"Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England"

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Eine Schwaninger

Viele Erinnerungen an die «Talrose» in Guntmadingen sind gut. «Es war schön daheim, als ich jung war. Man kannte sich im Dorf, wir sind mehr oder weniger alle zusammen aufgewachsen.» Vor Weihnachten trafen sich die Mädchen in einer der grossen Bauernstuben, strickten, halfen einander mit den Handarbeiten. «Und später, als wir älter waren, gingen wir manchmal am Sonntagnachmittag heimlich tanzen ins Nachbardorf. Wenn die Mutter das gewusst hätte!»

Bevor Maria Dennis heiratete, hatte sie Schwaninger geheissen. «Fast alle im Dorf haben Schwaninger geheissen.» Früher, erzählt Maria, seien viele im Alter dement geworden. «Als man dann anfing, aus dem Dorf hinauszuheiraten, wurde es besser.» Auch Marias «Schuelerschatz» war ein Schwaninger gewesen. Walter wartete auf Maria, wenn sie nach dem Kon­fir­man­den­unterricht abends alleine über das Feld nach Hause musste, und begleitete sie. Durch «dick und dünn» seien sie zusammen gegangen, während der ganzen Schulzeit und auch nachher noch. Aber Walter hatte dann eine andere geheiratet, eine Deutsche. «Es tat ein wenig weh.»

Auf dem kleinen Tischchen in Marias Wohnzimmer, auf dem Sofa und auf den Kommoden, liegen gestickte Untersätze und gehäkelte Decken. Rosa und weiss. Wenn Maria in der «Talrose» in Guntmadingen zu Besuch war, hatte die Mutter ihr jedes Mal etwas Gesticktes oder Gehäkeltes mitgegeben – für die «Talrose» in England.

Marias Mutter hatte einen Beruf gelernt, Modistin. Was er denn mit einer Hutmacherin wolle, hatte man den Vater im Dorf gefragt, als die Eltern heirateten. Die könne doch wohl nicht bauern. «Dabei hat sie mehr gearbeitet als alle andern!» Abends, wenn die Kinder schliefen, sass die Mutter bis um Mitternacht in der Stube, nähte Kleider für die Familie.

Die Mutter hatte Maria einige Male in England besucht, der Vater war nie gekommen: «Er konnte es nicht begreifen, dass ich ins Ausland ging. Ich sagte oft, er solle uns doch einmal besuchen, damit er sehe, wo ich wohne. Er meinte dann, er sterbe lieber auf dem Boden, als dass er fliege. Ein richtiger Bauer! Er ging überhaupt nie fort.»

Während des Kriegs, als der Vater im Militär war, schauten die Mutter und Bruno, der Sohn, zum Hof. Bruno, der älteste der sieben Geschwister und einziger Sohn, hätte den Hof später übernehmen sollen. Bruno starb 1946 an Leukämie. Er war 21 Jahre alt, Maria vierzehn.

«Heute bin ich stolz»

2013 ist Maria 81 Jahre alt – sie näht noch immer. «Seit der Lehre war ich eigentlich nie, ohne zu schneidern.» Sie hat noch ein paar Kundinnen, eine ist 98. Jeden Frühling näht Maria für sie eine neue Bluse. «Neulich hat sie zu mir gesagt, wenn sie dann einmal keine neue Bluse mehr wolle, sei sie nicht mehr am Leben.»

Dennis wird Ende Februar 2013 vom Spital nach Hause kommen. Maria wird ihn pflegen bis zu seinem Tod ein paar Monate später und dann alleine in der «Talrose» zurückbleiben.

Kinder? «Jetzt denke ich manchmal schon, es wäre schön, wenn noch jemand da wäre.» Es war nicht so, dass sie keine Kinder gewollt hätten. «Aber Dennis war schon 35, als wir heirateten, und dann mussten wir sparen für ein Haus. Irgendwie passte es nie, und zuletzt war es dann zu spät.»

Heimweh? «Nie. Nur an Weihnachten, wenn es hier regnete, dachte ich manchmal an den Schnee, den wir früher, als wir Kinder waren, zu Hause hatten. Und den Wald habe ich vermisst.»

Gibt es etwas, was ihr wichtig ist, über das wir nicht gesprochen haben? «Nein, nichts», sagt Maria. Und dann: «Ich war eigentlich immer zufrieden mit meinem Leben.»

Wieder zieht sie den eleganten roten Mantel an, steigt in ihr rotes Auto und fährt zum Bahnhof Sudbury zurück. Auf der Rückscheibe des Autos klebt das Schaffhauser Kantonswappen, schwarzer Widder vor gelbem Hintergrund. Der Widder streckt die rote Zunge heraus. Während sie fährt, erzählt Maria noch einmal vom Schneidern, von den vielen Stoffen, die sie noch immer zu Hause hat.

«Früher habe ich mich für meinen Beruf geschämt. Als Schneiderin wurde man immer etwas von oben herab betrachtet, und ich hatte dann auch das Gefühl, das sei etwas Minderwertiges. Ein Hungerleiderberuf. Aber heute bin ich stolz darauf. Jedes Mal, wenn ich etwas nähe, denke ich: Es ist einfach schön.»

Maria Gibbs-Schwaninger ist am 3. Dezember 2016 in Glemsford gestorben.

Dangio TI — London

Annetta Diviani-Morosi am 8. März 2016 in London.




Kleine Foto­grafie an der Wand: Familienhaus in Dangio TI.


Grosse Fotografie hinten: Giuseppe Divi­ani.


«Ich habe das Glück
auch in London gefunden»

In Annettas Geschichte geht es um ein kleines Dorf in einem der nördlichen Tessiner Täler, in denen abends in einer grossen Pfanne über dem Feuer Kastanien gebraten und mit salata mista für das Nachtessen zubereitet wurden. Die Kinder sammelten nach der Schule grosse Säcke voll von Kastanien für das Abendessen, und auch für die Schweine. Diejenigen für die Schweine mussten geschält und getrocknet werden: «Das machten wir gar nicht gerne. Aber aus den Schweinen, die mit Kastanien gefüttert wurden, gab es das allerbeste Fleisch!»

In Dangio im Bleniotal waren die Menschen früher so arm, dass viele das Tal verlassen und in der Fremde Arbeit suchen mussten. Annettas Geschichte ist eng verknüpft mit der Geschichte ihrer Schwiegermutter, Dora Diviani, die 1913 nach London ging, um als Wäscherin in einem Hotel zu arbeiten.

Durch den Hintereingang

Als der englische Schriftsteller Samuel Butler im 19. Jahrhundert auf einer seiner Reisen in die benachbarte Leventina kam, stellte er erstaunt fest, dass es in dem abgelegenen Tal viele Kinder gab, die miteinander Englisch sprachen. Er fragte sich, weshalb, und fand heraus, dass die Eltern dieser Kinder aus der ­Leventina emigriert waren, weil sie keine Möglichkeit gehabt hatten, sich im Tal eine Existenz aufzubauen. Sie waren nach London gegangen und hatten in einem der vielen von Tessinern betriebenen Restaurants und Hotels gearbeitet. Nach ein paar Jahren schickten sie ihre Kinder nach Hause in die Obhut von Verwandten, während sie selber weiterhin in London den Lebensunterhalt verdienten.

Annetta wäre wohl kaum nach London gekommen, wenn sich nicht ihre Schwiegermutter Dora Diviani als Fünfzehnjährige auf der Suche nach Arbeit in die britische Hauptstadt aufgemacht hätte. Schon Doras Eltern waren aus Dangio nach London ausgewandert, wo Dora geboren wurde. Die Mutter kehrte mit ihr ins Bleniotal zurück, der Vater blieb in London als Portier in einem grossen Hotel. Als Dora dann selber nach London ging, arbeitete sie so viel, dass sie von der britischen Hauptstadt nichts anderes kannte als ihr Zimmer und das Hotel – und auch von diesem nur den Hintereingang. Einmal verirrte sie sich auf dem Weg zur Arbeit und fragte einen der Tessiner Marroniverkäufer, die in der Gegend arbeiteten, nach dem Hotel. Er führte sie zu einem Gebäude, aber Dora erkannte es nicht. Erst als der Marroniverkäufer sie auf die Rückseite führte, wusste Dora, dass sie am richtigen Ort war. Dienstboten durften nur den Hintereingang benutzen, und so kannte Dora das Hotel, in dem sie zwölf oder vierzehn Stunden täglich arbeitete, nur von der Rückseite.

Seit 1969 wohnt Annetta in einem weiss getünchten Haus in Dollis Hill, auf einem Hügel im Nordwesten von London. Von ihrem Wohnzimmer aus sieht Annetta auf die Stadt. An den Wänden hängen Aquarelle vom Familienhaus im Tessin und eine Farb­fotografie von Dangio, von der anderen Talseite aus aufgenommen. Auf dem kleinen Sofatisch liegt ein italienisches Buch – «Le terme di Acquarossa» – über die Thermalquelle im Bleniotal.

Annetta schaut oft zu den Fenstern hinaus, auch in der Nacht, auf die Lichter von London. Diese Weite und die Aussicht sind ihr wichtig. Sie erinnern sie an das Bleniotal. Auch Dangio liegt an einem Hang.

Cima Norma

Zu Hause in Dangio mussten Annetta und ihre drei Geschwister viel helfen, wie alle Kinder im Dorf. Putzen, bügeln, Gemüse rüsten; Kastanien sammeln. Die Eltern hatten zwei oder drei Kühe, Schweine, Hühner, ein paar Kaninchen. Die Kinder beklagten sich jeweils, wenn sie im Herbst wieder auf die Greina hinaufmussten, um die Kühe zu holen, ein Weg dauerte fast fünf Stunden. «Wir wollten lieber spielen. Wir waren glück­liche Kinder, weil wir viel Freiraum hatten zum Spielen.» Das Dorf war voller Kinder, etwa zwölf waren im gleichen Alter wie Annetta. Vor Weihnachten oder vor dem Muttertag – Fiesta della Mama, sagt Annetta – sassen die Mädchen zusammen und stickten für ihre Mütter. Die Familienbande waren eng, «sehr eng», einer stand für den andern ein: die vier Geschwister, die Mutter, der Vater. Der Kontakt zur Familie, zum Dorf ist eng geblieben. 1955 ging Annetta nach England, seither ist sie jedes Jahr einmal nach Dangio zurückgekehrt.

 

Annetta skizziert die Dinge mit wenigen, kurzen Sätzen. Ihre ­Beschreibungen konzentrieren sich aufs Wesentliche, mit Details hält sie sich nicht auf. Wie lange sie zur Schule ging, sieben oder acht Jahre? Annetta macht eine wegwerfende Handbewegung: Sie weiss es nicht mehr so genau. Sie lacht. «Wichtig? Wirklich wichtig ist das nicht.»

Sieben oder acht Jahre Schule in Dangio also, dann das obliga­torische Hauswirtschaftsjahr in Biasca. Ein Jahr als Au-pair bei einer Familie in Wettingen, Kanton Aargau, Annetta lernte Deutsch. Später habe sie alles wieder vergessen, aber damals: ­«I could really speak German.» Danach half Annetta zu Hause aus. Und sie arbeitete in der Schokoladenfabrik Cima Norma in Dangio.

1903 waren die Gebrüder Cima – einst aus dem Bleniotal nach Nizza ausgewandert – ins Tessin zurückgekehrt und hatten in Dangio eine Schokoladenfabrik gegründet. In den ersten Jahren war das Unternehmen vom Pech verfolgt – 1908 wurde die Fabrik von einer Rüfe weitgehend zerstört, 1915 brannte das Hauptgebäude nieder –, danach wendete sich das Blatt. Cima Norma wurde mit 340 Arbeitsplätzen zum wichtigsten Indu­s­triebetrieb im Bleniotal. Coop, Usego und Volg waren Hauptabnehmer der auf fast 800 Metern Höhe über Meer produzierten Schokolade. Bis 1966 war Cima Norma die Schokoladenhausmarke von Coop. Viele, die auswandern und ihren Lebensun­terhalt in der Fremde hätten verdienen müssen, konnten dank Cima Norma im Tal bleiben. Annettas Vater arbeitete dort ebenso wie Annetta und eine ihrer beiden Schwestern. Die Schwester arbeitete im Büro, Annetta in der grossen Halle, wo die Schokolade in Papier gewickelt und in Kisten verpackt wurde.

Als die Fabrik 1968 geschlossen wurde, bedeutete das für das Tal einen massiven Verlust von Arbeitsplätzen. «Was für eine Tragödie!», sagt Annetta – sie selber war damals schon seit Langem in London.

Ein schreckliches Jahr

Annetta kannte Giuseppe Diviani schon vor jenem Sommer, in dem er sie fragte, ob sie nach England kommen wolle, allerdings nur flüchtig. Giuseppe, an der Oxford Street geboren und in London aufgewachsen, kam manchmal in den Ferien nach Dangio, in das Dorf, aus dem seine Mutter stammte. Als Giuseppe Annetta im Sommer 1954 nach England einlud, sagte Annetta sofort Ja. Im Frühling 1955 ging sie also nach London, mit dem Zug und dem Schiff. Zurück flog Annetta mit dem Flugzeug. Die Mutter hatte sich gewehrt: «No, no, no.» Sie wollte nicht, dass ihre Tochter in ein Flugzeug stieg. Aber Giuseppe hatte insistiert. «Die Flughäfen waren damals fast leer. Fliegen war schon noch ein ziemliches Abenteuer.» Im Sommer 1955 fuhr Annetta wieder nach London, wieder mit dem Zug, diesmal um zu heiraten. Eine Schwester und der Bruder begleiteten sie.

«Was für eine Tragödie!», sagt Annetta, wenn sie von dem Unfall spricht, der sich in Dangio wenige Tage vor ihrer Abreise ereignete. Zwei von Annettas Cousins wurden im August 1955 von einem Motorrad getötet. «Vor dem Abendessen gingen wir noch ein wenig spazieren, das war so üblich in Dangio», erzählt Annetta. Und das taten an jenem Abend auch ihre drei Cousins, als das Motorrad mit übersetzter Geschwindigkeit durchs Dorf raste. Der Lenker verlor die Kontrolle und fuhr in die drei Brüder; nur einer von ihnen überlebte. Am 15. August, wenige Tage nach der Beerdigung, ging Annetta nach London. Am 27. August heiratete sie Giuseppe Diviani.

«Was für eine Tragödie!», sagt Annetta auch, wenn sie von ihrem Schwager spricht, dem Mann von Giuseppes Schwester Linda. Eine Woche, nachdem Annetta und Giuseppe geheiratet hatten, brach der Schwager auf dem Tennisplatz zusammen. Freunde, die das Spiel verfolgten, meinten zuerst, er mache einen Witz. «He was a joker.» Einer, der gerne den Clown spielt. Aber der Schwager hatte diesmal keinen Witz gemacht; sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Als Annetta schwanger wurde, freute sich Giuseppes verwitwete Schwester Linda, die selber keine Kinder hatte bekommen können. Immer wieder sagte sie zu Annetta, wie sehr sie sich freue. Ein paar Tage, bevor Annettas Kind zur Welt kam, hatte Linda einen Motorradunfall. Linda hatte den Roller selber gefahren und war sofort tot. Annetta brachte ein Mädchen zur Welt. Sie tauften es Linda.

«Was für Tragödien!», sagt Annetta, wenn sie von diesem Jahr spricht. Aber danach blieb das Unglück aus. Eine gute Ehe, «a very very good man», sei Giuseppe gewesen. Annetta lacht. Und fügt sogleich hinzu: «Eine Beziehung ist immer auch harte Arbeit.» Sie hat sich ganz auf ihre drei Kinder eingelassen, Linda, Stéphanie und Philip. «Ich wollte die Kinder, und ich wollte sie selber aufziehen.» Giuseppe verdiente als Optiker bei der Firma Carl Zeiss genug, um die Familie zu ernähren.

Giuseppe? Es gibt etwas, worüber Giuseppe nie gesprochen hat. Er sprach nie über den Krieg, über die vier oder fünf Jahre als Marinesoldat bei der britischen Navy. Giuseppe erzählte Annetta nur, es habe ihm gefallen: «He loved it.» Und dass er an allen möglichen Orten auf der Welt gewesen sei mit der Navy, in Russland zum Beispiel. Aber sonst erzählte Giuseppe nichts. Annetta hat das oft gehört von anderen Frauen in London, dass ihre Männer, die im Zweiten Weltkrieg an der Front gewesen waren, später nie mehr darüber sprechen wollten. Nur etwas hat Giuseppe dann doch erzählt: Dass das Schiff, auf dem er im Einsatz war, einmal bombardiert wurde. Giusep­pe blieb unverletzt. Aber viele seiner Kollegen, die über Monate hinweg mit ihm auf dem gleichen Schiff gewesen waren, starben.

Es gibt diese Briefe, die Giuseppe an seine Eltern geschrieben hat, während er bei der Marine war. Seine Mutter bewahrte sie auf, jetzt sind die Briefe bei Annetta. Sie hat sie alle gelesen, und sie hatte gehofft, etwas mehr über Giuseppes Zeit im Krieg zu erfahren. Aber Giuseppe berichtete auch seinen Eltern nicht, was er erlebte. Vielleicht seien die Briefe zensiert worden, meint Annetta. Oder Giuseppe konnte nicht über das schreiben, was er erlebt hatte. So wie er später nicht darüber sprechen konnte.

Maisgries aus dem Tessin

Ob sie mit ihren drei Kindern Italienisch gesprochen habe? Nein, sagt Annetta, aber Tessiner Dialekt. So, wie man zu Hause in Dangio sprach. Linda, die älteste Tochter, arbeitete später in der Reisebranche. Sie habe in Siena Italienisch gelernt, Philip hingegen, der Sohn, spreche nicht Italienisch, erzählt Annetta. «Nur Dialekt.»

Als sie nach London kam, konnte Annetta kein Wort Englisch. «Nothing at all.» Eigentlich wollte sie damals eine Schule besuchen, um Englisch zu lernen – Rechtschreibung, Gram­matik –, aber irgendwie war es dann doch nie dazu gekommen. Nach der Heirat hatte Annetta mit dem Schwiegervater ihr Haus in Kilburn im Nordwesten von London renoviert. Der Schwiegervater kam aus Campello in der Leventina, und natürlich sprach Annetta in jenen ersten Monaten in Kilburn vor allem Tessiner Dialekt. Dann waren die Kinder gekommen, und das mit der Schule und der Grammatik war vergessen gegangen. «Und jetzt vermeide ich es halt einfach, Englisch zu schreiben. Ich habe Angst davor.» Annetta lacht.

Annetta, selber einmal Au-pair in der Deutschschweiz, hat sich in London um Au-pairs aus dem Tessin gekümmert. «Viele sprachen ja gar kein Englisch und waren froh, wenn sie am ­Anfang von jemandem unterstützt wurden.» Es sprach sich her­um unter den jungen Tessinerinnen, dass man sich an Annetta wenden konnte, wenn der Anfang schwierig war, wegen der Sprache oder dem Arbeitgeber. Manchmal kochte Annetta Tessiner Spezialitäten für die Au-pairs. Auch das sprach sich herum: «Si mangia bene da Annetta.»

Annetta erzählt dann noch von einem Verwandten aus Giuseppes Familie, der vor dem Zweiten Weltkrieg jeweils zum Bahnhof ging, London Victoria, und Ausschau hielt nach jungen Frauen, die verloren um sich schauten auf dem Perron. «Are you coming from Switzerland?», fragte er dann, und wenn sie bejahten, half er ihnen, sich zurechtzufinden, schaute, dass sie dort ankamen, wo sie erwartet wurden.

Wenn Annetta in London Polenta kocht, tut sie das mit Maisgries aus dem Tessin. Sie kocht dann zum Beispiel Coniglio con polenta, Kaninchen mit Mais. Wenn die Grosskinder, die inzwischen alle erwachsen sind, zu Besuch kommen, fragt sie jeweils, was sie essen möchten. Sie sagen dann «Risotto». Oder «Polenta». Sie mögen die Tessiner Spezialitäten. Auch die porcini, die Steinpilze, die es in Annettas Risotto hat, kommen aus dem Tessin, aus den Wäldern des Bleniotals. Eine Verwandte aus Dangio schickt sie nach London.

Im Sommer ging Annetta jedes Jahr mit ihren Kindern nach Dangio. Sie wohnten in dem Haus mit dem grossen Garten, das ihrer Familie gehört. «Sobald wir im Dorf ankamen, waren die Kinder auch schon verschwunden. Sie wollten alles wiedersehen, die Ställe und die Häuser, und mit den andern Kindern spielen.»

«Ich habe ein gutes Leben gehabt», sagt Annetta. Und fügt hinzu: «You make it yourself» – jeder seines eigenen Glückes Schmied. Annetta ist fest verwurzelt im Bleniotal. Es ist kein Widerspruch, wenn sie sagt: «Heimweh habe ich nie gehabt.» Und: «Ich habe das Glück auch in London gefunden.» Dangio ist irgendwie immer dort, wo Annetta ist.

«My children are good children», sagt Annetta von Linda, Stéphanie und Philip. «Sie schauen gut zu mir. Sie sind so taktvoll und hilfsbereit. Sie machen alles für mich.» Giuseppe, sechs Jahre älter als Annetta, starb bereits 1989, wenige Jahre nach seiner Pensionierung.

Stéphanie und ihr Mann nehmen Annetta jedes Jahr nach Dangio mit. 2016 zögerte Annetta ein wenig. Es ist steil im Bleniotal, und sie ist nicht mehr so gut zu Fuss. Sie ging dann trotzdem. «Wenn man einmal nicht mehr geht, geht man plötzlich gar nicht mehr.» Sie fahren dann jeweils mit dem Auto, Annetta auf dem Rücksitz. Sie lagert die Füsse hoch und schaut zum Fenster hinaus und lässt die Landschaft zwischen London und Dangio an sich vorbeiziehen. Die gleiche Strecke, die ihre Vorfahren aus dem mausarmen Bleniotal machten, wenn sie fortgingen aus dem Tal, nordwärts zogen, auf der Suche nach Arbeit – nur in umgekehrter Richtung.

Zwieselberg BE — Chelmsford–Newcastle

Anna-Maria Webb-­Eggen am 25. März 2017 in Newcastle.



Grosse Fotografie an der Wand: Anna-Marias Elternhaus in Zwieselberg BE.


Porträt des Vaters.



Auf dem ­Büchergestell hinter dem Bügeleisen: Holzhobel von Anna-Marias Vater.

«In Dover versprach ich den Hafenbehörden, innert drei Wochen zu heiraten»

Anfang Januar 1954 legt das Schiff nach der Fahrt über den Ärmelkanal in Dover an. Die Passagiere gehen von Bord, eine Reisende wird von den Hafenbehörden zurückgehalten. Die junge Schweizerin hat keine Arbeitsbewilligung und ist auch nicht verheiratet in England – für die britischen Behörden gibt es somit keinen Grund, die 23-jährige Anna-Maria Eggen ins Verei­nigte Königreich einreisen zu lassen. Aber Anna-Maria sagt den Beamten, sie sei bereits ein Jahr in England gewesen und habe ihre Familie in der Schweiz besucht. Sie sei schwanger und Narinder, der Vater des Kindes, erwarte sie am Londoner Bahnhof Victoria. Sie zeigt ihnen einen handgeschriebenen Brief. Narin­der erwähnt darin ihre Ankunftszeit und versichert, er werde Anna-Maria abholen.

Während Anna-Maria in Dover festsitzt, wartet Narinder in London. Als die letzten Passagiere aus dem Zug von Dover ausgestiegen sind, wartet Narinder weiter. Anna-Maria kommt auch nicht mit dem nächsten Zug. Narinder wird unruhig. Schliesslich gibt er ein Telegramm in die Schweiz auf, nach Zwieselberg bei Gwatt. In dem kleinen Berner Oberländer Dorf am Thunersee spricht niemand Englisch. Es dauert eine Weile, bis Anna-Marias Eltern den neuen Lehrer gefunden haben, der die Nachricht übersetzen kann. Als sie hören, was in dem ­Telegramm steht, dass ihre Tochter nicht angekommen sei in London Victoria, werden auch die Eltern unruhig. Wo ist Anna-­Maria?

 

«Ich bin das Meieli», stellt sich Anna-Maria im November 2012 in Chelmsford vor. Seit 2000 lebt sie hier mit ihrem Partner Alan in einem kleinen Reihenhäuschen an der Tavistock Road Nr. 4. Chelmsford liegt in der Grafschaft Essex, nordöstlich von London, eine halbe Stunde mit dem Zug vom Bahnhof Liverpool Street. In Chelmsford sind die Hauspreise tiefer als in London, viele pendeln von hier aus zur Arbeit in die Hauptstadt.

Anna-Maria verspricht den Hafenbehörden, sie werde innerhalb von drei Wochen heiraten. Die Beamten glauben ihr schliesslich, lassen Anna-Maria gehen. Als sie in London Victoria ankommt, wartet Narinder noch immer: «Er war in einem Züg drin, als ich dann endlich kam.»

In Zwieselberg trifft kurz darauf ein zweites Telegramm ein. Diesmal von Anna-Maria, auf Deutsch. Die Eltern atmen auf.

Anna-Maria hält das Versprechen, das sie am Hafen gegeben hat: Drei Wochen später, Ende Januar 1954, heiratet sie in South­end, einem Küstenort östlich von London, Narinder.

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