Wie ein Regenbogen

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ein anderer Charakter, der einen transformativen Effekt auf nahezu jeden ausübte, dem er begegnete, war der außergewöhnliche Künstler Andy Warhol. Ende 1963, Warhol war damals 35 Jahre alt, befand sich sein Bildersturm gegen Amerikas Konsumgesellschaft auf dem Höhepunkt. Der aus seinem Apartment in Manhattan – genannt The Factory – heraus agierende Künstler setzte sich für die Kunst-Exzentriker und Bohemiens der Stadt ein und nannte sie seine „Superstars“. Es war ein Überfluss an künstlerischem Können, das in einem Schmelztiegel brodelte. Warhol förderte diese kreativen Abweichler und setzte sie bei Happenings ein. Da sich Anita in ähnlichen Gefilden bewegte, war es geradezu unvermeidlich, dem Künstler zu irgendeinem Zeitpunkt über den Weg zu laufen.

„Die Begegnung war lustig, denn ich traf ihn in einer Telefonzelle“, erinnerte sich Anita. „Ich war da gerade reingegangen, und er wartete draußen darauf, dass ich das Telefonhäuschen verließ. Ich schaute ihn mir gründlich an. Sein Gesicht wirkte pink, graue Haare und ein pinkes Gesicht. Er war ganz in Schwarz gekleidet und sagte kein Wort. Als wir uns dann unterhielten, meinte er nur: ‚Fantastisch, fabelhaft‘“.

Gerard Malanga, eine Persönlichkeit, die später von der New York Times als „Warhols wichtigster Mitarbeiter“ beschrieben wurde, erinnert sich an seine erste Begegnung mit Anita und Mario bei einer Cocktail-Party. „Da standen diese beiden jungen Menschen, chic angezogen. Ich habe vergessen, wer uns einander vorstellte, doch wir führten schnell ein sehr nettes Gespräch. Das Paar beeindruckte mich sehr. Anita hatte ein klassisch schönes Aussehen und einen höchst ambitionierten Geist.“

Nach der eher schrägen, flüchtigen Begegnung war Anita des Öfteren bei den Aufführungen von Warhols Underground-Filmen dabei, die von der gleichermaßen progressiv ausgerichteten New American Cinema Group präsentiert wurden. Die meist nicht lizenzierten Veranstaltungen im Five Spot Café waren lebendig schillernde Leuchtfeuer für die, die New Yorks alternative Kunstszene durchstreiften. Bei Titeln wie Blow Job, Eat und Haircut, die natürlich den Rahmen des von der Zensur Erlaubten bei Weitem überschritten, erschien die Polizei oftmals ohne Vorankündigung, um die Vorführungen abzubrechen. Anita, die nicht nur geistig sehr beweglich war, zog sich vor diesen Veranstaltungen sicherheitshalber Tennisschuhe an für den Fall, dass sie eine schnelle Flucht antreten musste.

Eine bedeutende Künstlergemeinschaft in dieser Welt der tausend Träume und Ideen stellte das Living Theatre dar. Als auf Provokation ausgelegte Schauspieltruppe war das Agitprop-Kollektiv dem Trend um Lichtjahre voraus, was das Verschieben der Grenzen und die Überwindung der Beschränkungen des konzeptuellen Theaters anbelangte. The Living Theatre war 1947 von der Schauspielerin Judith Malina und dem Maler/Dichter Julian Beck in England gegründet worden. Sie hatten ihre wahre Freude daran, experimentelle und selten gesehene Stücke aufzuführen, und ließen sich von den esoterischen Gefilden beeinflussen wie auch von aufstrebenden Dichtern und Schriftstellern, die ihre Arbeiten visualisieren wollten.

Nach den zahlreichen Zusammenstößen mit den städtischen Behörden, durch die seine Arbeit auch einen Affront für die traditionelle Theatergemeinschaft New Yorks darstellte, half das Living Theatre dabei, die sogenannte Off-Off-Broadway-Bewegung zu popularisieren, da seine radikalen Produktionen in Opposition zur überbordenden Kommerzialität des Mainstream-Theaters standen. Die der Gruppe zugrunde liegende Ethik basierte auf einer Sammlung von Essays des französischen Dramatikers Antonin Artaud, die er 1938 publizierte. Das Credo des mit Das Theater und sein Double betitelten Buchs forderte den Theaterbesucher in seiner passiven Selbstgefälligkeit heraus und verlangte eine dringliche Kommunikation zwischen Darstellern und Publikum. Der lange und einflussreiche Schatten Artauds ebnete Anita später auch den Weg für ihre Beteiligung an dem 1968 gedrehten Film Performance.

Andere ambitionierte Frauen, die ihren Stereotypen entfliehen wollten, wurden auch von der Unmittelbarkeit des Living Theatre angezogen. Zwei von ihnen waren Anita schon in Rom aufgefallen: Die deutsche Schauspielerin Nico und das Model Donyale Luna. Anita und Nico, die beide nicht dazu neigten, ein Blatt vor den Mund zu nehmen, stritten sich häufig darüber, wer denn nun zuerst in New York angekommen sei, was auf ein Konkurrenzdenken hinwies, das sich auf alle Lebensbereiche erstrecken sollte. In den folgenden Jahren kreuzten sich ihre Wege häufig, doch die Antipathie zwischen den beiden blieb bestehen.

Das Living Theatre hatte eine wahre Freude daran, jedes Element der Konventionen und der Zensur anzugreifen. Die wohl spektakulärste und provokanteste Präsentation war die Marathon-Aufführung Paradise Now, ein teils auf Improvisationen beruhendes Stück, das die Barrieren zwischen Zuschauer und Performer niederreißen sollte. Die interaktive Ausrichtung ließ die Darbietung eher wie ein Happening aussehen. Regelmäßig gab es erboste Aufschreie im Publikum, da die „Schauspieler“ die Bühne verließen, um die Gäste zu traktieren, anzufeinden oder auszuschimpfen. In zahlreichen Büchern und Artikeln findet sich die Behauptung, dass Anita an dem Paradise Now-Event teilgenommen habe, doch das Living Theatre hatte schon längst die Stadt verlassen, bevor Anita überhaupt ankam. Der Druck der Behörden zermürbte die Truppe, woraufhin sie dem kreativen Zeitgeist nach Rom folgte, zumal die Regularien in Europa nicht so streng waren. Sie hatte sich schon zuvor in der Stadt aufgehalten, besonders während der harten Winter an der Ostküste der USA. Dennoch – die Energien, die sie mit ihren Aktivitäten in New York freigesetzt hatte, wirkten nach, und die Vitalität und der anarchistische Freigeist beeinflussten auch Anita. Rufus Thomas, der Anführer der Schauspielerschar und später der berühmte Regisseur von Hair und Jesus Christ Superstar, freundete sich schließlich mit Anita, Mitgliedern der Stones und besonders Robert Fraser an.

Im Lauf der Sechzigerjahre kam es zu weiteren zwar nicht so bissigen, doch ähnlich explosiven kreativen Ausbrüchen. Die Ankunft der Beatles im Februar 1964 in New York alarmierte die Staaten, dass sich eine neue Jugendbewegung in Großbritannien Bahn brach, angetrieben von einem Haufen aktueller Bands. Jung, rau, gefühlvoll und zu dem Zeitpunkt partiell schon vermögend, sandten sie ein neues Lebensgefühl rund um den Globus aus, das junge Menschen ansprach und darüber hinaus leicht zugänglich war. Für Mario stellte die neue Welle überwiegend englischer Bands eine Art von Offenbarung dar. Er beobachtete die tumultähnliche Resonanz, die diese Gruppen hervorriefen, und wurde von dem gottähnlichen Status verzaubert, den sie innehatten. Als die Welt von diesen kreativen Senkrechtstartern wie von einem Erdbeben erschüttert wurde, begann er über seine Kollagen hinauszublicken und versuchte sich dieser neuen Bewegung anzuschließen.

Auch Anita konnte sich der explosionsartig verbreitenden Jugendbewegung nicht entziehen, die jeden Winkel der Welt eroberte. Der kreative Brennpunkt bewegte sich weg von New York. Sogar ein untrainiertes Auge erkannte, dass die weitaus größere „Action“ in Europa stattfand. Anita hatte sich zwar einen Agenten in New York gesichert, doch plötzlich kamen Arbeitsangebote aus den verschiedensten Richtungen. Anfang März hatte sie bereits den dringenden Wunsch geäußert, die USA zu verlassen.

Doch allen Berichten nach waren es nicht nur professionelle Gründe, die Anita zur Abreise bewegten. Während Mario regelmäßig ein hohes Arbeitspensum bewältigte, hatte Anita den Zauber der Unabhängigkeit gespürt und war darauf versessen, sich eine eigene Karriere aufzubauen. Sie wollte nicht mehr länger nur den Sternenstaub reflektieren.

Darüber hinaus zeichneten sich Anitas und Marios Charaktere nicht nur durch das Streben nach Unabhängigkeit aus, sondern auch durch ein überschäumendes Temperament, möglicherweise verstärkt durch Drogenkonsum. Beide schützten ihre eigenen Freiräume, woraufhin die Atmosphäre ihres alltäglichen Lebens und der beiderseitigen Arrangements zu einer Herausforderung wurde. Für Anita war eine Grenze überschritten, als Schifano während eines heftigen Streits ein Lieblingskleid von ihr zerriss, eine Kreation von Rudi Gernreich.

Die Trennung fand dennoch in Freundschaft statt. Marios Freunde hatten bis dahin den Eindruck gehabt, dass Anita seine Ambitionen auf irgendeine Art erstickte. Schifano schrieb im April 1964 in einem Brief an einen Freund: „Nun, da Anita gegangen ist, folge ich dem Rhythmus eines normalen Lebens.“

Da die Aufträge für europäische Modemagazine nun regelmäßiger kamen, kehrte Pallenberg kurzfristig nach Rom zurück, was jedoch nicht von allen so positiv aufgenommen wurde, wie sie vielleicht erwartet hatte. Die gelegentliche Abwesenheit oder das Zurückkommen zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten wurde von ihrer Familie mit Missbilligung quittiert. Später behauptete sie, dass ihre Mutter lediglich neidisch auf die Mobilität der Tochter gewesen sei, doch ihr Vater hatte ein deutlich negativeres Bild von ihrem Globetrotter-Leben. „Ich war immer unterwegs“, erzählte sie dem Musikjournalisten Stephen Davis 2001, „und mein armer Vater glaubte wohl, ich sei eine Prostituierte.“

Rom stand immer noch im Bann der kreativen Energie und Anita begegnete weiterhin verschiedenen Künstlerseelen, die von ihrer goldenen Aura und dem Regenbogen an Emotionen hingerissen waren.

„Sie wirkte wie eine unvergleichliche, einzigartige Sirene“, erinnert sich Tony Foutz, ein Filmemacher, der sich Mitte der Sechzigerjahre in Rom aufhielt. „Sie tanzte zu ihrer eigenen Musik und machte alles auf ihre Art. Sie verstand alle Witze, verfügte über ein Gespür für Ironie und Humor. Sie strahlte eine spontane Intensität aus, die sie zu einer Wegbereiterin machte. Die Begegnung mit ihr verschlug vielen Menschen den Atem.“

 

Durch ihre Arbeit kam sie in Europa viel herum und 1964 reiste sie für einen Auftrag nach Hamburg, der sich mit einem Familientreffen verbinden ließ. Sie hatte die Beatles schon 1962 bei einem Auftritt gesehen und war sich bewusst – wie die meisten Jugendlichen auf der ganzen Welt –, dass die Pilzköpfe zu einem globalen Phänomen geworden waren. In der Stadt erfuhr sie nun von einer Freundin, dass eine andere Band hohe Wellen schlug. „Während ich in Hamburg als Model arbeitete, hörte ich von den Stones“, erzählte sie dem Mojo 2006. „Dann gab es einen Trendwechsel, so in der Art: ‚Die Beatles muss man nicht mehr gesehen haben, jetzt sind es die Stones‘.“

Nach einer Verpflichtung auf Sizilien (und einem kurzen New-York-Abstecher wegen der Arbeit) zog es Anita aufgrund einer ganzen Reihe von Model-Jobs nach Frankreich. In Paris traf sie auf eine Szene, die ihre Sinne entfachte und sie für einen Großteil des Jahres an die Stadt fesselte. Trotz der verhältnismäßigen Nähe zu London war die Pariser Modewelt ein schillerndes und packendes Kuriosum, das alles in Großbritanniens Hauptstadt übertraf. Die Medien waren zwar in Scharen in London eingefallen, um die Objektive auf die neuen, sogenannten „Dolly Birds“ auszurichten, doch die Frauen, die man in Londons Straßen und Clubs sah, waren im Vergleich zu denen in Paris eher unscheinbar. In Frankreich stolzierten die jungen Mädchen geradezu über die Boulevards und großen Plätze. „Englische Rosen“ wie Twiggy, Jean Shrimpton, Pattie Boyd und Jane Asher waren zwar höchst fotogen und auch oft auf Bildern zu sehen, standen jedoch oftmals im Schatten ihrer prominenten Partner.

Anitas Entscheidung für einen Umzug nach Paris war teilweise durch die außergewöhnliche Anziehungskraft der Agentin Catherine Harlé motiviert gewesen. Ihre gleichnamige Agentur rangierte bereits weit höher als die anderen Pariser Vertretungen der Modebranche und stand für einen Talentkult, der eine starke und selbstbewusste feministische Basis hatte. In einer Stadt, in der nahezu alle künstlerischen Grenzen verschoben wurden, katapultierte Harlés Agentur das Modeln auf eine neue Stufe.

Ihr aufmerksames Auge war in den Welten der Fotografie und der Werbung geschult worden. Als alleinerziehende Mutter im Alter von 37 Jahren hatte sie im Sommer 1959 den Sprung ins kalte Wasser gewagt und von ihrem Wohnzimmer aus eine Agentur gegründet. Der bescheidene Anfang stellte für den schnellen Aufstieg kein Hindernis dar. Nur wenige Jahre darauf bezog sie das im Jugendstil eingerichtete, dreistöckige Gebäude 38-42 Passage Choiseul im zweiten Arrondissement der Stadt.

„Meine Mutter war ein toller Talentscout“, berichtet Harlés Sohn Nicolas der New York Times 2013. „Sie sah ein Mädchen und sagte direkt: ‚Die ist perfekt für die Fotos‘.“

Vor Anitas Engagement Ende 1964 verfügte Catherine Harlé bereits über eine ansehnliche Kartei. Dennoch zeigte sie sich von Anitas Präsenz so sehr beeindruckt, dass sie ihr den Flug von New York nach Paris bezahlte. Supermodels wie Veruschka, Zouzou und Anna Karina hatte sie bereits unter Vertrag, und mit ihrem ausgeprägten Talent und vor allem ihrer Einstellung erarbeitete sie sich einen exzellenten Ruf. Kurz darauf engagierte Harlé Nico, Amanda Lear, Talitha Getty und die Sängerin Marianne Faithfull, womit sie zur wohl eigenwilligsten Agentur weltweit wurde. Anita zählte eindeutig zu den führenden Damen in der Kartei. Angesichts der umfangreichen Kundenliste ihrer Chefin gab es zahlreiche Möglichkeiten, Kontakte zu den höheren Schichten der Pariser Gesellschaft zu knüpfen.

„Anita und ich waren eng befreundet, zumal wir uns auch äußerlich ähnelten“, berichtet ihre Kollegin, Popsängerin und Model Amanda Lear. „Damals sah ich sie häufig. Wir gingen jeden Abend aus. Da waren Zouzou, Anita und ich und noch einige andere Mädels. Natürlich kifften wir – das war eine wirklich wilde Zeit – und hatten eine Menge Spaß zusammen. Damals – und das traf besonders auf London zu – waren die meisten Mädchen so wischiwaschi, einfach uneindeutig, und wir stellten das exakte Gegenteil dar. Heute verlieben sich die Mädels in Fußballspieler, damals verliebten wir uns in Musiker. Wir repräsentierten ein befreites Frauenbild, verdienten unser eigenes Geld, waren total frei, weigerten uns, von Männern finanziell abhängig zu sein – wir standen für eine neue Generation von Frauen.“

Harlés mütterliches und enges Verhältnis zu den Models überschritt die reine Arbeitsbeziehung, in der sie die jungen Frauen an Fotografen vermittelte. Sie nahm einige von ihnen unter ihre Fittiche, und da die zahlreichen Zimmer in der Passage Choiseul auch Übernachtungsmöglichkeiten boten, erlaubte sie den Models, da zu schlafen. Ohne einen festen Wohnsitz nahm Anita bei Harlé ein Zimmer und richtete sich auf unbestimmte Zeit dort ein.

Wie die anderen Models tummelte auch sie sich im Pariser Nachtleben und war häufig auf der Tanzfläche von Clubs wie dem Maxim’s, Chez Regine und Chez Castel zu sehen. Den letztgenannten Club besuchte sie so häufig, dass man ihr dort kostenlosen Zugang gewährte.

Genau wie schon in Rom zu Beginn der Sechziger wurde sie nun in Paris von der dortigen Clique der Filmemacher angezogen. Während dieser Zeit traf man die Protagonisten der Nouvelle Vague überall in der Stadt an und Anita erinnerte sich später an gemeinsame Abende mit Luis Buñuel und François Truffaut.

Anita und ihre Kolleginnen schmiedeten bei der Agentur von Catherine Harlé einen engen Bund. Ihre enorme Präsenz in Paris reichte an die der Männer heran oder übertraf sie sogar. Die Popularität von Harlés Agentur war so groß, dass sie von dem Sänger Jacques Dutronc in einem Song verewigt wurde. Der Text zu dem die Charts stürmenden Stück „Les Play Boys“ enthielt eine Zeile, in der die „Models von Catherine Harlé“ erwähnt wurden, inmitten einer Liste glamouröser männlicher Akteure.

„Aus Catherine Harlés entwickelte sich eine wahre Rock’n’Roll-Agentur“, schreibt Farbrice Gaignault, Autor von Les Égéries Sixties. „In Paris gab es eine Menge starker Frauen, beinahe Outlaws. Die verhielten sich wie Männer und waren für die damalige Kultur sehr wichtig. Sie verängstigten den Pariser Mann ein bisschen, denn Pariser Männer entstammten oft der Bourgeoisie und diese Frauen entsprachen nicht dem gewohnten Bild. Sie waren frei, brachten Kultur und Stil mit sich und den Lebenswandel von Künstlern. Anita war wunderschön, doch auch eine sehr gefährliche Gesellschaft. Hielt man sich in ihrer Nähe auf, wusste man nie, was passieren würde. Sie war so schön und liebte es, mit den Männern abzuhängen, sie stand einfach auf männliche Gesellschaft. Alle Männer waren verrückt nach ihr, doch hatten Angst vor dem, was sie anrichten konnte.“

Die Auftraggeber wollten zwar oftmals ein durch Airbrush verändertes Bild auf der gedruckten Seite haben, aber ansonsten war die Technik, die eingesetzt wurde, um den richtigen Look zu gewährleisten, eher banal. „Als ich als Model arbeitete“, erinnerte Anita sich 2013, „haben sie dich tatsächlich mit Pfannkuchen aufgepolstert. Und dann kam Helena Rubinstein mit dieser ekligen, dicken Creme … Es war ein Albtraum.“

Schon zu Beginn war Anita eine absolute Gegnerin des damals populären „Dolly Bird“-Look, der sich in den Medien durchsetzte. Trotz des möglichen Ruhmes, der durch die Zusammenarbeit mit bestimmten Fotografen entstehen konnte, hatte sie nicht die geringste Lust, sich den Anforderungen zu beugen, mit denen man sie in eine bestimmte Richtung drängen wollte. Wie später in Antonionis Film Blow-Up dokumentiert wurde, war der Kult um den aus dem Gefühl heraus, spontan arbeitenden Fotografen Mitte der Sechziger auf seinem Höhepunkt. Dadurch schlich sich bei Aufnahmesessions oft eine chauvinistische Arroganz ein, die alles dominierte. Trotz des Celebrity-Status von Jeanloup Sieff, Guy Bourdin und anderen berühmten Fotokünstlern, für die Anita posierte, beeindruckte sie dieses prahlerische Gehabe nicht die Bohne.

Anita 2013: „Sie [die Fotografen] fragten mich: ‚Wo sind die Wimpern? Wo hast du deine Mascara?‘ Und ich rieb mir mit dem Finger über das Augenlid, verschmierte alles, worauf die Fotografen ausrasteten. Ich kam mit keinem von denen klar.“

In ihrem Beruf waren Models zwar durch diese besondere, mächtige Weiblichkeit miteinander verbunden, doch angesichts der Vielzahl derer, die damals durch die pulsierende Pariser Modewelt zogen, stellte sich zwischen den meisten von ihnen höchstens eine flüchtige, oberflächliche Beziehung ein. Dennoch gelang es Anita, einige feste und länger andauernde Freundschaften mit eher angenehmen Kolleginnen zu schließen.

Wie auch Anita hatte das amerikanische Model Deborah Dixon eine „andersweltige“ Aura, die sie über einen Großteil der Frauen auf dem Catwalk oder bei den Sessions erhob. Ihre Kultiviertheit wurde durch ihre zarte, anziehende Optik noch unterstrichen, dem blassen Gesicht und den herunterfallenden rotbraunen Haaren. Die sehr gefragte Dixon wurde als „Schneekönigin von Texas“ bezeichnet und dominierte während der Sechziger die Seiten der allerbesten Modezeitschriften. Auch sie hatte die „Dolce Vita“-Ära in Rom miterlebt und war während dieser Zeit bei einer Reihe erinnerungswürdiger Shootings für die wichtigsten Magazine zu sehen gewesen.

1965 wohnte Deborah Dixon jedoch in Paris. Da die Models der zahlreichen Agenturen in verschiedenen Locations rund um die Uhr feierten, dauerte es nicht lange, bis Deborah auf Anita stieß.

„Sie war spektakulär“, erzählte Deborah. „Es umgab sie eine faszinierende Aura, eine große Verführungskraft, und darüber hinaus war sie auch noch witzig. Anita war belesen und weit gereist, doch immer voller Neugier und einem Gespür für das Abenteuerliche. Sie hatte diese katzenähnliche Würde und ein wunderbares Lachen. Sie bewegte sich auch wie eine Katze. Und sie spielte wie eine Katze mit den Menschen – nicht aus Boshaftigkeit heraus, sondern weil sie es konnte. Ich glaube, dass sich viele Leute von Anita vor den Kopf gestoßen fühlten, denn sie entsprach nicht dem Durchschnitt.“

Anita hatte bei Catherine Harlé anerkanntermaßen eine sehr produktive Zeit als Model, doch scheint sie ihren Beruf mit einer dilettantischen Einstellung ausgeübt zu haben – eine Tatsache, die ihren Freunden und Bekannten nicht verborgen blieb.

„Ehrlich gesagt strebte Anita keine ernsthafte Model-Karriere an“, urteilte Deborah. „Sie arbeitete hier und dort, aber ich glaube nicht, dass sie das Modeln sonderlich interessierte – es war ein netter Weg, um ein gutes Leben zu führen und herumzureisen. Ich glaube nicht, dass sie sich allzu viel Mühe gab [eine Karriere aufbauen].“

„Ich arbeitete schon bei der Agentur von Catherine Harlé, als ich ihr begegnete“, erinnert sich die Kollegin Zouzou heute. „Ich traf sie im Castel’s zusammen mit ihrem Freund Dennis Deegan [Schauspieler und Warhol-Mitarbeiter]. Niemand kannte sie näher. Anita arbeitete nicht viel. Im Grunde genommen arbeitete sie kaum. Vielleicht machte sie ein oder zwei Fotosessions, war wirklich nicht geschäftstüchtig. Wenn ich sie sah, dann meistens in den Nachtclubs.“

„Anita war einfach anders“, berichtet die französische Sängerin und Dalí-Muse Amanda Lear. „Sie stand für einen aggressiven Look, einen Look, der ausdrückte, dass sie nicht nur ein Püppchen war. Schon damals hatte sie eine dominante Einstellung. Statt in die Fußstapfen ihrer Freunde zu treten, formte [Anita] sie.“

„Ich mochte das Reisen, hasste aber das Modeln“, erzählte Anita 1994 in einem Gespräch mit dem Sunday Mirror. „Ich kam in der Hitze fast um, eingekleistert mit Make-up, und musste dann noch diese lächerlichen, großen Kunstwimpern tragen. Die anderen Models gingen meist schon um neun Uhr ins Bett und setzten sich Augenmasken auf. Ich ging jeden Abend raus und machte einen drauf.“

So gern, wie sie sich mit Menschen umgab, war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie auch Deborah Dixons damaligen Partner Donald Cammell kennenlernte. Das Trio führte eine enge Freundschaft und erlebte zahlreiche Abenteuer miteinander.

„Ich begegnete ihm in den frühen Sechzigern“, erklärte Anita 1998 gegenüber der BBC. „Ich kam gerade aus New York und flog direkt nach Paris. Damals hatte ich einen Model-Agenten in New York und arbeitete in Paris. Ich glaube, seine Freundin Deborah traf ich zuerst – bei einem Job in einem Club, vielleicht auch in einem Club, den wir zum Tanzen besuchten … Wir verbrachten dann auch die Ferien gemeinsam.“

Ähnlich wie Deborah Dixon stellte sich der in Edinburgh geborene Donald Cammell als eine Konstante in Anitas Sechziger-Chronik heraus. Er war ein Mensch, der an Geschick für kaum spürbare Manipulation, kombiniert mit einem einnehmenden Charme, alle machiavellischen Persönlichkeiten übertraf, die sich in den angesagten Kreisen der High Society tummelten.

 

Gesegnet mit einem angeborenen Talent für die Kunst, hatte Cammell schon mit 16 Jahren ein Stipendium an der prestigeträchtigen Royal Academy erhalten. Seine Fähigkeiten wurden dort geschult und verfeinert, woraufhin er sich auf Gesellschaftsporträts spezialisierte, für die er ein besonderes Talent hatte. Schon bald hatte er sich hinsichtlich dieser überragenden Geschicklichkeit einen Ruf erworben. In Florenz studierte er unter der Anleitung von Pietro Annigoni, bevor er sich in London niederließ. Verwurzelt in der schillernden Chelsea-Boheme der späten Fünfziger und mit einem Studio in einer Seitenstraße von Londons kultureller Hauptschlagader King’s Road, fügte er sich mühelos in die progressive und eher bizarre Gemeinschaft ein.

Sein Talent, seine Jugend und sein Intellekt öffneten Donald zahlreiche Türen und stellten sich bei den Frauen als unwiderstehlich heraus. Damals tummelten sich in Chelsea ungebildete, politisch linksgerichtete Schönheiten, was er voll und ganz auskostete. Wie Colin MacCabe in seinem Buch über den Film Performance (1968) enthüllte, hatte Donald in seiner Wohnung in Chelsea ein Schlüsselerlebnis, als er seine damalige Freundin zusammen mit ihrer Schwester in seinem Bett vorfand. Da einer seiner wichtigsten Charakterzüge die Spontaneität war, schlug Donald vor, die unterschiedlichen Energien doch einfach zu vereinen – ein Szenario, das für ihn zu einer Konstante wurde.

Cammells zügellos ausgelebte Libido stand der Aussicht auf längere Beziehungen sehr im Weg. Er ertrug eine Ehe – aus der ein Kind hervorging –, bevor er aus Chelsea nach New York floh. Dort lernte er Deborah Dixon kennen und tauchte in eine Szene ein, die sich auf seine Sinne geradezu elektrisierend auswirkte. Dank ihrer beider schillernden Karrieren und Cammells Status als ein „dem Königreich“ Entflohener schlugen die beiden wie eine Bombe in die gesellschaftlichen Kreise des Big Apple ein.

Kurz vor Beginn der Ära des „Swinging London“ war Paris kurzfristig en vogue, und so zogen Cammell und Dixon in die französische Hauptstadt, um ihre kreativen und persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Mit einem „Basislager“ in der Rue Delambre im Stadtbezirk Montparnasse und einer Welt, in der sich Kunst, Film und Mode vereinten, kamen sie in Kontakt mit unzähligen Persönlichkeiten, darunter auch Anita.

Sie erinnert sich: „Das war wirklich spaßig. Nach einem Zug durch die Clubs am Samstag fuhren wir einfach nach St. Tropez oder machten ähnlich Verrücktes! Jeder schien irgendwie abgedreht zu sein, doch wir hatten unseren eigenen Stil, eher international … wie die kleinen [aber energiereichen] Schritte von James Brown.“

Während Anita in Donald Cammells zwielichtige Welt abtauchte, begann sie eine neue, sexuelle Lebenslust zu entdecken, bei der Erlebnisse außerhalb der monogamen Beziehungen zur Norm wurden.

„Es war absolut extrem“, erinnerte sie sich 1998. „Er wollte alles oder nichts. Was den Sex anbelangte, brachte er dich in riskante Situationen. Auf dieser Ebene war er gefährlich. Er hatte viel Fantasie, eine blühende Vorstellungskraft.“

Auf dem wilden Pariser Tummelplatz von flüchtigen Freundschaften und kurzen Liaisons erwies sich Anitas Beziehung mit Donald Cammell und Deborah Dixon als stabil. Auf dem Höhepunkt der Jugendexplosion der Sechziger hatte Anita alles: Jugend, Freiheit und Mobilität. Plakativ ausgedrückt: Niemals gab es für das Leben auf dieser Welt eine bessere Zeit.

„Für einige wenige Jahre flogen wir einfach“, erzählte Anita 1990 in einem Interview für die Publikation Blinds & Shutters. „Wir hatten alles – Geld, Macht, Beziehungen und unser Äußeres – einfach alles.“