es näherte sich unnachgiebig der kleinen Ansammlung und verlangsamte seine Schritte erst als es den Schutz der Bäume verlassen hatte und in den ersten Schein der Straßenlaternen trat.

Die Kerzen in den Gestellen spendeten nur wenig Licht und erzeugten eher noch mehr unheimliche Schatten, als sie zu vertreiben. Doch die Menschen in den einfachen Häusern aus Holz und Lehm schienen einfach nur froh darüber zu sein, dass sie in der Nacht nicht in völliger Dunkelheit unterwegs sein mussten.

Die gekrümmte Gestalt nutzte jedoch das tanzende Licht, um sich in den neuen Schatten zu bewegen. Sie hatte an sich nichts zu befürchten. Ihr Körper war zu kräftig, als dass ihr irgendeiner der hier anwesenden Menschen etwas anhaben könnte. Dennoch wollte sie unbemerkt bleiben.

Der Wolf wollte jetzt keine Aufmerksamkeit erhaschen. Die Unruhe würde ihm eher schaden als nutzen, wodurch er weiterhin versuchte sich leise fortzubewegen, was allerdings durch die gefrorene Erde zu einer fast unlösbaren Aufgabe wurde. Immer wieder scharrten seine Krallen über den harten Boden. Zeugten so von Unheil und ließen die Gefahr spürbar werden.

Doch ihm kam eh keine Menschenseele entgegen. Nur hier und da huschte er unter dem erleuchtenden Fenster eines einzelnen Gebäudes hindurch und hörte die gesenkten Stimmen, welche vor Angst leicht zitterten.

„Ob es heute Nacht wieder zuschlägt?“

„Wir haben doch kaum noch Vieh.“

„Wenn es noch mehr frisst, dann werden wir verhungern.“

Diese Worte sollten ihn traurig stimmen, doch so konnte er nicht empfinden. Niemand hegte auch nur einen Funken Mitleid für ihn und er hatte es sich nicht einmal ausgesucht. Nein, er wurde bestraft.

Bestraft für die Tatsache, dass er jemand helfen wollte, dem man nicht mehr helfen konnte. Also versuchte er die Stimmen zu ignorieren, die über ihn schimpften. Obwohl sie nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatten, was die Wahrheit war.

Sein Ziel war ein Haus, das herunter gekommen war und von dem ganzen Dorf gemieden wurde, wodurch es trotz seiner zentralen Lage sehr einsam wirkte, denn der Abstand zu den Nachbarhäusern war größer als üblich. Als würde man sich vor dem Unheil, das in diesen vier Wänden wohnte, fürchten.

Doch er musste dorthin. Dorthin und einen Weg aus seinem Fluch finden, wodurch er sich zielstrebig dem Gebäude näherte und kaum ließ er die letzte Hütte hinter sich spürte er, wie seine Glieder schwerer wurden. Ein gewaltiger Druck begann sich auf seiner Lunge auszubreiten und ihm das Atmen zu erschweren - schon fast unmöglich zu machen.

Doch er wollte nicht aufgeben. Heute nicht. So oft hatte er es schon versucht. Doch jedes Mal war er umgekehrt. Aber jetzt nicht. Er wollte zum Fenster und endlich Klarheit erlangen.

Sein Bauch berührte den kalten Boden, als er sich nur noch kriechend fortbewegen konnte, doch er hielt nicht an. Der Schmerz, der sich immer tiefer in seinem Körper grub, begann sämtliche Nerven zu überladen und ließ Schweißperlen aus seinen Poren dringen, dennoch versuchte er sich weiter nach vorne zu ziehen.

Näher heran. Nur noch ein wenig näher heran. Ein letztes Mal durch dieses Fenster sehen und vielleicht dadurch endlich verstehen. Wodurch er sich verzweifelt hoch zu stemmen begann, als er sein Ziel erreicht hatte.

Der Schmerz benebelte seine Sinne und er erkannte nur noch Schemen. Doch es hatte sich nichts verändert. Die Couch. Das Kaminfeuer. Die kauernde Gestalt. So wie an dem Tag, als sein Grauen begann.

Er spürte, wie der Hass sich in seinem Inneren ausbreitete. Hass auf dieses Haus. Die Gestalt und alles, was ihn dies angetan hatte, doch er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

Plötzlich durchschoss ihn ein gleißender Schmerz, der ihn gepeinigt aufjaulen und seine Wirbelsäule ungesund krümmen ließ.

„Kevin.“ Die Stimme war schneidend und kühl, wobei er über seine Schulter zurück sah und erkannte, dass ein junger Mann mit ausgestreckter Hand hinter ihm stand. Sein Gesicht war vor Abscheu und Zorn verzerrt, während er seine Finger weiter krümmte und so neuen Schmerz im Körper des Wolfes entfachte.

„Was suchst du hier? Du weißt doch, dass du hier nicht willkommen bist. Wann werdet ihr törichten Menschen das endlich verstehen? Dieses Haus gehört mir und ich werde jeden bestrafen, der es unbefugt betritt.“ Der Neuankömmling schnaubte abfällig, wobei der Angesprochene spürte, wie er den Boden unter den Füßen verlor.

Im nächsten Moment wurde er schon durch die Luft geschleudert und schlug hart an der nächsten Wand auf. Ein schmerzhaftes Jaulen wurde aus seinen Lungen gepresst und er zitterte am ganzen Körper. Seine Glieder wollten ihm nicht gehorchen und dennoch versuchte er sich wieder aufzurichten. Ohne Erfolg. Er sank zurück und konnte unter den Schmerzen kaum noch klar denken, dennoch gab er nicht auf.

„Also, lauf, Wölfchen. Lauf so schnell du kannst. Und komm nie mehr zurück. Denn hier wirst du nur deinen Tod finden.“ Der Magier lachte und Kevin stemmte sich nun gänzlich in die Höhe, bevor er sich abwandte und das Dorf so schnell es sein momentaner Zustand zuließ verließ. Er humpelte und immer wieder brachen seine Beine unter seinem Gewicht zusammen, wodurch er stürzte. Doch er blieb nicht lange liegen, sondern eilte weiter. Weg von diesem verfluchten Haus. Hinein in den schützenden Wald.

Wie sollte er es schaffen? Wie konnte er den Fluch brechen? Wie nur? Eine einzelne Träne der Verzweiflung rollte über seine Wangen, als er ein leises Jaulen ausstieß. War er für immer verloren? Hoffentlich nicht. Irgendwo musste es doch Rettung geben. Es musste ein Ausweg existieren. Aber Kevin konnte ihn nicht sehen und die Verzweiflung kam zurück. Warum? Warum er? Er wollte doch nur helfen. Nur nett sein.

Er ließ sich in einer kleinen Höhle auf den Boden fallen. Seine Glieder zitterten immer noch unter den letzten Wellen der Schmerzen, doch sein Körper begann schon mit der Heilung. Nichts konnte ihn töten. Er war hier gefangen. Für alle Zeit. Warum ist er damals nur gegangen? Er hätte auf seine Mutter hören sollen. Dieses eine Mal hätte er hören sollen, dann würde er jetzt noch ein normaler Mensch sein und kein Monster. Kein Monster, das niemand töten konnte. Kein Monster, das nur töten kann und nicht sterben wird. Niemals...

„Nein, du wirst nicht zu diesem Haus gehen.“

Kevin sah seine Mutter an, die sich erbost über ihn aufbaute, als würde diese Haltung ihr Verbot bestärken, doch den Jungen erreichte es dadurch nur noch weniger.

„Warum nicht? Was soll an diesem Haus so schlimm sein?“, versuchte es der fünfzehnjährige weiter, doch seine Mutter schnaubte abfällig: „Es bringt Unglück, wenn man sich ihm nähert. Dieses Haus hat noch nie etwas Gutes vollbracht. Niemals. Darum bleib fern, wenn dir dein Glück und das Wohlergehen deiner Familie wichtig ist.“

Kevin spürte, dass sie damit etwas in ihm traf, dennoch wollte er es nicht für bare Münze nehmen, denn er war nicht abergläubisch. Er glaubte nicht an Flüche, Verwünschungen und sonstigen Kram. Für ihn war dieses Haus ein normales Gemäuer, das man nur ein wenig mehr pflegen müsste, dann würde es bestimmt wieder sehr gut aussehen.

Aber in seinem jetzigen Zustand konnte es ja nur Angst und Schrecken verbreiten. So viel verstand Kevin zumindest schon, dennoch sah er sich seiner wütenden Mutter gegenüber, die von seiner Idee, die neu zugezogene Frau in dem Haus zu besuchen, gar nicht begeistert war.

 

„Haben wir uns da verstanden?“, kam die alles entscheidende Frage, als Kevin nach einer Weile immer noch nicht reagierte, wodurch er schwer seufzte und schließlich nickte: „Ja, ich werde mich von dem Haus fernhalten.“

Er wusste, dass er auf verlorenen Posten stand. Wenn er weiter diskutieren würde, dann käme irgendwann das Elternargument und dagegen hatte ein Kind keine Chance. Wie er es hasste. Nur weil sie seine Eltern waren, hatten sie nicht das Recht gepachtet, dass sie immer wussten, was nun richtig oder falsch war.

Eigentlich war er ja schon fast erwachsen. Eine Hochzeit wurde schon arrangiert. Er hatte seine Eltern mit Nachbarn reden hören, die ihre Töchter anboten. Doch eigentlich hatte Kevin auf diese arrangierten Ehen keine Lust. Er sah seinen Eltern an, dass sie nicht wirklich glücklich waren.

Doch das war ein Thema, mit dem sich Kevin erst nach seiner Erkundungstour beschäftigen wollte, wodurch er sich schließlich erhob und die Wohnstube verließ. Seine Mutter hatte sich schon nach seiner Einwilligung von ihm abgewandt und sich ihren täglichen Arbeiten zugewandt, wodurch sie es wahrscheinlich nicht einmal mitbekam, dass ihr Sohn das Gebäude verließ.

Die Blätter der Bäume um das Dorf herum begannen sich schon zu verfärben und kündigten so den kommenden Herbst an. Kevin mochte diese Jahreszeit. Er atmete die klare Luft tief ein um das reinigende Gefühl zu genießen.

Seine Kleidung war schon ein wenig dicker, um die aufkommende Kälte von seinen Körper fernzuhalten, dennoch kratzte das raue Leinen leicht auf seiner Haut, die diese grobe Behandlung jedoch schon seit seiner Geburt gewöhnt war.

Seine Füße trugen ihn ruhig durch die Straßen des kleinen Dorfes, während um ihn herum schon die Vorbereitungen auf den Winter langsam ihren Anfang fanden. Er war gespannt, wann sein Vater ihn wieder damit nerven würde, dass er ihm dabei zur Hand gehen sollte.

Nein, Kevin half nicht gerne dabei. Er hasste es Holz zu hacken, es zu stapeln und das Vieh winterfest zu machen. Alles lästige Arbeiten, mit denen er sich nicht anfreunden konnte. Dem ungeachtet würde er wahrscheinlich auch dieses Jahr wieder damit belästigt werden und sein Vater würde ihm erneut sagen, dass dies alles nötig war, damit sie den Winter überleben konnten. Was ja durchaus wahr sein mochte, dennoch würde sich Kevin ein anderes Leben wünschen.

Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als er spürte, wie es um ihn herum ruhiger wurde und die Atmosphäre spürbar abkühlte. Und als er seinen Blick hob, erkannte er auch den Grund.

Er stand auf dem Grundstück des Hauses. Noch ein paar Schritte von den Mauern entfernt, dennoch schon auf dem Grund, der normalerweise gemieden wurde, weil er verflucht war.

Flüche. Kevin konnte darüber nur müde lächeln, doch er konnte sich auch nicht dagegen wehren, als er spürte, dass dort etwas nicht so war, wie es bei einem alten verkommenen Haus sein sollte.

„Spinnst du, Junge?!“ Man packte ihn grob am Arm und zog ihn aus der gefährlichen Zone heraus. „Warum gehst du so nah heran? Willst du unbedingt Pech in deinem Leben haben?“

Als er seinen Blick von dem Gemäuer abwandte, sah er in das Gesicht des Bauern, der das nächst gelegenem Haus bewohnte. Wodurch er den Blick demütigt senkte. „Tut mir Leid, ich war wohl zu sehr in meine Gedanken vertieft.“

„Pass das nächste Mal auf. Das könnte auch ins Auge gehen.“ Man tätschelte seine Wange und dann verschwand der ältere Mann auch schon wieder in seiner Hütte, um sich wieder seiner Arbeit zu zuwenden.

Kevin seufzte nur. Sah noch einmal zurück zu dem Haus, bevor er nur kurz lächelte. Verflucht von wegen. Und er würde es allen beweisen. Heute Nacht würde er zu dem Haus gehen und der Frau einen Besuch abstatten. Dann würden sie sehen, dass es totaler Schmarn war, was sie von sich gaben. Dieses Gebäude war ganz normal. So normal wie alles andere hier auch. Kevin war sich dieser Sache sicher und so freute er sich schon darauf, wenn er es den anderen unter die Nase rieb. Und dann würde man ihn endlich ernst nehmen und nicht mehr wie ein Kind behandeln. Dann müssten sie ihn alle respektieren und achten. Er müsste sich nichts mehr sagen lassen. Ja, er würde endlich frei sein. So unendlich frei…

Die Nacht warf ihre Schatten über das Dorf und alle Bewohner schliefen seelenruhig in ihren Betten.

Das war die perfekte Zeit. Kevin schlüpfte durch das Haus. Lauschte den Geräuschen seiner Eltern, die in einem anderen Raum lagen. Fern von ihm. Und das war gut so. Sein Vater schnarchte leise vor sich hin und drehte sich in unregelmäßigen Abständen von einer Seite zur anderen, während seine Mutter schon fast wie tot in dem Bett lag. Nur das leichte Heben und Senken der Brust verriet, dass sie noch am Leben war.

Er hatte noch nie begriffen, wie man es neben so einer Schnarchnase aushalten oder gar nur an Schlaf denken konnte. Manchmal schnarchte sein Vater so laut, dass es Kevin nicht einmal in seinem eigenen Zimmer aushielt. Geschweige denn neben dem Mann zu liegen.

Kevin schauderte kurz und schüttelte sich, bevor er leise weiter huschte und somit nun auf die nur schwach beleuchtete Straße trat. Behutsam schloss er die Tür hinter sich und versuchte so jedes Geräusch zu vermeiden.

Erst als das Schloss mit einem leisen Klicken einrastete, wagte er es wieder normal zu atmen. Das Schwierigste hatte er hiermit geschafft und er war stolz auf sich. Früher wurde er regelmäßig erwischt, wenn er in der Nacht abhauen wollte.

Er konnte sich das Lächeln nicht verkneifen, als er sich mit einem ungewohnten Hochgefühl umdrehte und die Straße zu dem alten Haus entlang schritt. Wenn er an den Gebäuden vorbeiging, hörte er ab und zu gedämpfte Stimmen, doch er konnte nicht wirklich verstehen worüber die Menschen sprachen. Und eigentlich war es ihm ja auch egal. Er hatte andere Pläne und diese wollte er, ohne zu zögern, verwirklichen.

Es fröstelte ihn leicht, als ein kurzer Windstoß kam und ihn daran erinnerte, dass die Welt nun begann abzukühlen, wodurch er sich unwillkürlich tiefer in seine Jacke, die aus einem dicken Wollstoff bestand, kuschelte.

Seine Füße trugen ihn zielstrebig zu dem abgeschotteten Haus und er erreichte es irgendwie schneller als am Mittag zuvor, wodurch er sich nun dem gewaltigen Gemäuer gegenübersah.

Bedrohlich ragte es in den schwarzen Himmel empor und schien damit jeden ungewollten Besucher vertreiben zu wollen. Auch Kevin spürte, wie der Wunsch in ihm erwachte, doch einfach auf dem Absatz kehrt zu machen und wieder nach Hause zurückzugehen.

Doch sein Stolz ließ es nicht zu. Er wollte dem Dorf beweisen, dass keine Bedrohung von diesem Haus ausging und er wollte auch die Frau kennen lernen. Schließlich hatte er sie bis jetzt nur einmal gesehen und zwar an dem Tag ihres Einzuges. Sie hatte das Haus betreten und war nie wieder heraus gekommen.

Der Schrei, der in der darauf folgenden Nacht durch das Dorf hallte, ließ Kevin allein bei der Erinnerung schon das Blut in den Adern gefrieren, doch er schüttelte die Gedanken daran ab und zog noch einmal die Jacke enger um seine Schultern.

Als er dann einen weiteren Schritt auf das Haus zutrat, wurde eine Lichtquelle in einem der Zimmer entzündet und erhellte den Weg, der zwischen ihm und dem Fenster lag, als würde das Haus ihn hereinbitten und sich wünschen, dass er näher trat. Der Lichtschein wirkte wie ein gelber Teppich aus Licht, der nur für Kevin ausgerollt wurde.

Er trat näher heran. Erkannte Schemen in dem hell erleuchteten Zimmer, die es als Wohnstube enttarnten. Er hatte auch das Gefühl, dass auf der Couch ein Mensch lag, doch dieser bewegte sich nicht.

Kevin trennten nur noch zwei Schritte von dem Fenster und er sah nun genug, um seine Vermutungen zu bestätigen. Es war eine Couch, die vor einem Kamin stand und auf ihr lag eine Person, die sich unter einer Decke zusammen gekauert hatte.

Das Feuer tanzte zu einer ihm unbekannten Melodie. Es bewegte sich ungewöhnlich, wodurch es die Aufmerksamkeit von Kevin forderte. Als er näher hinsah, tauchte ein Kopf in dem Feuer auf, der ihn mit seinen Augen fixierte. Es war nicht zu erkennen, ob er einem Mann oder einer Frau gehörte, doch der Blick war stechend und drohend.

Unwillkürlich kam Kevin näher um ihn genauer betrachten zu können. Im nächsten Moment löste sich der Kopf aus den Flammen. Schnellte mit einem Nerven zerreißenden Kreischen auf Kevin zu. Erschrocken wich dieser zurück und stürzte nach hinten, wobei er einen Schrei nicht gänzlich unterdrücken konnte.

Sofort sah er sich um, doch anscheinend war sein Ausrutscher unbemerkt geblieben, wodurch er sich wieder nach oben arbeitete und zurück auf das Feuer, das ihm dieses Mal eine Gänsehaut über den Rücken jagte, sah.

Vielleicht war es doch nicht so gut dieses Gemäuer zu betreten. Kevin spürte, wie er in seiner Entscheidung zu schwanken begann. Das Alles, was gerade passiert war, war irgendwie sehr unheimlich gewesen, wodurch er sich langsam nur noch nach dem sicheren Zuhause sehnte.

„Komm, Kevin. Komm herein. Ich warte auf dich. Und du wolltest mich doch auch besuchen, oder nicht? Also, trau dich. Komm herein.“ Die Stimme hatte keine wirkliche Herkunft. Es wirkte, als wäre sie einfach nur in seinem Kopf erklungen. Dennoch konnte Kevin den Impuls sich umzusehen nicht unterdrücken.

Doch er sah nichts. Er war alleine und auch die Stimme schwieg. Stattdessen wurde die Stille von einem leisen Knarzen durchbrochen und der Junge sah, wie sich die Tür einen Spalt weit öffnete. Fast so als wünschte man es sich wirklich, dass er dieses Haus betrat.

Nur noch ein letztes Mal zögerte er und sah über seine Schulter zurück. Doch er war immer noch alleine und somit begann er einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich so unaufhörlich der Tür zu nähern.

Seine Hand berührte das kalte, alte Holz, als er sie langsam und behutsam öffnete. Schwerfällig knarrte sie unter der Bewegung und gab den Blick auf einen verwahrlosten Flur frei, wobei ihm zeitgleich der Geruch von Staub, Alter und Fäulnis entgegenschlug.

Hier hatte schon lange niemand mehr wirklich gelebt. Es wirkte eher gerade so, als wäre hier jemand beim Auspacken oder Einpacken gestört worden. Denn überall standen Körbe und Kisten herum, die mit Sachen gefüllt waren. Die einen mehr und die anderen weniger. Als hätte man einfach mitten drinnen aufgehört, weil man von irgendetwas unterbrochen wurde. Doch von was?

Kevin verstand es nicht, doch er hatte eigentlich nur ein Ziel. Das Feuer mit dem Kopf und die Person auf dem Diwan. Auch wenn alles in ihm schrie, umzukehren und das Haus zu verlassen, so konnte er nicht mehr. Er war wie verzaubert von dem Gemäuer und trat näher. Hinein in das Licht und den Raum, der von dem Schein des Feuers erhellt wurde.

Da lag sie. Die Decke und darunter…

Kevin konnte es nicht genau zuordnen. Es waren eindeutig die zierlichen Umrisse einer Frau zu erkennen, doch sie wirkte noch lebloser als seine Mutter, wenn sie schlief und der Verwesungsgeruch wurde stärker. Immer stärker desto näher er sich der zugedeckten Frau näherte.

Seine Hand zitterte als er sie nach der Decke ausstreckte. Er spürte den weichen Stoff und wollte gerade zugreifen, als plötzlich eine Bodendiele hinter ihm knarrte. Das Geräusch krallte sich in seinen Nacken und glitt über seinen Rücken bis tief in seine Beine.

Erschrocken drehte er sich um, doch es war schon zu spät. Ein dumpfer Schlag traf seine Schläfe und alles um ihn herum wurde schwarz…

„Er ist weg!“ Panik lag in der Stimme der Frau, als sie zu dem Esstisch eilte, wo ihr Mann saß, der sie nur verwirrt ansah. „Wer ist weg?“

„Kevin! Er liegt nicht in seinem Bett und die Matratze ist schon kalt.“ Sie begann hysterisch zu werden, wobei ihre Stimme damit zu kämpfen hatte, dass sie sich nicht überschlug.

„Was soll schon passieren? Er ist halt früh raus.“ Er zuckte mit den Schultern, doch sie wollte sich nicht beruhigen. Ihre mütterlichen Instinkte verrieten ihr, dass etwas nicht in Ordnung war und als es plötzlich an der Tür klopfte, wurde aus der Vermutung Gewissheit.

„Morgen. Ist bei euch alles in Ordnung? Man hat gestern Nacht einen Schrei gehört.“ Ein Kloß bildete sich in der Kehle von Kevins Mutter, als sie die Worte des Nachbarn hörte, wobei sie ihn mit weit geöffneten Augen ansah. „Nein, Kevin ist weg.“

Die Augen ihres Gegenüber wurden von Schrecken geweitet und im nächsten Moment wandte er sich ab, um davon zustürmen. Sofort brach ein wildes Treiben aus. Er klopfte an jede Tür, um die Dorfbewohner zur Suche zu alarmieren und auch die Eltern streiften mit ihren Nachbarn durch den Wald.

 

Der Name des Jungen schallte bis zu den frühen Abendstunden durch den Wald, doch es kam keine Antwort. Niemand hatte auch nur die geringste Spur von Kevin gefunden. Er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

„Leider konnten wir Kevin nicht finden.“ Der Dorfälteste, ein Mann, der von der Zeit gezeichnet war, mit tiefen Falten im Gesicht und schon weißen, schütteren Haar, sah die beiden Erwachsenen aus dunklen Augen bemitleidend an. „Aber gebt die Hoffnung nicht auf. Vielleicht haben wir ja das ein oder andere übersehen.“

„Dorfältester! Dorfältester! Es ist schrecklich! Einfach grausam!“ Ein aufgebrachter Bürger stürmte auf die kleine Ansammlung zu und blieb dann schwer atmend vor ihnen stehen. „Irgendetwas hat das Wild zerfleischt!“

„Das war bestimmt nur ein Wolf“, winkte der alte Mann ab, doch der Neuankömmling begehrte sofort dagegen auf: „Nein! Es kann kein Wolf sein. Ein Wolf würde seine Beute fressen, aber die Tiere wurden einfach nur zerfleischt. Keine Spuren davon, dass wirklich viel gegessen wurde. Als hätte man sie einfach nur der Grausamkeit willens getötete.“

Die Augen des Dorfoberhauptes wurden schmaler und man erkannte, dass sämtliche Farbe langsam aus seinem Gesicht zu entweichen schien. „Du musst dich irren.“

„Nein, es ist wirklich so. Vielleicht war es ja auch eine Seuche. Wer weiß. Es gibt doch kein Tier, das so grausam ist und nach einem Menschen sah es nicht aus.“ Der Bürger versuchte die von ihm angefachte Panik im Nachhinein ein wenig zu entschärfen.

„Bete zu Gott, dass du Recht behältst. Gut, dann sperrt das Tier erst einmal für eine Weile in die Ställe. Es wäre schlecht, wenn sie sich bei dem Wild anstecken würden“, gab der alte Mann den nächsten Befehl, bevor er sich wieder zu den verzweifelten Eltern wandte: „Keine Sorge. Wir werden morgen weiter nach Kevin suchen. Der Junge wird schon auftauchen. Bis jetzt hat dieser Wald noch niemanden verloren.“

Er versuchte die Angst der Beiden mit einem Lächeln ein wenig zu mildern, doch er erkannte in ihren Augen, dass er dies nicht geschafft hatte. Nur die Rückkehr von Kevin würde dieses Wunder vollbringen können. Vorher würde nichts sie auch nur annähernd beruhigen können. Denn sie hatten ihren einzigen Sohn verloren und nur Gott wusste, ob er jemals wieder lebendig zurückkehren würde. Nur Gott...

Das Holz der Stalltür zerbrach mit einem lauten Krachen und eine gebückte Bestie trat in den Raum dahinter. Die Schafe schrien ängstlich auf und drängten sich so gut es ging in eine Ecke zusammen, während sich ihr Tod mit gemächlichen und langsamen Schritten näherte.

Speichel tropfte ihr aus der Schnauze, als sie sich über die Lefzen leckte. So viel Nahrung. So viel frisches Fleisch. So starker Hunger. Hunger. Musste fressen. Musste zerreißen. Musste zerfleischen. Die Schnauze tief in das blutige Fleisch treiben.

„Hey!“ Eine Stimme stoppte sie mitten in der Bewegung, wodurch sie sich mit einem tiefen Knurren umdrehte und auf den Bauern, der diese Schafe sein Eigen nannte, blickte. Er zitterte leicht, doch versuchte es zu verbergen. Nein, er war keine Gefahr für die Bestie. Niemand war das. Keiner konnte sie aufhalten oder gar ihren Hunger stillen.

„Du wagst es hier einzubrechen. Dir werde ich es zeigen, was es bedeutet sich an meinen Schafen vergreifen zu wollen.“ Er umschloss die Armbrust in seiner Hand fester mit seinen Fingern.

Im nächsten Moment legte er an, zielte und schoss. Der Schmerz war gleißend und tauchte das Sichtfeld der Bestie für einen kurzen Moment in ein grelles Weiß, bevor der Zorn und das Adrenalin durch ihre Adern rauschten.

Ein letztes, tiefes Knurren mit dem sie nach vorne stürmte und sich vor dem Bauern auf zwei Beine stellte, wodurch sie ihn nun um gute zwei Köpfe überragte. Erneut erklang ein Schnalzen. Der Schmerz kehrte zurück, doch er entfachte nur neuen Hass und ließ die Pranken nieder sausen.

Das Blut fühlte sich auf ihrer Haut warm und lebendig an, als es sich verzweifelt durch das räudige Fell schlängelte. Sie sah in die weit aufgerissenen Augen des Bauern, die nur noch durch ein Wunder in dem zerschmetterten Schädel gehalten wurden.

Der ausgerenkte Kiefer ließ das Gesicht als eine groteske Maske erscheinen, wodurch sich die Bestie nur abwandte und den Leichnam fallen ließ. Unwillkürlich riss sie noch ein weiteres Stück aus dem Schädel heraus, weil es sich an ihren Krallen verhakt hatte.

Dieses Stück zerbrach unter ihrem nächsten Schritt mit einem hässlichen Knacken und sie sah auf die Schafe, die wahnsinnig vor Angst durcheinander schrien und kurz davor waren sich gegenseitig niederzutrampeln. Wie sie diese Panik genoss. In ihren Augen. In ihren Schreien.

Niemand würde sie jetzt noch aufhalten. Keiner konnte sie aufhalten. Sie konnte die Angst riechen. Das pulsierende Blut. Die weit aufgerissen Augen und das Blöken in ihre Richtung. All das war für sie so wunderschön.

Ein letztes Mal schleckte sie sich über die Lefzen und sprang dann nach vorne. Packte das erste Schaf, grub ihre Zähne tief in das saftige Fleisch und schlug mit ihren Pranken nach zwei weiteren Schafen, denen sie damit tiefe Wunden zufügte.

Die Panik brach aus. Doch es gab kein Entkommen. Die Bestie wütete. Sie zerriss, zerfleischte und tötete. Warf durch die pure Kraft ihrer Bewegungen ganze Körperteile quer durch die Scheune und färbte den Boden und die Wände in ein tiefes Rot.

Nein, hier gab es kein Entkommen mehr. Nicht für Tier und nicht einmal für den Menschen, der selbst im Tode nicht davor bewahrt war, diese Gräueltaten mit ansehen zu müssen.

Nach einer schieren Ewigkeit war das Werk vollbracht und die Bestie wandte sich ab. Watete durch das Blut, doch ihre Pfoten hinterließen keine Abdrücke. Als würde sie trotz ihrer schieren Masse kein Gewicht besitzen. Schritt an dem toten Bauern vorbei, berührte ihn unabsichtlich leicht mit ihrem Schweif, was ihn zur Seite kippen ließ. Doch sie ging unberührt weiter. Verließ das Dorf, um in den Schatten der Bäume zu verschwinden.

Doch ihr Hunger war noch lange nicht gestillt. Niemand konnte ihn stillen. Er trieb sie weiter. Weiter durch die Welt und sie würde zurückkehren. Bis es nichts mehr zum Holen gab und dann. Ja, dann würde sie weiterziehen. Bis in alle Ewigkeit und immer vom Hunger getrieben, der all ihr Sein ausmachte. In ihrem Leben existierte nur noch er. Dieser niemals endende Hunger, der sich tief in ihre Gedärme fraß und all ihr Denken befiel. Für alle Zeit...

Ein panischer Schrei riss das Dorf am frühen Morgen aus dem Schlaf, als die Frau des Bauern in den Stall kam und das Massaker der letzten Nacht erblickte. In nur wenigen Augenblicken hatten sich alle Anwohner vor dem Schauplatz des Grauens versammelt.

„Mein tiefstes Beileid.“ Das Oberhaupt hatte seine Hand sanft auf die Schulter der jungen Frau gelegt und drückte diese leicht, bevor er sich zu den anderen wandte: „Legt Fallen im Wald aus. Wir müssen das Tier fangen, das dieses Massaker angerichtet hat. Niemand soll mehr zu Schaden kommen.“

Sofort eilten die Bewohner davon und setzten den Befehl in die Tat um, doch es half nichts. Die Fallen blieben leer. Nicht einmal das Wild verfing sich in ihnen, denn es gab in diesen Wald nichts mehr, was atmete. Die einst so frische Luft war erfüllt mit dem Gestank des Todes.

„Was sollen wir tun? Es läuft immer noch da draußen herum.“ Ein Bewohner begehrte bei der Abendversammlung auf, wobei der Dorfälteste nur den Kopf schüttelte. „Vielleicht ist es schon weg. Nachdem es hier keine Nahrung mehr gefunden hat, ist es vielleicht weiter gezogen.“

Ängstliche Blicke wurden ausgetauscht. Niemand konnte diese Worte so wirklich glauben, dennoch zwangen sich die meisten dazu und verschwanden schließlich mit einem Nicken in ihren Häusern. Sie hatten keine andere Wahl. Zwar dachten es alle, aber keine traute es sich dies auszusprechen. Die Angst vor einer Eskalation war zu groß. Sie mussten sich an diesen winzigen Halm der Hoffnung klammern. Es war ihre einzige Chance hier zu bleiben.

„Hoffentlich ist es weiter gezogen.“ Der Mann schien um Jahre gealtert zu sein, als er sich auf seinen Gehstock stützte und seine Augen erschöpft schloss. Er war nicht fähig sein Dorf zu schützen, wenn die Bestie immer noch in der Nähe war. Diese Kraft, die er in dieser Scheune erblickt hatte, konnte von niemand hier gebändigt werden.

Langsam wandte auch er sich ab, um sich schlafen zu legen, doch die Nacht sollte nicht ruhig bleiben. Denn die Stille wurde aufs Neue von dem Krachen einer Scheunentür durchdrungen und dann hörte man nur noch die Schreie der Tiere. Voller Verzweiflung und Todesangst. Sie wünschten sich ihnen zu entkommen, aber sie schafften es nicht. Nicht allein.