Im Knast

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Als ich aufwachte, war es schon wieder dunkel. Die Lichter vorbeifahrender Autos zuckten durch das Zimmer. Ich fühlte mich vollkommen frisch. Die Schwäche war vorbei, und ich spürte wieder grossen Hunger. Sofort sprang ich aus dem Bett und rauschte, mit unbändiger Energie geladen, ins Bad. Nun war ich mit meinem Spiegelbild schon viel zufriedener. Ich zwinkerte mir zu, riss mir die Kleider vom Leib und trat unter die Dusche. Das alte Leben verschwand im Ablauf. Den Kratzern am Hals half ich mit dicker Schminke ab.

Adrett gekleidet ging ich in die Nacht hinaus, stieg in den Bus und fuhr ins Zentrum. Die Menschen schienen mir jetzt alle zugetan. Es entspann sich sogar das erste ­Ge­spräch seit Langem mit einem hübschen Mädchen. Ich packte die Gelegenheit und lud sie zum Abendessen ein. An einem anderen Tag hätte ich sicherlich keinen Erfolg gehabt, aber jetzt konnte sie mir nicht widerstehen. Nach anfänglichem Zaudern überzeugte ich sie mit einem tiefen Blick in ihre Augen und einem unschuldigen Lächeln. So verbrachten wir einen schönen Abend. Ich begleitete sie nach Hause und wurde mit einem flüchtigen Kuss belohnt.

Langsam machte ich mich auf den Rückweg. Ich sog die kühle Nachtluft der Stadt ein, sie weckte alte Erinnerungen in mir. Lange waren meine Gedanken nur um das Eine gekreist, aber jetzt kamen die schönen Erinnerungen wieder. Und doch haftete allem etwas Unbestimmtes an, etwas Störendes.

Und plötzlich durchfuhr es mich. Noch ein Opfer, noch ein Mord. Das darfst du nicht tun. Du musst ihn da herausholen. Er ist unschuldig und schmachtet an deiner Stelle hinter Gittern. Du hast schon einen Menschen auf dem Gewissen, noch einer wird dich endgültig aus dem Kreis der Normalsterblichen werfen. Hol ihn heraus!

Aber wie?

Stell dich der Polizei! Das ist der einzige Weg.

Ich sah jetzt deutlich das Gesicht des Unschuldigen vor mir. Ich sah ihn in seiner Zelle vor sich hin weinen.

Abrupt blieb ich stehen, überlegte, wo der nächste Polizeiposten war, und marschierte fest entschlossen in die nächstgelegene Wache.

Ich trat ein und schritt direkt zum ersten Polizisten: Ich war es. Lasst den Unschuldigen laufen!

Der Polizist sah mich verständnislos an. Plötzlich stiegen erneut Zweifel in mir hoch. Sollte ich mich wirklich stellen? Vielleicht war es Schicksal, dass sie den Falschen er­wischt hatten? Er würde sicher bald entlassen. Man konnte doch keinen Unschuldigen verurteilen? Wieder sah ich das Bild meines zweiten Opfers in der Zelle.

Nein!, entfuhr es mir.

Der Polizist war inzwischen misstrauisch geworden: Kann ich Ihnen helfen? Geht es Ihnen nicht gut? Was ist denn vorgefallen?

Ich kam wieder zu mir. Ich besann mich einen Augenblick, schluckte, und dann brach die ganze Geschichte aus mir heraus. Der Polizist hob einige Male die Hand, um mich zu unterbrechen, aber ich war nicht mehr zu bremsen, es war, als sei ich auf der Flucht vor meinem bisherigen Schweigen.

Mit der Zeit begriff der Polizist, worum es ging, und nach anfänglichem Unglauben stellte er die üblichen Zwischenfragen, die jedoch alle unbeantwortet blieben, so sehr hatte ich mich in meine Geschichte vertieft. Die Szenen spielten sich lebendig vor meinem geistigen Auge ab, und zuletzt sackte ich wie mein Opfer beim letzten Messerstich zusammen.

Paradies

«Pairidaeza», altpersisch:

daeza steht für Mauer, pairi für

rundherum

1

Als ich wieder zu mir kam, glaubte ich mich in einer gleis­senden weissen Wolke. Nur langsam bekamen die Gegenstände ihre Konturen zurück, dann fielen mir die Gitter am Fenster auf. Ich wollte mich aufrappeln, obwohl ich eigentlich gar keine Lust dazu hatte.

Das Zimmer war komplett weiss gestrichen. Ich war al­lein. In die rechte Wand war dickes Milchglas eingelassen, dahinter nahm ich Bewegungen wahr. Dann hörte ich, wie sich die Tür öffnete. Ich wollte mich umdrehen, konnte mich aber auch dazu nicht durchringen.

Es erschien ein kleiner, rundlicher Pfleger und begrüsste mich freundlich: Guten Tag, der Herr. Mein Name ist Lo­pez. Wie fühlt man sich denn heute?

Ich begriff erst nicht, dass ich antworten sollte, aber schliesslich nickte ich ins erwartungsvolle Lächeln des Mannes.

Noch immer keine Energie für irgendetwas, verspürte ich Lust, alles über mich ergehen lassen. Ich hatte mich den Behörden gestellt, ich würde jetzt Jahre hinter Gittern verbringen. Aber all das vermochte mich nicht aus der Ruhe zu bringen.

Der Pfleger drückte mir für eine Sekunde ein Thermometer ins Ohr und sagte, ich hätte kein Fieber mehr. Dann verschwand er wieder.

Nach ein paar Minuten kehrte er mit einem ernst blickenden Herrn zurück; das war wohl der Doktor. Auch er begrüsste mich freundlich, stellte sich als Dr. Jucker vor und fing an, etwas auf einen Block zu kritzeln. Zwischendurch stellte er gezielte Fragen und nickte immer wieder, als habe er meine Antworten erwartet. Sie erklärten mir kurz, wo ich mich befand und dass mich heute der Untersuchungsrichter besuchen würde. Da ich nicht glaubte, eine Wahl zu haben, nahm ich es schweigend zur Kenntnis. Dann traten sie wieder ab.

Bald darauf wurde mir ein Tablett mit verschiedenen kleinen Happen und besonders viel Tee serviert, eine ganze Kanne voll. Der kleine Pfleger riet mir, vor allem viel zu trinken, das werde helfen, schnell wieder zu Kräften zu kommen, die würde ich wohl jetzt brauchen. Ich verstand nicht ganz wozu, aber lange bitten musste man mich ohne­hin nicht. Ich verschlang alles in kurzer Zeit, der kleine Mann war darüber sichtlich erfreut. Den Tee hatte ich mir zum Schluss aufgespart und spülte ihn gleich aus der Kanne hinunter. Dann sank ich zurück aufs Bett und in die wohlige Apathie von vorhin. Das Essen wurde abgeräumt, das Bett zurechtgerückt; so konnte ich es den Rest meines Lebens aushalten. Ich schlief ein.

Als ich geweckt wurde, sah ich mich von einer Menschengruppe umringt, das Bett hatten sie in die Mitte des Zimmers gerückt.

Die obligate Frage nach dem Befinden beantwortete ich mit gut. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es jemanden interessierte, mein übler Zustand musste ja für jeden offensichtlich sein. Dass es sich um eine Einvernahme handelte, hatte ich mitbekommen, aber die Frage, wie man ei­nen Verdächtigen im Krankenbett befragen konnte, lenkte mich eine ganze Weile ab und beeinträchtigte meine ohne­hin dürftige Konzentration. Auch konnte ich die Personen anfangs nicht richtig unterscheiden, und die Fragen schienen von allen Seiten zu kommen, was mich noch mehr verwirrte.

Ich wollte alles so schnell wie möglich hinter mich bringen und antwortete, so gut es ging und ohne viel zu überlegen, fast mechanisch. Doch sie gaben sich nicht zu­frieden und stellten immer wieder dieselben Fragen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, und als es vorbei war, wusste ich doch nicht, ob sie mich nur einige Minuten lang befragt hatten oder Stunden. Am Ende musste ich einen Haufen Papiere durchlesen und einzeln signieren, die letzte Seite mit der vollen Unterschrift. Ich überflog die Zeilen, ohne den Sinn zu erfassen, danach konnte ich gar nicht sagen, was ich da eigentlich unterzeichnet hatte – es hätte ebenso gut eine Kriegserklärung sein können. Mein medikamentöser Gleichmut würde sich als grosser Fehler entpuppen, am besten hätte ich in meinem Zustand überhaupt nichts gesagt.

Dann wurde mir ein lauwarmes Abendessen gereicht, und irgendwann ging das Licht aus. Lange lag ich im Dunkeln und grübelte, ohne dass meine Gedanken einen Sinn ergaben.

Schon am nächsten Tag brachte mir ein unsympathischer, grobschlächtiger Kerl meine gewaschenen Kleider und drängte mich zur Eile.

Los, wir brauchen das Bett für den nächsten Kranken!

Wohin soll ich? Gehe ich nach Hause?, fragte ich in meiner Verwirrtheit.

Der grosse Kerl spuckte nur ein Ha! aus und verschränk­te kopfschüttelnd die Arme. Er verzog sein Gesicht zu ei­nem spöttischen Lächeln. Ich war unschlüssig, ob ich dem Kerl nicht mal kurz die Leviten lesen sollte, doch ich hielt es für klüger, mich der Situation widerstandslos zu ergeben.

Ich verstand zwar, dass ich mich anziehen sollte, wusste aber nicht wo, denn es gab im Zimmer nicht einmal eine abgetrennte Nische, geschweige denn eine Garderobe, ­sogar die Toilette befand sich gut einsehbar in einer Ecke. Der Kerl hatte wohl meine Verlegenheit bemerkt und höhnte: Na, was ist? Keine falsche Scham, hopp, hopp, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!

Hier?, fragte ich kläglich. Aber mit gesenktem Kopf hatte ich schon begonnen, die Hose anzuziehen.

Na, zier dich nicht, spottete der Kerl weiter und lachte.

Jetzt reichte es mir. Ich richtete mich auf, das Krankenhemd fiel herunter, die Hose auf meine Fussgelenke. Ich verschränkte die Arme auf meinem Rücken und sah ihn todernst an. Ich musste lächerlich wirken, wie ich so halbnackt dastand, trotzdem wich der Pfleger unwillkürlich zwei, drei Schritte zurück und tastete nach dem Türgriff. Er griff ein paarmal in die Luft, dann wurde die Tür von aussen aufgerissen, und vier Polizisten stürzten herein. Einer packte den verängstigten Pfleger am Kragen und wuchtete ihn hinaus. Die drei anderen überrannten mich, und ich schlug rücklings auf den Boden. Sie drehten mich herum, ich spürte ein Knie im Nacken, während mir jemand die Arme hinter dem Rücken verrenkte und Handschellen anlegte. Auch an den Füssen spürte ich zwei Eisen.

Ganz ruhig!, zischte mir der Polizist über meinem Kopf ins Ohr, indem er sich vorbeugte und mir das Knie noch tiefer in den Nacken presste.

Ich entspannte mich, so gut es ging, um mein Einlenken anzudeuten. Die routinierten Gesetzeshüter spürten das sofort und rissen mich auf die Füsse. Die kleine Schwebeübung machte mir meine vollkommene Machtlosigkeit bewusst, und jeglicher Widerstandswille entwich aus mir. Noch bevor ich das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, hängten sich zwei bullige Uniformierte bei mir ein und schleppten mich durch die Tür und den Gang hinunter. Im Gang sah ich auch den Pfleger wieder, der mich herausfordernd angesehen hatte, neben ihm stand der vierte Polizist. In den Unterhosen und der Hose um die Fussgelenke bot ich eine belustigende Abwechslung im Krankenhaus, überall traten Kranke und Pflegepersonal aus den Türen.

 

Durch eine Schwenktür ging es ins Treppenhaus, dann polterten sie drei Stockwerke in die Tiefgarage hinab, obwohl es mit dem Lift sicherlich bequemer und schneller gegangen wäre. Weil ich nicht gehen konnte, schlug ich mit den Fersen immer wieder gegen die Stufen. Wenn ich die Beine anwinkelte, kamen von links ein gehässiges: Wir sind doch keine Packesel! und ein drohendes: Beine runter! von rechts. Sie hätten mir wenigstens erlauben können, die Hose hochzuziehen. Unten hielt ein Beamter die Doppeltür eines Kastenwagens mit laufendem Motor auf. Von links: Kopf einziehen!, dann wurde ich reingeschmissen, mein Hemd, die Gitter, dann die Tür hinterher.

Der Wagen startete sofort. Ich versuchte, die Hose hochzuziehen, aber mit auf dem Rücken gefesselten Armen ging das nicht besonders gut. Ich strampelte mit den Beinen, aber auch das klappte nicht. Dafür fühlte ich ein brennendes Ziehen in den Fussgelenken, vermutlich bluteten sie. Die Handschellen waren kein bisschen angenehmer.

Welche Scheisse! Da lag ich halb nackt in einem dreckigen und nach Kotze stinkenden Kastenwagen und wurde ins Gefängnis gefahren. Die Knöchel brannten. Ich trat mit beiden Beinen und aller Kraft gegen das Gitter mit der Folge, dass der Schmerz an den Fussfesseln nun auch in meinem Schädel klopfte. Das hatte ich davon. Hätte ich mich doch heute mit der hübschen neuen Bekanntschaft getroffen, bei einem Eis am See. Aber nein, ich musste mich den Bullen stellen. Blöder Idiot.

Der Verkehr stockte, und die Hitze drang durch ein kleines, rundes Loch, in dem sich ein Ventilator befand. Ihn einzuschalten kam dem Fahrer offenbar nicht in den Sinn, aber wahrscheinlich hätte das nur das Eindringen der Hitze beschleunigt. Ich sass da, mit dem Rücken zur Fahrt­richtung, und wartete. Obwohl ich schon oft solche Kastenwagen im Verkehr gesehen hatte und ihren Zweck kannte, hatte ich mir nie vorgestellt, dass darin wirklich Menschen transportiert wurden.

Der Kastenwagen machte einen scharfen Schwenk und hielt unvermittelt an. Der Beifahrer stieg aus und sprach durch ein Mikrofon, darauf hörte ich ein mächtiges Tor aufrollen. Der Wagen fuhr wieder an und stoppte nach wenigen Metern.

Endlich öffneten sich die Hintertür des Fahrzeugs und das Gitter. Die frische Luft tat gut. Noch ein paar Kurven, und ich hätte alles vollgekotzt. Mit dem Gestank und der Enge der Wagenzelle würde ich mich in den nächsten Monaten noch öfter abfinden müssen bei einer täglich halbstündigen Fahrt zum Untersuchungsrichter und der Rückkehr nach einem sechs- bis achtstündigen Verhör, ausgelaugt, mit brennendem Magen und brummendem Kopf.

Was? Hast du die Hose noch immer nicht angezogen?, fragte ein Polizist.

Es geht nicht, antwortete ich entschuldigend.

Gelächter.

Ich wurde am Arm in einen Innenhof gezogen. Rundherum waren Mauern, fünf Etagen hoch. Auf zwei Seiten glaubte ich den Zellentrakt zu erkennen, denn hinter einem vergitterten Fenster gafften mich zwei Gefangene an. Das Ankommen einer neuen «Lieferung» stellte hier eine wohl grosse Attraktion dar.

Einer, der, ohne dass ich es bemerkte, von hinten an mich herangetreten war, zog mir mit einem Ruck die Hosen hoch und knöpfte sie zu, der Reissverschluss blieb offen. Ich wurde nach vorne gestossen und konnte mich wegen der Fussschellen nur mit einiger Mühe fangen. Es ging drei Stufen hoch – die kleinsten Stufen bildeten mit Fussschellen ein gemeines Hindernis – und durch eine Tür zu einer Art Rezeption.

Umdrehen zur Wand!, herrschte mich eine Stimme im Rücken an, und ich wurde an den Schultern in die gewünschte Position gedreht. Man löste mir die Fuss- und dann die Handschellen. Unwillkürlich rieb ich mir wie im Film abwechselnd meine Handgelenke; sie hatten tiefe rote Striemen, die sich an den Rändern bläulich färbten. Ich schaute auf die Uhr über mir – es war zwölf vorbei, fast eins. Ich wagte nicht, mich umzudrehen, und horchte auf das, was sich hinter mir tat. Später erfuhr ich, dass meine Behandlung durch die Polizei eher die Ausnahme bildete und die Gefangenen im Grossen und Ganzen anständig behandelt wurden.

Guten Tag. Ich würde gerne Ihre Personalien aufnehmen, hörte ich nun eine angenehme Stimme.

Ich drehte mich um und sah einen hochgewachsenen, älteren Herrn hinter einer Theke mit senkrechter Scheibe. Die Polizisten waren verschwunden. Ich trat näher.

Danach können Sie sich auch ordentlich ankleiden. Ihr Name bitte?

Volkart.

Vorname?

Simon.

Geburtsdatum?

15. Juni 1985.

Religion?

Keine. Aufgewachsen als Protestant.

Die leichten Fragen beruhigten mich.

Falls Ihnen etwas zustösst, die Adresse, wo wir es melden können?

Und schon war ich wieder überfordert. Ich ging verschiedene Möglichkeiten durch, aber keine gefiel mir. Ich versuchte, meine Ratlosigkeit vor dem Herrn zu verbergen, aber dieser hatte bereits den Kopf gehoben und sah mich über die Brillenränder hinweg an.

Wie wäre es mit den Eltern?, meinte er vernünftigerweise.

Meine Eltern wussten ja noch nichts. Wie sollte ich es Ihnen sagen?

Freundin? Freunde? Bekannte?, half der Beamte mir weiter.

Ich war blockiert, es wollte mir einfach niemand einfallen.

Ach, übrigens, mein Name ist Gutzwiler. Heute empfange ich die neue Kundschaft – dies sagte er keineswegs in spöttischem Ton –, ich weiss, es ist schwer für Sie, aber früher oder später erfahren es Ihre Nächsten ohnehin. Sie können Ihre Verhaftung auf Dauer nicht verbergen. Überlegen Sie es sich, und dann können Sie es mir immer noch melden. Aber nicht vergessen!

Nach jahrelangem Umgang mit Häftlingen aller Art hatte Gutzwiler seine Zuvorkommenheit und seine Geduld noch immer nicht verloren. Das war eine grosse Leistung, würde ich später zu würdigen wissen.

Die Eltern … meine Eltern. Sie wohnen an der Burg­strasse, hier in der Stadt. Nummer 15.

Mit zufriedenem Schmunzeln senkte der Herr den Kopf und notierte die Angaben. Warum er bloss lächelt, überlegte ich fast krampfhaft.

Das reicht fürs Erste. Kommen Sie bitte mit, ich führe Sie jetzt in eine Wartezelle. Es wird einen Moment dauern, gedulden Sie sich.

Er kam mit einem Plastiksack in der Hand hinter der Theke hervor und ging zu einer einfachen Tür gegenüber. Ich hörte ein Summen, und der Herr hielt mir die Tür auf. Es würden einige Monate vergehen, bis ich wieder eine Tür selber öffnen durfte. Ich trat ein, und die Tür schnappte hinter uns zu.

Geradeaus, wenn ich bitten darf. Herr Gutzwiler geleitete mich an einer Treppe vorbei zu einer Metalltür. Hier hinein bitte, sagte er, während er aufschloss und mir den Plastiksack reichte. Bitte, Sie können sich jetzt anständig anziehen.

Schweigend trat ich in meine erste Zelle. Sie war dunkel, mit einem grossen Milchglasfenster. Dahinter musste der Innenhof von vorhin sein. Der Aufseher betätigte den Lichtschalter.

So ist es wahrscheinlich angenehmer. Wenn Sie etwas brauchen, dann läuten Sie einfach hier. Aber nur im Notfall!

Er zeigte auf den runden Knopf einer Gegensprechanlage gleich neben der Tür. Ich nickte. Der Mann schlüpfte hinaus und schloss ab.

Ich sah mich genauer um. Im Raum befand sich ein grosser Tisch mit zwei Bänken, deren Metallbeine unverrückbar im Boden eingelassen waren. Die Gefangenen hatten jeden Millimeter des Tisches und der Bänke benutzt, um Namen, Nachrichten und Sprüche zu hinterlassen. Auf dem Tisch lagen zwei, drei total abgegriffene, uralte Illustrierte. Ich klatschte sie auf den Tisch zurück. Es gab nicht einmal eine Toilette, obwohl sie mir jetzt sehr gelegen gekommen wäre.

Kaum hatte ich mich angezogen, öffnete sich die Tür wieder, und ein weiss gekleideter Mann kam herein. Ich vermutete in ihm einen Doktor, später erfuhr ich, dass Herr Hoeck lediglich der Pfleger war.

Guten Tag. Kommen Sie bitte kurz mit, forderte er mich auf.

Im selben Gang, gleich hinter der Treppe, bat mich Herr Hoeck, auf die Waage zu steigen. Sie zeigte 75 Kilogramm.

Gut. Setzen Sie sich. Sie kommen zwar gerade aus dem Krankenhaus, aber es gehört hier zu den üblichen Eintrittsformalitäten – ich hörte im ersten Augenblick «Formalitöten», verdrängte es jedoch gleich wieder –, wir müssen alle Eintritte durchchecken.

Nach dieser Einführung stellte er mir ziemlich diesel­ben Fragen wie der Arzt im Krankenhaus.

Das wäre dann alles.

Ich erhob mich und trabte wieder zurück in die Einstell­zelle. Der Pfleger schloss ab, und ich hörte ihn sich über die Treppe in Richtung Rezeption entfernen.

Dann fiel mir wieder mein kleines Bedürfnis ein. Es wurde immer mühsamer, den Druck der Blase zu beherrschen. Aber ich wollte nicht schon von Anfang an als Que­rulant gelten und beschloss, auf die nächste Gelegenheit zu warten. Es dauerte nicht lange, und die Tür öffnete sich abermals.

Diesmal erschien eine Frau in Aufseheruniform. Das Namensschild gab sie als Frau Brunner zu erkennen.

Kommen Sie bitte mit, sagte sie monoton, mit gelangweilten und müden Augen. Diesmal ging es die Treppe hin­ab, und wir kamen durch eine offene Tür in einen hellen Raum von der gleichen Grösse wie die Zelle, die sich gleich darüber befand. Der Raum war voller Geräte und Utensilien. Hier sah ich auch meine Schuhe wieder, sie standen in einem kleinen Kasten, der einer Mikrowelle ähnelte. Ich wurde aufgefordert, sie anzuziehen. Dann wurden mir verschiedene Hygieneartikel angeboten, die in einem Gestell an der Wand aufgereiht waren. Die Aufseherin vermerkte alles, was ich nahm, auf einem Papier und bedeutete mir, es in eine grosse Kartonschachtel zu packen, dazu warf sie zwei Bettdecken und einige Handtücher hinein. Schliesslich reichte sie mir die Schachtel, und wir zogen wieder durch den Gang und die Treppe hinauf. Ich dachte schon, ich müsse wieder in die Zelle zurück, da fiel mir ein, nach der Toilette zu fragen.

Gleich, sagte Frau Brunner. Wir gingen durch den Em­pfangsraum in einen Gang, den ich beim Eintreten übersehen hatte. Wieder wartete eine Treppe am Ende des Gan­ges, ich war noch immer unsicher auf den Beinen, auf der letzten Stufe blieb mein Fuss hängen, ich konnte mich gerade noch an der Mauer abstützen. Ich spürte die beru­hi­gende Kühle der Mauer und wäre gerne noch ein wenig stehen geblieben, aber Frau Brunner war nach einem kurzen Blick zurück weitergegangen, also musste auch ich weiter.

Frau Brunner schloss wieder eine Tür auf; dahinter reihte sich zur Linken Metalltür an Metalltür, während zur Rechten ebenso viele Fenster Licht spendeten. Die Zellen waren an den Gucklöchern und den kleinen Kipptürchen in der Mitte zu erkennen, durch die das Essen gereicht wurde. Am Ende des Ganges öffnete sich eine Spezialglastür automatisch, dahinter lag eine Art Kontrollraum mit mehreren Bildschirmen. Drei Aufseher sassen beim Kaffee und nickten meiner Führerin zu, die bereits nach links abgebogen war in einen langen Gang mit noch mehr Zellen. Etwa in der Mitte des Ganges stand eine offen, in diese wurde ich hineingeführt.

Auf dem Tisch lag mein schwarzes Necessaire. Plötzlich überfiel mich eine glückliche Vertrautheit, als ob ich nach langer Zeit ein Stück meiner selbst zurückerhalten hätte. Verwirrt fragte ich die Aufseherin, wem dies gehöre, worauf sie mich verständnislos ansah.

Ich weiss, dass es mir gehört, aber wie kommt es hierher?

Wahrscheinlich hat es die Polizei mitgebracht, antwor­tete sie mit einem gleichgültigen Achselzucken.

Die Aufseherin erklärte mir nun in der monotonen Art eines Menschen, der tagtäglich dasselbe zu tun hat, die Hausordnung und sonstige Regeln, kontrollierte mit einer Checkliste den Zustand der Zelle, überreichte sie mir zur Unterschrift und sagte, ich solle mich zum Duschen bereit machen. Dann wurde ich allein gelassen.

 

Ich nahm sofort mein Necessaire und schaute neugierig hinein. Sie hatten weder etwas herausgenommen, noch etwas hineingetan, sondern es so mitgenommen, wie ich es zu Hause aufbewahrt hatte. Ich legte es wieder hin und riss mir meine dreckigen Kleider vom Leib. Ich band das Ba­detuch um die Hüften und setzte mich mit den Badeschuhen, die ich bekommen hatte, hin.

Guten Tag, mein Name ist Kaufmann. Schon kam der nächste Aufseher, der mich nun zur Dusche führte. Sie lag im selben Gang den Zellen gegenüber, so ziemlich in der Mitte.

Sie haben zwölf Minuten, danach schaltet das Warmwasser automatisch ab.

Auch hier wurde die Tür abgeschlossen, wie es überhaupt nirgends versäumt wurde, die Freiheit auch innerhalb der Mauern zu beschränken. Ich genoss die kurze Zeit unter der Dusche, vor allem, weil mich der erste Aufseher darauf hingewiesen hatte, dass man nur zweimal pro Woche Gelegenheit zum Duschen hatte. Als ich fertig war, läutete ich, und Herr Kaufmann führte mich wieder in meine Zelle zurück. Auf dem Bett sah ich frische Unterwäsche, T-Shirt und Jeans aus meinem Kleiderschrank zu Hause liegen. Bevor Herr Kaufmann die Tür schloss, fragte er, ob ich Lust auf ein kaltes Mittagessen habe, das man für mich aufgehoben hatte, aber ich wollte mich jetzt nur noch hinlegen.

Ich wurde erst vom Geräusch des grossen Schlosses ge­weckt.

Abendessen! Herr Kaufmann reichte mir aus einem Rollwägelchen mit vielen Ablagen ein Tablett durch die Luke, auf dem sich ein viereckiger Teller mit eisernem Deckel befand.

Mahlzeit.

Danke, murmelte ich verschlafen.

Ich setzte mich an den Tisch und fing an zu essen. Es war gar nicht mal schlecht, aber ich hatte keinen Appetit. Also reichte ich das zerstochene Essen dreissig Minuten später wieder zurück. Die Luke wurde geschlossen, und ich hörte, wie nach und nach das übrige Geschirr eingesammelt wurde.

Es wurde still. Nur vereinzelte Fernseher waren noch zu hören und zwei, drei Stimmen, die über die Fenster miteinander sprachen. Dann setzte ein gewöhnlicher Regen ein, und interessanterweise wurden die Gespräche abgebrochen und die Fenster geschlossen, obwohl es gar nicht in die Fenster regnete.

Ich lag auf dem Bett und starrte an die Decke, ab und zu kratzte ich mich. Eine seltsame Ruhe breitete sich in mir aus. Da ich den Nachmittag über geschlafen hatte, war ich nun nicht müde. Ein Gefühl, das ich schon ganz vergessen hatte, beschlich mich, erst nach zwei Stunden begriff ich, dass es die Langeweile war. Trotzdem konnte ich mich nicht aufraffen, den Fernseher einzuschalten.

Schliesslich stand ich auf und lehnte mich über den Tisch, der unter dem Fenster festgeschraubt war. Aber dort sah ich nicht den Innenhof, wie ich erwartet hatte, sondern einen kleineren, es war keine Tür zu sehen, auch nicht die zum Empfang. Ich hatte vollkommen die Orientierung verloren. Auch die Himmelsrichtungen konnte ich nicht bestimmen, da ich weder Sonne noch Schatten sah, die fünf Stockwerke um den engen Innenhof liessen kein direktes Licht herein. Sogar den Himmel konnte ich nur sehen, wenn ich mit meinem Kopf vom untersten Rand des Fensters steil hinaufblickte. Der Innenhof war schwarz as­phaltiert, kein einziger grüner Fleck war zu sehen, nur ein kümmerlicher Löwenzahn hatte sich in einem kleinen Riss festgebissen.

Wunderbar! In den nächsten Monaten würde ich kein einziges Mal auf natürlichen Boden treten und Sonne, Mond und Sterne nur aus der Erinnerung beschreiben können. Einer meiner grössten Wünsche würde werden, mich in einer Schlammgrube zu suhlen.

Die Langeweile bildete für mich eine ganz neue Erfahrung. Draussen im schnellen Fluss des Lebens war sie bei mir nie aufgekommen. Hier drin musste ich zuallererst be­greifen, dass das Einzige, was man im Gefängnis in ausreichendem Mass besitzt, die Zeit ist. Wenn man sie zu nutzen wusste, war sie ein unbezahlbarer Schatz, aber ich musste erst lernen, mit diesem Reichtum umzugehen. Jetzt machte sie mich nervös und lenkte meine ganze Kraft und Aufmerksamkeit auf alle möglichen Nebensächlichkeiten. Weder konnte ich ruhig sitzen, noch beruhigte mich das Liegen. Aber auch beim Hin- und Herschreiten in der engen Zelle fand ich keine Rast, und weder das Trommeln mit den Fingern auf dem Tisch noch das Kratzen an den verschiedensten Körperstellen oder Dehnübungen kamen gegen den langen Riesen an – der mittägliche Geist hatte schon viele Anachoreten aus der Wüste getrieben.

Auch meine Gedanken fanden zu keiner Ordnung, und ich war nicht imstande, die simpelsten Überlegungen zu einem logischen Ende zu bringen. Schliesslich legte ich mich hin und zwang mit letzter Verzweiflung den Schlaf herbei, was mir glücklicherweise irgendwann gelang.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?