Leitfaden der Rechtsgeschichte

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Erste Rechtssammlungen

32. Anlass

Die Kaiserkonstitutionen wurden nicht amtlich verbreitet, sondern allein in kaiserlichen Archiven verwahrt. Damit war die Kenntnisnahme durch Richter und Anwälte nicht gesichert. Auch bei den Juristenschriften wurde nicht für eine allgemeine Verbreitung gesorgt, obwohl sie als Rechtsquellen galten (s. Rn. 38). Dieser Zustand führte zum Bedürfnis nach offiziellen Zusammenstellungen. Der oströmische Kaiser Theodosius ließ eine Auswahl von Kaiserkonstitutionen erstellen, die 438 n. Chr. im Osten und ein Jahr später auch im Westen als Gesetz verkündet wurde (Codex Theodosianus). In der westlichen Reichshälfte fanden zudem Aufzeichnungen des römischen Rechts – in Gestalt des Vulgarrechts (s. Rn. 26) – nach dem Untergang des Weströmischen Reichs statt. Sie wurden von Herrschern germanischer Stämme veranlasst, die auf vormals römischen Gebieten siedelten (s. Rn. 63). Ausschlaggebend für diese Aufzeichnungen war die Ansicht, dass Römer auch unter germanischer Herrschaft einen Anspruch auf eine Beurteilung ihrer Rechtsfälle nach römischem Recht hatten.

Corpus iuris civilis

33. Digesten (Pandekten), Institutionen, Codex

Im 6. Jahrhundert n. Chr. initiierte der oströmische Kaiser Justinian weitere Sammlungen des römischen Rechts. Er setzte eine Kommission ein, deren Mitglieder auch als „Kompilatoren“ bezeichnet werden, da sie den Auftrag hatten, Kaiserkonstitutionen und Publikationen von Juristen durchzuarbeiten und wichtig erscheinende Texte auszuwählen (compilare: ausplündern, ausbeuten). Nach einer ersten Durchsicht von Kaiserkonstitutionen legte die Kommission eine Sammlung von Auszügen aus Juristenschriften vor, die im Jahr 533 n. Chr. mit Gesetzeskraft publiziert wurde. Sie erhielt den lateinischen Titel „Digesten“ (digerere: ordnen, zusammenstellen). In der im Osten damals gebräuchlichen griechischen Sprache wurden die Digesten als „Pandekten“ (alles umfassend) bezeichnet. Kurz zuvor war zudem die Arbeit an einem Anfängerlehrbuch für den Rechtsunterricht, den sog. Institutionen, abgeschlossen worden. Da Justinian etliche Zweifelsfragen, die während der Rechtsaufzeichnungen aufgetreten waren, durch Konstitutionen geregelt hatte, entstand Bedarf an einer neuen Sammlung von kaiserlichen Rechtsetzungen. Deren Publikation erfolgte im Jahr 534 n. Chr. unter dem Titel „Codex“ (Buch). Die heute geläufige zusammenfassende Bezeichnung „Corpus iuris civilis“ für Institutionen, Digesten/Pandekten und Codex wurde erst im 16. Jahrhundert geprägt, als nach der Erfindung des Buchdrucks die ersten gedruckten Ausgaben erschienen, die alle drei Teile umfassten (s. Rn. 201). Für Kaiserkonstitutionen, die nach 534 ergingen, erfolgten keine amtlichen, sondern nur noch private Sammlungen (Novellen).

Begriffliches: Der Titel Codex steht sprachlich in engem Zusammenhang mit dem Begriff der Kodifikation. Weder die Sammlung der Kaisergesetze noch das gesamte Corpus iuris civilis entsprechen jedoch dem modernen Kodifikationsverständnis (s. Rn. 208). Allgemeine Regeln, die aus heutiger Sicht ein zentrales Merkmal von Kodifikationen darstellen, finden sich darin nur selten. Das Corpus iuris civilis enthält vielmehr, insbesondere in den Digesten und im Codex, größtenteils Entscheidungen von Einzelfällen. Außerdem ist es nicht primär nach Rechtsmaterien, sondern nach Arten von Rechtsquellen gegliedert.

Justinian setzte jeden Teil des Corpus iuris civilis mit einer kaiserlichen Konstitution in Kraft, in welcher er sich auch zum Ablauf der Arbeiten und deren Bedeutung äußerte. Dabei betonte er, dass das Werk keine inhaltlichen Widersprüche enthalte. Außerdem wurde klargestellt, dass allen Teilen – auch dem Anfängerlehrbuch – exklusive Geltungskraft zukomme und damit ein Rückgriff auf andere Gesetze bzw. Juristenäußerungen verboten sei. Bei neu auftretenden Rechtsfragen sollte ein kaiserliches Gutachten eingeholt werden. Hinter dieser Bestimmung stand der Anspruch des Kaisers, dass ihm allein die Befugnis zur Rechtsetzung zukomme.

Corpus iuris civilis, Digesten, Constitutio Tanta (Konstitution Justinians vom 16. Dezember 533):

Erat enim mirabile Romanam sanctionem ab urbe condita usque ad nostri imperii tempora, quae paene in mille et quadringentos annos concurrunt, intestinis proeliis vacillantem hocque et in imperiales constitutiones extendentem in unam reducere consonantiam, ut nihil neque contrarium (…) in ea inveniatur (…).

15. Contrarium autem aliquid in hoc codice positum nullum sibi locum vindicabit nec invenitur, si quis suptili animo diversitatis rationes excutiet (…). 18. (…) non desperamus quaedam postea emergi negotia, quae adhuc legum laqueis non sunt innodata. Si quid igitur tale contigerit, Augustum imploretur remedium, quia ideo imperialem fortunam rebus humanis deus praeposuit, ut possit omnia quae noviter contingunt et emendare et componere et modis et regulis competentibus tradere.

19. Hasce itaque leges et adorate et observate omnibus antiquioribus quiescentibus.

Es war nämlich eine staunenswerte Tat, die römische Rechtsordnung, die von der Gründung der Stadt Rom bis zu den Tagen Unserer Herrschaft, also in einem Zeitraum von fast eintausendvierhundert Jahren, unter schweren inneren Auseinandersetzungen hin und her schwankte und dies auch auf die kaiserlichen Konstitutionen übertrug, in volle Harmonie zu überführen, so dass in ihr nichts mehr zu finden ist, was sich widerspricht (…). 15. Einander widersprechende Rechtssätze können aber in diesem Gesetzbuch keinen Raum beanspruchen, und man wird sie auch nicht finden, sobald man mit scharfem Verstand die Gründe für den Unterschied gehörig prüft.

18. (…) rechnen wir fest damit, dass späterhin neuartige Rechtsgeschäfte auftauchen werden, die noch nicht festgeknüpften rechtlichen Bindungen unterworfen sind. Wenn daher irgend etwas derartiges geschehen sollte, ist ein kaiserliches Rechtsmittel zu erbitten, weil Gott das hohe kaiserliche Amt zu dem Zweck über die menschlichen Verhältnisse gesetzt hat, dass es alles, was neu entsteht, verbessern, befrieden und angemessenen Formen und Regeln übergeben kann.

19. Diese Gesetze also sollt ihr verehren und befolgen, während alles ältere Recht zu verstummen hat.

2.1.3.Edikte der Magistrate

34. Amtsrecht

Die Magistrate (s. Rn. 22) hatten die Befugnis, im Rahmen ihrer Amtsgewalt Bekanntmachungen (sog. Edikte) zu publizieren. Für die Rechtsgestaltung waren vor allem die Edikte der Prätoren bedeutsam, zu deren Aufgaben Rechtsprechungsfunktionen zählten (s. Rn. 53). Die prätorischen Edikte enthielten vor allem die Ankündigung, welchen zivilrechtlichen Forderungen der Amtsinhaber Rechtsschutz gewähren werde. Damit bestimmten sie den Kreis zulässiger Ansprüche bzw. Klagen, für die auch Musterformeln angegeben wurden (Beispiel s. Rn. 54). Infolgedessen kam ihnen Rechtscharakter zu (ius honorarium: Amtsrecht).

35. Verhältnis zu anderen Rechtsquellen

Jeder Prätor gab zu Beginn seiner jährlichen Amtszeit ein neues Edikt heraus. Wenn dabei auch teilweise auf bewährte Regelungen aus früheren Edikten zurückgegriffen wurde, eröffnete die periodische Erneuerung doch die Gelegenheit, auf veränderte Umstände zu reagieren. Neue Ansprüche konnten aufgenommen und veraltete ausgeschieden werden. Bei der Abfassung des Edikts wurden die Prätoren, die regelmäßig keine juristischen Fachkenntnisse besaßen, von Rechtswissenschaftlern beraten. Das prätorische Amtsrecht ergänzte in der Regel die Gesetze und das Juristenrecht. Es konnte jedoch auch inhaltliche Veränderungen mit sich bringen:

Corpus iuris civilis, Digesten 1, 1, 7 (aus einem Werk des Juristen Pomponius):

1. Ius praetorium est, quod praetores introduxerunt adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia propter utilitatem publicam.

1. Prätorisches Recht ist das Recht, das die Prätoren im öffentlichen Interesse eingeführt haben, um das Zivilrecht zu unterstützen, zu ergänzen oder zu verbessern.

2.1.4.Rechtswissenschaft

36. Zivilrechtswissenschaft

Zunächst hatten Kenntnis und Interpretation des Rechts in der Hand der Priester gelegen. Im 3. Jahrhundert v. Chr. wurde die Rechtskunde allgemein zugänglich und es erschienen erste juristische Werke. Als wichtigste Phase der römischen Rechtswissenschaft (klassische Periode) gilt die Zeit des Prinzipats (1. Jahrhundert v. Chr. bis 3. Jahrhundert n. Chr.). Thematisch stand dabei das Zivilrecht im Zentrum.

Begriffliches: Dies spiegelt auch die Bezeichnung „Corpus iuris civilis“ (s. Rn. 33) wider, die wörtlich übersetzt „Werk des Zivilrechts“ bedeutet. Der Ausdruck Zivilrecht kennzeichnet dabei denjenigen Rechtsbereich, bei dem es um Rechte von bzw. Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen geht. Damit erfolgt eine Abgrenzung zu dem Rechtsbereich, der den Staat betrifft (ius publicum: öffentliches Recht). An Stelle des Begriffs „Zivilrecht“ wird heute meist gleichbedeutend auch der Terminus Privatrecht verwendet. Im 19. Jahrhundert war zudem der Ausdruck Bürgerliches Recht gebräuchlich (vgl. etwa den Gesetzestitel „Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch“ in Österreich 1812). Diese Bezeichnung stellt eine wörtliche Übersetzung von „ius civile“ dar (civis: „Bürger“). Allerdings wurde der Ausdruck „ius civile“ im römischen Recht auch noch in einem engen Sinn verwendet, wobei er nur das Recht derjenigen Personen bezeichnete, die das römische Bürgerrecht hatten (s. Rn. 44).

 

37. Literaturtypen

Verfasser juristischer Publikationen waren häufig in der Praxis tätig. Etliche hatten leitende Stellen in der Staatsverwaltung inne oder fungierten als Berater etwa des Herrschers oder der Prätoren. Ein wichtiges Betätigungsfeld bildete zudem die Erteilung von Gutachten im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten. Diese Gutachten wurden teilweise publiziert. Daneben verfassten Juristen vor allem Gesamtdarstellungen des Zivilrechts sowie Kommentare, die entweder einzelne Gesetze, das Edikt des Prätors oder Bücher anderer Juristen erläuterten. Auch in derartigen Werken stand die Lösung von – praktischen oder erdachten – Einzelfällen im Zentrum. Etwa seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. widmeten sich Rechtswissenschaftler zudem der Ausarbeitung von Anfängerlehrbüchern für den Rechtsunterricht.

Die Anfängerlehrbücher (sog. Institutionen) deuten auf eine Veränderung bei der Juristenausbildung hin. Zunächst hatte der Rechtsunterricht im privaten Rahmen stattgefunden, wobei Schüler die Gutachten ihres Lehrers anhörten und erörterten. Rechtsschulen gab es nur im Sinne der Anhängerschaft zu einem bestimmten Juristen und dessen Lehren. Demgegenüber wurden in der späten Kaiserzeit staatliche Rechtsschulen gegründet. Solche Schulen gab es vor allem in Berytos (Beirut) und Konstantinopel. Deren Professoren waren auch an der Ausarbeitung des Corpus iuris civilis beteiligt.

38. Juristenrecht

Den Juristenschriften kam eine besondere Bedeutung zu. Anders als die heutige rechtswissenschaftliche Literatur galten sie als Rechtsquelle. Rechtswissenschaftliche Werke wurden als geltendes Recht angesehen und konnten daher als Grundlage für die Entscheidung eines Rechtsstreits dienen. Die Juristen legten somit nicht nur bestehendes Recht aus, sondern ihnen wurde auch die Kompetenz zuerkannt, Rechtssätze zu schaffen. Ein solches Juristenrecht gründete sich auf die Autorität der Rechtswissenschaftler. Besondere Bedeutung erlangten die Ansichten derjenigen Juristen, die vom Kaiser die Befugnis erhalten hatten, Gutachten mit kaiserlicher Autorität zu erteilen (sog. ius respondendi: Recht zur Gutachtenerteilung). Dieses Privileg wurde als Ermächtigung zur Rechtsfortbildung interpretiert:

Corpus iuris civilis, Institutionen 1, 2, 8:

Responsa prudentium sunt sententiae et opiniones eorum, quibus permissum erat iura condere. (…) Quorum omnium sententiae et opiniones eam auctoritatem tenent, ut iudici recedere a responso eorum non liceat, ut est constitutum.

Gutachten der Rechtsgelehrten sind die Auffassungen und Meinungen der Juristen, denen gestattet war, das Recht fortzubilden. (…) Ihrer aller Auffassungen und Meinungen haben einen solchen Rang, dass der Richter, wie durch eine Konstitution bestimmt ist, von ihren Gutachten nicht abweichen darf.

Der Rechtsquellencharakter der Juristenschriften führte zunehmend zu Rechtsunsicherheiten. Dazu trug neben dem Fehlen einer amtlichen Überlieferung auch der Umstand bei, dass die einzelnen Juristen in ihren Werken teilweise unterschiedliche Ansichten zu derselben Rechtsfrage äußerten. Im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. erließen die Kaiser daher Gesetze, wonach nur noch bestimmte rechtswissenschaftliche Publikationen von den Gerichten berücksichtigt werden durften (sog. Zitiergesetze). Außerdem wurde festgelegt, dass bei Meinungsverschiedenheiten die Ansicht der Mehrheit ausschlaggebend sein sollte.

Ab Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. verloren die Juristenschriften an Bedeutung, da Rechtsfortbildungen seitdem primär durch Entscheidungen der Kaiser erfolgten. Außerdem ging in der Rechtswissenschaft, wie in den kaiserlichen Rechtsetzungen, zunehmend das Verständnis für Begrifflichkeiten und Differenzierungen der klassischen Zeit verloren und Publikationen waren durch vulgarrechtliche Tendenzen (s. Rn. 26) gekennzeichnet.

39. Überlieferung

Die rechtswissenschaftlichen Werke der römischen Juristen sind nur bruchstückhaft überliefert. Zentrale Quelle für die heutige Kenntnis sind die Digesten, welche Auszüge aus Juristenschriften enthalten. Allerdings entsprechen die Texte nicht immer dem Originalwortlaut, wie die Beschreibung der Arbeitsweise der Kompilatoren (s. Rn. 33) deutlich macht:

Corpus iuris civilis, Digesten, Constitutio Tanta (Konstitution Justinians vom 16. Dezember 533):

1. (…) Postea vero maximum opus adgredientes ipsa vetustatis studiosissima opera iam paene confusa et dissoluta eidem viro excelso permisimus tam colligere quam certo moderamini tradere. Sed cum omnia percontabamur, a praefato viro excelso suggestum est duo paene milia librorum esse conscripta et plus quam trecenties decem milia versuum a veteribus effusa, quae necesse esset omnia et legere et perscrutari et ex his si quid optimum fuisset eligere. (…)

10. (…) Hoc tantummodo a nobis effecto, ut, si quid in legibus eorum vel supervacuum vel inperfectum vel minus idoneum visum est, vel adiectionem vel deminutionem necessariam accipiat et rectissimis tradatur regulis.

1. Dann haben Wir das eigentlich große Werk in Angriff genommen und demselben unvergleichlichen Mann [Tribonian, Vorsitzender der Gesetzgebungskommission] die Aufgabe anvertraut, auch die höchst gelehrten rechtswissenschaftlichen Werke der Vergangenheit, die schon fast ganz in Wirrnis und Auflösung geraten waren, zu sammeln und einer bestimmten Ordnung zu unterwerfen. Als wir uns aber nach allen Einzelheiten erkundigten, bedeutete uns der erwähnte unvergleichliche Mann, dass die Rechtsliteratur fast zweitausend Bücher umfasse und von den alten Juristen insgesamt mehr als drei Millionen Zeilen verfasst worden seien; es sei vonnöten, diese alle zu lesen und auch zu prüfen und aus ihnen auszuwählen, was sich als das Beste erweise.

10. Lediglich eines ist von uns bewirkt worden: Erschien in ihren Rechtssätzen [der Rechtsgelehrten] etwas überflüssig oder unvollkommen oder weniger brauchbar, so wurden diese in der erforderlichen Weise ergänzt oder gekürzt und in die sachgerechteste Form gebracht.

Die Digesten geben zu Beginn jeder Passage den Namen des Autors sowie den Titel desjenigen Werks an, aus dem der Text entnommen wurde. Der größte Teil stammt aus Publikationen von den Juristen Ulpian und Paulus. Beide waren gegen Ende der klassischen Periode (3. Jahrhundert n. Chr.) bestrebt, eine Übersicht über den umfangreichen Rechtsstoff zu geben.

Nur ganz wenige Werke sind außerhalb des Corpus iuris civilis überliefert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Justinian den Digesten Gesetzeskraft verlieh und einen Rückgriff auf die Quellen und somit auch auf die Originale der Juristenschriften untersagte (s. Rn. 33). Diese verloren infolgedessen ihre praktische Bedeutung. Daher wurden keine Abschriften mehr angefertigt und noch existierende Bücher teilweise mit anderen Texten überschrieben. Im 19. Jahrhundert gelang es, unter einem anderen Text das Anfängerlehrbuch eines Juristen namens Gaius sichtbar werden zu lassen (Institutionen des Gaius, Beispiel s. Rn. 54). Dieses Buch ist von dem gleichnamigen Teil des Corpus iuris civilis zu unterscheiden (der Titel beruhte jeweils auf dem Begriff „institutio“: Unterricht). Die Institutionen des Gaius enthalten wichtige Informationen über ältere Rechtszustände, die im Corpus iuris civilis nicht mehr erwähnt werden, weil sie im 6. Jahrhundert n. Chr. als überholt galten.

2.2.Rechtsordnung
2.2.1.Grundzüge

40. Prozessuale Perspektive

Im Zentrum der römischen Rechtsordnung stand die gerichtliche Rechtsdurchsetzung. Schon im Zwölftafelgesetz bildete das Gerichtsverfahren ein wichtiges Thema. Die erste Tafel verpflichtete vermutlich gleich zu Beginn jede Person, vor Gericht zu erscheinen, wenn gegen sie eine Klage erhoben wurde. Auch in späteren Zeiten war insbesondere das Privatrecht durch eine prozessuale Perspektive geprägt. Die Edikte der Prätoren (s. Rn. 34) dokumentieren, dass keine strikte Trennung zwischen dem materiellen Zivilrecht und dem Prozessrecht erfolgte. Vielmehr erfuhren materiell-rechtliche Ansprüche in den Edikten eine Regelung unter dem Gesichtspunkt der Klagemöglichkeit.

41. Tendenzen

Der prozessualen Sichtweise entsprach es, dass in den Juristenschriften die Lösung von Einzelfällen im Vordergrund stand. Bei deren Beurteilungen lassen sich gewisse leitende Tendenzen ausmachen, die von den römischen Juristen allerdings nicht in Gestalt von Grundsätzen formuliert wurden. Als eine Tendenz kann festgehalten werden, dass Privatpersonen viel Freiraum bei der Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen erhielten. Allerdings kam dieser Freiraum nur einer sehr kleinen Personengruppe zu, nämlich allein freien Männern, welche die Stellung eines Familienoberhaupts (pater familias) hatten. Außerdem schränkten Konstitutionen der späten Kaiserzeit die Gestaltungsmöglichkeiten erheblich ein.

2.2.2.Private Rechtsgestaltung
2.2.2.1.Gestaltungsfähige Personen

42. Sklaven

Etliche Personengruppen konnten ihre Rechtsbeziehungen gar nicht oder nicht vollständig selbst regeln. Sklaven standen im Eigentum ihres Herrn. Sie wurden wie Sachen behandelt. Alles, was ein Sklave erwarb, ging – wie heute bei der Stellvertretung – automatisch in das Eigentum seines Herrn über.

43. Kinder und Frauen

Eheliche Kinder waren in ihren Verfügungen durch die Gewalt ihres Vaters (patria potestas) beschränkt. Diese hatte zur Folge, dass Kinder nicht für sich selbst Rechte und Pflichten begründen konnten. Anders als heute endete eine solche Geschäftsunfähigkeit nicht mit einem bestimmten Alter, sondern dauerte grundsätzlich so lange an, wie der Vater lebte.

Auch Frauen konnten nicht selbständig ihre Rechtsbeziehungen gestalten. Sie standen in der Gewalt entweder ihres Vaters oder ihres Ehemanns. Unverheiratete Frauen, deren Vater nicht mehr lebte, benötigten für den Abschluss von Rechtsgeschäften die Zustimmung eines Vormunds. Als Begründung wurde der Schutz vor nachteiligen Geschäften angeführt. Die Zustimmung scheint allerdings im Laufe der Zeit eine reine Formsache geworden zu sein, die sogar erzwungen werden konnte.

44. Bedeutung des Bürgerrechts

Für die Rechtsstellung einer Person spielte zum Teil auch das Bürgerrecht eine Rolle. So gab es Rechtsregeln und Rechtsgeschäfte, die nur für Römer galten (ius civile, wobei der Begriff „civile“ bzw. „civis“ hier eng zu verstehen ist und sich nur auf Inhaber des römischen Bürgerrechts bezieht, s. Rn. 36). Nichtrömer (peregrini: Fremde) wurden grundsätzlich nach dem Recht ihres Herkunftslandes beurteilt (s. Rn. 32). Für Rechtsbeziehungen zwischen Römern und Fremden war das „Völkerrecht“ (ius gentium) maßgebend. Darunter verstand man Regeln, die für alle Menschen – unabhängig von ihrem Bürgerrecht – galten.