"Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England"

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Letzte Zeitzeuginnen

Wenn sie, wie Myrtha, Anna-Maria oder Helene in England geblieben sind, dann fast immer deshalb, weil genau das passierte, wovor sie in den Fünfzigerjahren so eindringlich gewarnt wurden: Sie verliebten sich, wurden schwanger, heirateten. Myrtha Parsons-Biedermann erzählt vom Happy End einer solchen Beziehung: Sie lernte ihren zukünftigen Mann Roy Parsons, Soldat bei der britischen Armee, buchstäblich auf der Strasse kennen, und weil sie noch zu jung war, um ohne Einwilligung der Eltern zu heiraten, telegrafierte Myrtha nach Winznau bei Olten und bat die Eltern um ihr Einverständnis. Myrtha hat mit Roy bis zu seinem Tod im Jahr 1990 glücklich zusammengelebt.

Vergessen gegangen ist nicht nur, wie viele Frauen gegangen sind, sondern auch, dass so viele nicht mehr zurückkehrten. Die meisten wollten nicht auswandern, aber es hat sich so ergeben, dass sie geblieben sind.

Auch ich habe lange nichts von diesen Frauen gewusst und nur durch Zufall von ihnen erfahren. 2006 machte ich mit dem damaligen Pfarrer der Londoner Schweizer Kirche Swiss Church ein Interview für eine Reportage zu einem anderen Thema. Er erwähnte in einem Nebensatz, es gebe viele ältere Schweize­rinnen in England, die als junge Frauen gekommen seien und ungewöhnliche, manchmal auch ungewöhnlich schwie­rige ­Lebensgeschichten hätten und im Alter materiell oft viel schlechter gestellt seien als gleichaltrige Frauen in der Schweiz. Ich vergass den Satz des Pfarrers nicht mehr, aber weil anderes im Vordergrund stand, begann ich erst im Herbst 2012 zu recherchieren.

Es war nicht immer einfach, diese Frauen aufzuspüren. Google weiss von ihnen nichts. Sie gehören zu einer Generation, die mit der digitalen Welt kaum oder gar nicht in Berührung kommt. «Computer and all that rubbish», bringt die 1926 geborene Annetta Diviani-Morosi ihre Ansicht zu dem Thema auf den Punkt. Nur die jüngste der porträtierten Frauen, die 1939 geborene Anna Noël-Roduner, benutzt das Internet regelmässig. Die meisten haben keinen Computer und keine E-Mail-Adresse. Einige der porträtierten Frauen gehören dem Frauenverein der Schweizer Kirche an – ein guter Ausgangspunkt für die ­Recherche. Auf andere bin ich durch die Zürcher Sozialarbei­terin Margrit Lyster, die in London lebt und lange für die Swiss Benevolent Society gearbeitet hat, gestossen. Manchmal hat auch eine Frau von einer anderen erzählt oder Verwandte in der Schweiz berichteten von einer Grosstante oder Cousine, die seit Jahrzehnten in England lebt.

Viele Frauen, die in den Dreissiger-, Vierziger- oder Fünfzigerjahren gegangen sind, können ihre Geschichte nicht mehr erzählen. Andere wollten sich nicht porträtieren lassen. Manchmal, weil die Erfahrungen, die sie gemacht haben, zu schmerzhaft sind.

In der französischen Schweiz war das Englandjahr ebenso beliebt wie in der Deutschschweiz, und auch Frauen aus der Ro­mandie sind in England geblieben – nur habe ich keine welsche Frau gefunden, die für ein Porträt bereit war.

Auch in den Sechzigerjahren sind die jungen Frauen nach England aufgebrochen, aber unter anderen Voraussetzungen. Der Swissair-Flug Zürich-London trat anstelle der langen Reise durch Frankreich und über den Ärmelkanal. Der Kontakt zu den Familien in Dagmersellen, Pfäffikon oder Vevey blieb während des Aufenthalts in England viel enger, Telefonieren war billiger geworden, und oft kehrten sie schon nach wenigen Monaten zurück. Viele besuchten ausschliesslich eine Sprachschule und arbeiteten nicht mehr in Haushalten – etwas, das früher Töchtern aus vermögenden Familien vorbehalten war. Ab 1956 waren auch in England Au-pair-Anstellungen zugelassen. Zwar taucht der Begriff «Au-pair» schon vorher auf, und viele Frauen, die vor 1956 gingen, benutzen ihn, wenn sie ihr Anstellungsverhältnis beschreiben. Offiziell erteilte England jedoch erst ab 1956 Arbeitsbewilligungen für Au-pair-Stellen. Im Unterschied zur Haushaltshilfe oder zur Hausangestellten sind bei einem Au-pair Lohn und Freizeit klar geregelt.

Die Biografien dieser Frauen wären anders verlaufen und von anderen zeitgeschichtlichen Ereignissen beeinflusst ge­wesen, wenn sie in der Schweiz geblieben wären. Viele haben Männer geheiratet, die im Zweiten Weltkrieg in der britischen Armee, bei der Luftwaffe oder der Navy gedient haben. Was sie im Krieg erlebten, hat später die Beziehungen zu ihren Frauen geprägt. Ihre Erlebnisse waren präsent – auch wenn sie darüber geschwiegen haben: Annetta Diviani-Morosi hat nie erfahren, was ihr Mann Giuseppe im Zweiten Weltkrieg erlebt hat.

In manchen Wohnungen hängen nebst Farbfotografien der Blüemlisalp und von Schloss Windsor auch noch Reminiszenzen einer dritten Kultur: eine gehäkelte Spitzendecke aus Zypern, ein jamaikanischer Strohhut. Viele Frauen haben in England britische Staatsbürger aus ehemaligen Kolonien geheiratet oder Männer, die, wie sie selbst, von anderswoher nach England gekommen sind. Helene Alexandrou-Neeser hat in London nicht nur Englisch gelernt, sondern auch Griechisch, Bea Laskowski-Jäggli Polnisch.

Jede Geschichte ist anders, aber gewisse Dinge erzählen alle Frauen gleich. Ihre Reise begann immer in Basel. Sie fuhren mit dem Zug durch Frankreich bis nach Calais und dann mit dem Schiff über den Ärmelkanal. Für die meisten war es die erste Auslandsreise, und sie erinnern sich sehr genau an ihre Eindrücke: An die bröckelnden Fassaden und kaputten Häuser, die sie schon vom Zug aus sahen. Sie erzählen von schlecht geheizten Häusern, von den offenen Feuern in den Kaminen und vom Wind, der durch Tür- und Fensterritzen blies. Alle erwähnen das Essen: dass es weniger gab oder jedenfalls einfachere Kost, als sie es von zu Hause gewohnt waren. Die Bauerntochter Maria Gibbs-Schwaninger sagt: «Ich bekam nicht zu wenig zu essen, aber ich hatte trotzdem immer Hunger. In England wurde das Gemüse halt nur aus dem Wasser gezogen und fertig. Keine Sauce, nichts.» Es gibt aber auch Frauen, die Hunger hatten an ihren ersten Arbeitsstellen, weil sie zu wenig Essen bekamen.

Die allermeisten sprachen kein Wort Englisch, wenn sie in London am Bahnhof Victoria ankamen. Sie mussten die Sprache von Grund auf lernen. Eine Ausnahme unter den hier Porträtierten ist Augusta Bedding-Mariotta, die in Locarno auf dem Fremdenverkehrsbüro gearbeitet hatte.

Die Frauen erzählen, was ihnen wichtig ist. Was sie erzählen wollen und woran sie sich erinnern. Gleiche Themen nehmen in den einzelnen Porträts unterschiedlich viel Raum ein. Während eine Frau ausführlich von ihren ersten Monaten in England erzählt, handelt eine andere diese Zeit mit ein paar wenigen Sätzen ab. Manchmal sind sie nicht mehr sicher, wann genau etwas stattgefunden hat, und die eine oder andere Begebenheit hat sich vielleicht nicht genauso zugetragen, wie sie in Erinnerung geblieben ist.

Oft sind sie erstaunt, wenn sie hören, wie viele damals gegangen sind. Aber alle erzählen von anderen jungen Schweizerinnen, die gleichzeitig wie sie nach England gekommen oder mit denen sie befreundet gewesen waren.

Die porträtierten Frauen wurden zwischen 1917 und 1939 ge­boren. Zehn von ihnen sind noch vor dem Krieg oder in den Vierziger- und Fünfzigerjahren nach England gegangen und ge­blieben. Im elften Porträt erzählt die 1919 geborene Mina Rui-Oppliger, wie sie im Oktober 1939, kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, in einer der grössten Repatriierungsaktionen in der Geschichte des Landes von England in die Schweiz zurücktransportiert wurde.

In allen Biografien verbirgt sich sehr viel Zeitgeschichte – noch können die Frauen von ihren Erfahrungen erzählen. Sie sind die letzten Zeitzeuginnen eines vergessen gegangenen Kapitels Schweizer Emigrations- und Frauengeschichte.

Guntmadingen SH ­— Glemsford

Maria Gibbs-Schwaninger am 14. Mai 2013 in Glemsford. 30 An der Wand Porträt der Mutter.





«Sieben Meter Stoff
für einen Kilt»

November 1956, Sonntagabend in Golders Green, Nordlondon. Der Tag war neblig gewesen, «gruusig», sagt Maria. Nun ist es dunkel. Maria steht vor einem Schaufenster und schaut die Schuhe in der Auslage an, als sie plötzlich eine Stimme neben sich hört. Welche Schuhe ihr denn am besten gefielen, fragt der junge Mann. Er trägt eine «hässliche runde Brille».

«Oha, dachte ich.»

Woher sie denn komme, will er noch wissen. Und ob er sie auf einen Kaffee einladen dürfe?

«Nein», sagt Maria. Sie starrt auf seine Brille.

Februar 2013. Sudbury, Grafschaft Suffolk, ein winzig kleiner Bahnhof. Am Ende des Gleises steht ein massiver Holzblock, und neben dem Holzblock eine Frau in einem roten Mantel. Sie hebt die Hand und winkt, rot lackierte Fingernägel leuchten. Ihr Auto, sagt Maria in ausgeprägtem Schaffhauser Dialekt, stehe gleich nebenan auf dem Parkplatz. Die Fahrt von Sudbury nach Glemsford dauert eine Viertelstunde. Maria hält vor einem kleinen Reiheneinfamilienhaus. «Talrose» steht auf dem Holzschild neben der Haustür – seit 1985 wohnt sie hier mit ihrem Mann Dennis.

 

«Talrose» – so hiess auch Marias Elternhaus, der Bauernhof in Guntmadingen, wo Maria 1932 geboren wurde und wo sie aufgewachsen ist.

«Wir hatten genug vom Nähen»

Bevor sie an jenem Sonntagabend dem jungen Mann begegnet war, hatte Maria mit ihrer Schweizer Kollegin in einem italienischen Restaurant in Golders Green Spaghetti gegessen. Für two and six, für zwei Shilling und sechs Pence, gab es dort einen grossen Teller voll. «Hunger hatte ich eigentlich immer damals.» Zwar bekommt Maria auch bei Familie Green in Hampstead genug, aber: «Die Mutter war halt eine so gute Köchin gewesen. Tadellos. In England wurde das Gemüse nur aus dem Wasser gezogen, es hatte keine Sauce daran, nichts.»

In dem Restaurant essen auch italienische Arbeiter. Sie kommen aus Bedford, wo in den Fünfzigerjahren viele Italiener in der grossen Ziegelfabrik arbeiten. Einer von ihnen hat jeweils eine leere Zigarettenschachtel aus Metall dabei, Marke Express. Er schüttet Alkohol in die Schachtel und reinigt die Uhren seiner Kollegen. «Er sagte jedes Mal zu uns, wir sollten still sein, sonst wisse er nicht mehr, wie die Rädchen zusammengehörten.» Marias Kollegin hat sich mit einem der Arbeiter angefreundet, und an jenem Sonntagnachmittag geht sie mit ihm ins Kino.

Auch Maria geht ins Kino, alleine, in einen anderen Film. Als sie aus dem Kino kommt, trifft sie den jungen Mann mit der hässlichen «National-Health-Brille» – einer Brille des staatlichen britischen Gesundheitsdienstes National Health Service NHS.

Im Juni 1956 war Maria zusammen mit 35 anderen jungen Schweizerinnen nach England gekommen. Eine Agentur hatte ihnen Stellen vermittelt und die Reise organisiert. Maria war 24 Jahre alt und, abgesehen von kurzen Abstechern «ins Deutsche», noch nie im Ausland gewesen. Frankreich, dann der Ärmelkanal: «Dieses schreckliche alte Schiff, das vergesse ich nie mehr!» Von Dover nach London: «Das war furchtbar, diese Häuser. Nicht einmal angestrichen und ganz verwahrlost.» In London Victoria wartet der Chauffeur am Bahnhof, Maria wird mit dem Rolls Royce abgeholt: «Die Kolleginnen haben nur so geschaut.»

Guntmadingen aus der Vogelperspektive. Auf der grossen Foto­grafie in Marias Wohnzimmer ist ein kleines Dorf zu sehen. Rings um das Dorf Felder, im Süden Wald. Hinter dem Wald beginnt Deutschland.

Maria hatte als einzige von sieben Geschwistern eine Berufsausbildung gemacht, eine Schneiderinnenlehre in Neuhausen am Rheinfall. Nach der Lehre arbeitete sie ein Jahr in Männedorf, zwei Jahre in Olten und dann in Schaffhausen. «Das war eine ganz tolle Stelle in Schaffhausen. Aber manchmal hatten wir einfach genug vom Nähen.» Wir – drei junge Schneiderinnen, die 1956 im gleichen Atelier arbeiten und alle zusammen beschliessen: «Jetzt gehen wir nach England und lernen Englisch.»

«Können Sie denn bügeln?»

Maria hat Glück mit Familie Green in Hampstead: «Es war ein schönes Jahr.» Manchmal holt Mrs Green das grosse Märchenbuch und setzt sich mit Maria an den Tisch. Maria liest vor, Mrs Green korrigiert die Aussprache und erklärt Begriffe, die Maria nicht versteht. «So lernte ich Englisch.» Zu der Familie gehören drei erwachsene Söhne und eine elfjährige Tochter. «Der älteste Sohn war ein richtiger Gentleman. Er brachte seiner Mutter jeden Freitag Blumen mit, ein Büschelchen Schneeglöckchen oder einen Strauss Osterglocken.» Mr Green ist Zigarettenfabrikant – seine Firma stellt auch Express Zigaretten her. Die Fami­lie ist jüdisch, Mr Green isst kein Schweinefleisch, aber «Mrs Green und ich hatten ab und zu ein Schweinskotelette zum Mittagessen».

Maria wird von Anfang an integriert. «Ich sagte einmal zu Mrs Green, ich könne in der Küche essen. Es müsse nicht sein, dass ich bei ihnen am Tisch esse.» Mrs Green antwortete: «Sie gehören zur Familie, Sie gehören zu uns.» Einmal im Monat hat Maria den ganzen Mittwoch frei – dann bekommt sie das Frühstück ans Bett serviert. Arbeit gibt es nur wenig, Maria muss den Eingang sauber halten, abwaschen und für den Hund sorgen. Im gleichen Haushalt sind noch eine Haushälterin und ein Gärtnerehepaar angestellt, und auch der Chauffeur hilft ab und zu mit. Die Wäsche macht Mrs Green selber. «Sie wusch die Kleider und hängte sie im Garten zum Trocknen auf. Aber dann warf sie einfach alles in den Kasten hinein.» Maria fragt, ob sie die Kleider bügeln dürfe. Mrs Green, erstaunt: «Ja, können Sie denn das?» Von da an bügelt Maria die Wäsche.

Hochzeit in Guntmadingen

Maria geht dann alleine Kaffee trinken an jenem nebligen Novemberabend. Dasselbe tut, wie sich später herausstellen sollte, auch der junge Mann, in einem anderen Lokal. «Als wir beide auf die Strasse hinaustraten, stiessen wir erneut aufeinander.» Wieder spricht er Maria an. Wo sie denn wohne, und ob er sie nach Hause begleiten dürfe. Diesmal sagt Maria Ja. Sie gehen zusammen durch den Park Hampstead Heath bis zum Pub Jack Straw’s Castle: «Dort sind wir hinein. Als er an der Bar stand und die Getränke holte, dachte ich: «Hmm, eigentlich nicht schlecht.»

Maria, Februar 2013: «Ich habe einen guten Mann!»

Dennis Gibbs, 1923 geboren, neun Jahre älter als Maria. Er arbeitet bei der englischen Post Royal Mail im Untergrund. Wenn der Postzug mit den kleinen, offenen Wagen anhält, muss Dennis aufpassen, dass die Pakete und Briefe nicht gestohlen werden. Als Mrs Green von Dennis hört, warnt sie Maria und fragt nach Dennis’ Nationalität. «Ein Engländer? Dann kannst du ihn jederzeit nach Hause bringen.»

Im Juni 1957 ist Marias Jahr in Hampstead zu Ende, sie fährt in die Schweiz zurück. Was Dennis denn machen werde ohne sie, fragt Mrs Green. «Und es stimmte! Er ging ja nirgends mehr hin ohne mich.» Im August besucht er Maria in Guntmadingen, sie verloben sich. Dennis kann nicht bleiben, aber er kommt wieder – im April 1958 feiern sie Hochzeit und gehen dann zusammen zurück nach London.

Im Juni beginnt Maria bei Liberty, dem traditionsreichen Londoner Kaufhaus beim Oxford Circus, als Schneiderin zu ar­beiten. Die schottische Kundin, die im Liberty ihren massgeschneiderten Kilt anprobiert, ist erstaunt: «Ich hätte nie gedacht, dass Engländerinnen wissen, wie man einen Kilt macht.» Maria ist die einzige gelernte Schneiderin bei Liberty – sie hat den Kilt zugeschnitten. «Die Falten legen ist ja nicht schwierig. Aber es braucht sieben Meter Stoff für einen Kilt!» Die Engländerinnen, sagt Maria, hätten oft nicht einmal gewusst, wie man ein Schnittmuster macht. «Sie machten ja keine Lehre. Sie begannen einfach zu arbeiten und fertig.» Wenn die Einkäuferin von einer Modenschau aus Paris zurückkommt, muss Maria die Anleitung auf den französischen Schnittmustern übersetzen. «Ich war die einzige, die Französisch konnte.»

Kleider von Liberty sind aus fein gewobenen Stoffen. «Wir nähten alles von Hand, richtig Haute Couture.» Auch Hochzeitskleider von Liberty sind beliebt. Maria näht sie allerdings nicht gern: «Ich fand das langweilig. Immer nur weiss – ewig schneit’s.»

Die Arbeitstage sind kürzer als in der Schweiz. «Um neun begann man zu arbeiten, um zehn gab es Tee und ein Stück ­Kuchen. Von zwölf bis eins Mittagspause, um vier Uhr Tee mit Toast und Butter und Konfitüre. Um halb fünf war man fertig.» Die Klassentrennung wird auch bei Liberty hochgehalten: «Es gab drei Kantinen. Eine für die Arbeiter, eine für die Büroangestellten und eine für die Oberen.»

In einem grossen Schrank im ersten Stock bewahrt Maria 86 Blusen auf aus 86 verschiedenen Stoffen. Sie hat die Blusen alle selber genäht. Viele sind aus Stoff von Liberty. Kurzarm und Langarm. Geblümt, uni, pastellfarbig, bunt. Oder mit dem berühmten Pfauenfedermuster: «Das war das erste Muster, das Liberty druckte. Der typische Liberty print.» Einige Blusen sind viele Jahre alt, andere hat Maria erst vor ein paar Monaten genäht.

1964 wird Dennis befördert, er muss nun Schicht arbeiten. «Bevor er zusagte, diskutierten wir das miteinander.» Maria kündigt bei Liberty und macht sich selbständig. «Sonst hätten wir uns kaum noch gesehen.» In ihrem Haus in High Barnet, am Ende der U-Bahn-Linie Northern Line, richtet sie sich ein Atelier ein. «Ich machte kein einziges Inserat, aber es sprach sich schnell herum. Ich hätte von Anfang an Tag und Nacht arbeiten können.»

«Der Krieg hat ein Stück seines Lebens genommen»

Zu Marias Erzählung gehören auch Geschichten vom Krieg. Einige hat sie selber erlebt, andere hat Dennis erzählt. Im schweizerisch-deutschen Grenzgebiet prägte die Angst vor einem möglichen Einmarsch deutscher Truppen den Alltag. Maria erzählt von der Grenze, die im Schaffhausischen mitten durch die Küche eines Bauernhauses ging – die eine Hälfte der Küche gehörte zu Deutschland, die andere zur Schweiz. Sie erzählt auch von dem grossen aufgemalten Kreuz auf dem Dach eines Bauernhofs in Guntmadingen, weiss vor rotem Hintergrund. «Das war für die Piloten der ausländischen Kriegsflugzeuge, damit sie wussten, wo sie flogen.» Sie erinnert sich auch, wie man sich mit den Jahren an die Angst gewöhnte – vor den Sirenenalarmen und vor den Bomben, die auf Schweizer Seite abgeworfen werden könnten. «Mutter sagte jeweils, wir sollten in den Keller hinunter, wenn die Sirenen gingen. Aber es verleidete uns, und wir sagten dann nur noch: ‹Nein, danke›.»

In der britischen Hauptstadt heulten die Sirenen ständig. Dennis hat Maria vom Anderson Shelter erzählt, einem Luftschutzunterstand aus verzinktem Wellblech, der während des Zweiten Weltkriegs bei Millionen von Briten im Garten stand, auch bei Dennis’ Eltern. Er war sechzehn Jahre alt, als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, und irgendwann hatte Dennis genug vom Krieg und von den Einschränkungen. Einmal weigerte er sich, in den Shelter zu gehen, und in der gleichen Nacht schlug eine Bombe in sein Elternhaus. Dennis hatte grosses Glück. «Er wurde aus dem Bett geschleudert. Das Haus war kaputt, aber Dennis blieb unverletzt.»

Auch in Schaffhausen blieben am 1. April 1944 viele Menschen auf der Strasse, als die Sirenen gingen. Sie suchten den Himmel nach Fliegern ab. Guntmadingen ist sieben Kilometer von Schaffhausen entfernt, Maria erinnert sich an den Vormittag. «Wir waren auf dem Feld und holten Nüsslisalat, als wir plötzlich schwarzen Rauch aufsteigen sahen.» Fast vierhundert Bomben warfen die Flugzeuge der US-Luftwaffe über Schaffhausen ab, knapp vierzig Menschen starben, zahlreiche wurden verletzt. Die offizielle Erklärung lautete später, es habe sich um einen Navigationsfehler der US-Air-Force gehandelt.

Maria erzählt auch von den Flüchtlingen, die durch den Wald nach Guntmadingen kamen. Von dem Mann, den der Vater hinter der Telefonstange fand, als er abends die Pferde am Brunnen tränkte. «Es war ein Deutscher. Es ist ja nur eine halbe Stunde von der Grenze durch den Wald bis in unser Dorf.» Der Mann bat den Vater, er solle ihn nicht anzeigen, aber der Vater entgegnete, er müsse ihn melden. «Was sie danach mit ihm gemacht haben? Ich weiss es nicht.»

Auch ein einzelner Satz ist Maria in Erinnerung geblieben: «Räder müssen rollen für den Sieg – Kinderwagen für den nächsten Krieg» – das stand auf den Güterwagen der deutschen Züge, die in Guntmadingen vorbeifuhren.

Im Winter, wenn der Vater Holz hackte im Wald, kam jeweils der deutsche Grenzwächter herüber, setzte sich auf einen Baumstrunk und hielt einen Schwatz mit dem Vater. Als ob nichts wäre.

Dennis, sagt Maria, habe vieles verpasst wegen des Kriegs: «Der Krieg hat ein Stück seines Lebens weggenommen.» Manches, was für sie selbstverständlich war, hatte Dennis nie gelernt, nie erfahren. Dennis hatte zum Beispiel nie tanzen gelernt. Wenn Maria sich darüber wunderte, meinte er jeweils nur: «Es war halt Krieg.»

Dennis ist seit ein paar Wochen im Spital. Einmal läutet es an der Haustüre, ein Spezialstuhl wird geliefert – Maria bereitet sich auf seine Rückkehr vor. Dennis wird bald neunzig. Er hat verschiedene Beschwerden und wird, wenn er aus dem Spital kommt, nicht laufen können. «Aber das ist mir gleich. Wenn ich ihn nur zu Hause habe.»