Morgen wird ein guter Tag

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Ein Jahr später – es war eine Nacht im Juni 1936 – wurde die ganze Familie in den frühen Morgenstunden durch Elsies panisches Schreien geweckt. Vater und ich warfen uns die Morgenmäntel über, schlüpften in die Pantoffeln und rannten zum Nachbarhaus, wo wir sie vollkommen aufgelöst vorfanden, mit einem Finger auf die Garage zeigend. Elise hatte an dem Tag an einer Exkursion der Handelskammer nach Edinburgh teilgenommen und war erst sehr spät heimgekehrt. Billy lag nicht im Bett. Als sie nach ihm sah, hörte Elsie das Geräusch eines laufenden Motors aus der Garage, aus der der Geruch von Abgasen drang, die – wie sie es später beschrieb – einen „merkwürdigen Geschmack“ in ihrem Mund hinterließen. Dann fand sie Billy auf dem Fahrersitz seiner historischen Limousine. Die Garage stand etwas abseits ihres Hauses und nur wenige Meter von meinem Zimmer entfernt, doch ich hatte rein gar nichts gehört.

Dad und ein zufällig vorbeikommender Passant gingen zuerst rein und stellten den Motor ab. Ich folgte ihnen, wonach wir alle hustend zurückwichen. Elsie stieß einen klagevollen Schrei aus. Mein geliebter Onkel Billy saß zusammengesackt auf dem Vordersitz und war zweifellos tot. Er wurde nur 55 Jahre alt. Wir werden es niemals eindeutig wissen, doch die Familie zeigte sich überzeugt, dass er sich selbst tötete, indem er während Elsies Abwesenheit in die abgedichtete Garage ging, sich in das Fahrzeug setzte und den Motor startete. Vater bat Mum, sich um Elsie zu kümmern und sie hineinzugeleiten, woraufhin er und ich Billys leblosen Körper ins Haus tragen mussten. Ich war 16 Jahre alt und werde niemals vergessen, wie wir seine Füße anhoben und mit der Last der Leiche meines geliebten Onkels aus der Garage zurückschlurften.

Nach Billys Tod entdeckte Dad, dass sein älterer Bruder in schweren finanziellen Problemen steckte, die sich – da er das Bauunternehmen größtenteils leitete – auch auf uns auswirkten. Es war ein so unglaublich trauriges Ende für einen von mir so geschätzten Mann. Ich hätte wirklich gern mehr gewusst, um seine Entscheidung besser verstehen zu können. Leider redeten wir nie wieder darüber. Auch trug niemand aus der Familie die schwarzen Armbänder, die in jenen Zeiten für Trauernde normal waren. Die Botschaft war klar – Billys Tod traf und bedrückte uns alle, doch die Familie Moore wollte nach außen nicht viel Aufhebens darum machen.

Die Yorkshire Post, die Leeds Mercury und die Keighley News publizierten warmherzige Gedenkartikel, wobei Billys Karriere als Motorradfahrer im Fokus stand, bevor sie über die öffentliche Untersuchung berichteten, die laut Gesetz vorgeschrieben war. Ich ging nicht dorthin, sah aber die Berichte, in denen man den Leichenbeschauer (Pathologen gab es ja noch nicht als solche) und die Polizei in vollem Umgang zitierte. Meinem Vater blieb von behördlicher Seite eine Zeugenaussage erspart, vermutlich wegen seiner Taubheit. Basierend auf Aussagen von Elsie und dem zufällig vorbeigekommenen Mann, der als Erster den Schauplatz des tragischen Ereignisses betrat, schätzte der Mediziner, dass Billy schon drei Stunden lang tot gewesen war, als Elsie ihn entdeckte. Nachdem er sich die ganzen Berichte angehört hatte und da kein Abschiedsbrief zu finden war, schickte der Leichenbeschauer uns einen Abschlussbericht, in dem er Billys Ableben als Unfalltod aufgrund einer Kohlenmonoxidvergiftung angab. Er stellte fest, dass Billy zum Todeszeitpunkt eine Reparatur an seinem Wagen durchgeführt und nicht erkannt habe, dass er in dem engen Raum an den Abgasen sterben konnte. Wir waren alle dankbar über dieses Urteil, auch wenn wir es besser wussten. Billy war kein Idiot gewesen.

Elsie erholte sich nie wieder von der Tragödie. Sie schottete sich von uns und der Welt ab, verkaufte das Haus ein Jahr später und lebte zuerst in einem kleineren Heim einige Straßen weit weg. Dann – nach ein paar Jahren – zog sie noch weiter weg. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals wiedergesehen zu haben. Sie erlaubte mir nicht, etwas von Billys Habseligkeiten als Andenken aufzubewahren oder den Keller nach Ersatzteilen zu durchstöbern. Ich bin mir sicher, dass er es gewollt hätte. Ich durfte auch nicht die Motorradmagazine haben, denn Elsie beauftragte ein Entsorgungsunternehmen, das alles wegwarf. Es schien so, als habe Billy niemals existiert. Doch für mich war er da und lebte fortan in meinem Herzen weiter.

5

„Man muss nichts im Leben fürchten, sondern es nur verstehen.

Und nun ist die Zeit zu verstehen, damit wir uns weniger fürchten.“

Marie Curie (1867–1934)

Kurze Zeit nach Billys Tod schlugen meine Eltern vor, dass ich mit einigen Schulfreunden an einem Zeltlager für Jungs auf der Isle of Man teilnehmen sollte. Sie dachten wohl, es würde meine Stimmung aufhellen, da ich meinen Onkel schmerzlichst vermisste. Und schon ging es los. Ich packte den Koffer, nahm meine Kamera mit und verbrachte mit zwei anderen Jungs eine Woche in einer Holzhütte. Der eine war Stanley Shackleton, und den anderen kannte ich nur unter dem Namen Pickles.

Wir bereisten die ganze Insel, wo ich viele Fotos machte, die ich später mit Dad entwickelte. Auf eins bin ich immer noch ganz stolz. Es zeigt das berühmte Laxey Wheel, das größte funktionstüchtige Wasserrad der Welt. Es wurde ursprünglich 1854 entworfen, um Wasser aus einer Mine zu befördern, in der man Blei, Kupfer und Zink abbaute. Reisen ermöglichten mir eine Perspektive, die über meine eigene Welt hinausging, und in diesen Jahren wurde ich mir meiner glücklichen Situation bewusst. Ich war fit und gesund, hatte eine liebende Familie, ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch. Man musste damals nicht weit schauen, um die Auswirkungen der Großen Depression zu sehen, der Weltwirtschaftskrise, die mit Massenarbeitslosigkeit einherging, in einer allgemeinen Nachkriegsrezession, die durch den Aktien-­Crash 1929 noch verschlimmert wurde. In Keighley herrschte große Armut, und wenn die Fabriken betroffen waren, wirkte sich das blitzschnell bei den Arbeitern aus. Einige setzten sich nach Spanien ab, um sich den 4000 britischen Freiwilligen anzuschließen, die dort „das Virus des Faschismus“ in einem erbitterten dreijährigen Bürgerkrieg bekämpften, den sie möglicherweise kaum verstanden. Manche haben sich wahrscheinlich durch das Angebot eines kleinen Solds verführen lassen. In Großbritannien gab es einige Hungermärsche, bei denen Männer und Frauen – vielen von ihnen aus dem Norden und somit den Gegenden der hohen Arbeitslosigkeit kommend – bis vor das Parlament zogen, um zu protestieren. In London fanden zahlreiche tumultartige Auseinandersetzungen statt und große Demonstrationen, die sich oft in regelrechte Schlachten verwandelten, während Premierminister Ramsay MacDonald eine dringliche Überprüfung der Arbeitslosenpolitik der Regierung anordnete. In den USA erfreute sich Franklin D. Roosevelt eines erdrutschartigen Siegs über seinen Kontrahenten, den vorherigen Präsidenten Herbert Hoover. Er hatte einen „new deal“ in Aussicht gestellt, darunter eine Arbeitslosenversicherung für die Bevölkerungsschichten, die keine Lobby hatten. Und in Deutschland war Adolf Hitler von der NSDAP nun schon drei Jahre lang Reichskanzler und mit ähnlichen Versprechen an die Macht gekommen. Er wollte die eingeschränkten Möglichkeiten des Landes nach dem Großen Krieg wieder verbessern und ausweiten.

Ich wusste, dass sich die Leute Sorgen wegen Hitler machten und sich vor dem zunehmenden Nationalismus in Deutschland fürchteten, doch das schien alles so weit entfernt zu sein – bis ich die erste Begegnung mit den Deutschen hatte, und das in meiner unmittelbaren Nähe. Im Mai 1936 tauchte die berühmte „Hindenburg“ plötzlich am sonnigen Abendhimmel in Keighley auf und schwebte dort beinahe bewegungslos zwischen den Wolken. Wir rannten alle aus den Häusern, um uns das gigantische silberne Luftschiff anzusehen, während Vater von seinem Zimmer aus ein seltenes Foto schoss. Mit einer Länge von über 246 Metern war die LZ 129 Hindenburg, die im März des Jahres ihren Jungfernflug gemacht hatte, der größte kommerziell genutzte Zeppelin der Welt. Sie flog mit circa 100 Passagieren und einer Crew nach und von Amerika und Brasilien. Auf dem Weg von Deutschland in die USA – es war eine geradezu epische dreitägige Reise – machte das Luftschiff, auf dessen Endflügeln Hakenkreuze prangten, einen Abstecher nach Keighley, einzig und allein, damit ein an Bord befindlicher Bote ein kleines Päckchen und Blumen zu Ehren seines Bruders Franz abwerfen konnte, der an der Spanischen Grippe verstorben war, mit der er sich 17 Jahre zuvor im Kriegsgefangenenlager von Skipton angesteckt hatte.

Zwei Jungen aus dem Ort – völlig verblüfft von dem riesigen Zeppelin, der wie ein Raumschiff über ihnen schwebte – hoben das Päckchen nahe des Devonshire Arms Inn auf und rannten nach Hause, um ihren Eltern davon zu berichten. Abgesehen von den Nelken hatten sie ein kleines Kreuz aus Jet gefunden und einen Brief mit dem folgenden Inhalt.

An den Finder dieses Briefes: Bitte legen Sie die Blumen und die Karten auf das Grab meines geliebten Bruders Leutnant Franz Schulte, 1. Garderegiment zu Fuß, Kriegsgefangener und bestattet auf dem Friedhof in Keighley, nahe Leeds. John P. Schulte, der erste fliegende Priester, Aachen, Deutschland. P.S. Bitte behalten Sie die Briefmarken und die Bilder als kleines Souvenir von mir. Gott schütze Sie! Ich hielt die erste Heilige Messe auf der Hindenburg am 9. Mai 1936.

Die Jungen befolgten die Bitte, und das Gedenkschreiben vom Himmel erregte landesweites Aufsehen. Die beiden schafften es sogar in die British Movietone News, woraufhin die Leute das Grab in Scharen aufsuchten. Es stellte sich heraus, dass Leutnant Schulte, 26, zur deutschen Luftwaffe gehörte und Bomben über London abgeworfen hatte, bevor man ihn in Kent abschoss. In den Houses of Parliament wurden plötzlich Fragen über die tatsächlichen Beweggründe der Stippvisite gestellt. Da die politische Lage in Europa Anlass zur Sorge gab, regten sich Befürchtungen, dass der Abwurf des Päckchens eine Finte gewesen sein konnten, um strategisch relevante Fotos der Gegend zur Vorbereitung möglicher Bombardierungen zu machen. Niemand hätte zu der Zeit ahnen können, dass die mit Wasserstoff befüllte Hindenburg ein Jahr später bei der Landung auf dem Flughafen des Stützpunkts der US-Marine in New Jersey, USA, lichterloh in Flammen aufgehen würde. 36 Menschen kamen ums Leben, doch der „fliegende Priester“ gehörte nicht zu den Opfern der Tragödie.

 

Ein anderes Ereignis lenkte in dem Sommer unsere Aufmerksamkeit auf Deutschland, denn man richtete die Olympischen Spiele in Berlin aus. Es waren die ersten, die übertragen wurden. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mir einige der Wochenschauen im Lichtspielhaus ansah und dem amerikanischen Leichtathleten Jesse Owens applaudierte. Er gewann nicht weniger als vier Goldmedaillen, was den rassistischen Hitler zur Weißglut brachte, der seine besten Athleten aufgestellt hatte. Er weigerte sich, Owens die Hand zu geben.

Wie die meisten Teenager – und obwohl sich meine Eltern beide in der Conservative Association engagierten – hatte ich keine Ahnung, was Hitlers Politik für die Welt bedeutete. Ich konnte auch nicht einschätzen, welche umfangreichen sozialen Umbrüche die Weltwirtschaftskrise, die seinen Aufstieg erleichterte, nach sich ziehen würde. Ich erinnere mich hingegen noch an den sogenannten Jarrow Crusade, bei dem 200 Männer von Tyneside nach London marschierten, nachdem man ihre Werft geschlossen hatte, eine bis dahin florierende Industrieanlage, in der über 1000 Schiffe gebaut worden waren. Die Männer in dunklen Anzügen mit mürrischen Gesichtern und flachen Mützen kamen nicht durch Keighley, sondern zogen von Jarrow nach Ripon, von dort über Harrogate nach Leeds und weiter über Wakefield, Barnsley und Sheffield in den Süden, wofür sie bis London einen Monat brauchten. Im Kino wurde berichtet, dass man die Marschierenden großzügig mit Essen und Unterkünften auf ihrer Route unterstützte. Auch auf lokaler Ebene war das Mitgefühl zu spüren, das man den Arbeitslosen entgegenbrachte, doch es gab ebenso viel Unverständnis. Ironischerweise und trotz großer Bemühungen war es letztendlich nicht das Handeln der Regierung, das den Männern aus Jarrow zu Hilfe kam, sondern der nächste Krieg.

Ich war dankbar, in solchen Zeiten eine feste Anstellung zu haben. Der mögliche Aufstieg in eine Managerposition übte zudem eine starke Anziehung auf mich aus. Nach bestandener Führerscheinprüfung durfte ich nun endlich mit dem Motorrad auf öffentlichen Straßen fahren. Leider hatte ich meine Royal Enfield aus finanziellen Gründen verkauft und es dauerte noch eine Weile, bis ich mein nächstes Motorrad bekam.

Nach dem Abschluss meiner Prüfung bei Mr. Wood übergab er mir feierlich einen 16-teiligen Ingenieurzeichenkasten, der zusätzlich Kompass und Winkelmesser enthielt. Die Arbeitsutensilien lagen in einem mit blauem Samt ausgeschlagenen Kasten und sind ein geschätzter Besitz, den ich immer noch aufbewahre. Kurz danach besuchte ich das Bradford Technical College, um Bauingenieurwesen zu studieren. Dort wurde ich Mitglied des Institute of Civil Engineers – nicht schlecht für einen Jungen, der die Differenzial- und Integral­rechnung hasste. Mein Traum war die Laufbahn eines Bauingenieurs, der Brücken oder Straßen konstruierte, doch zuerst musste ich meine Qualifikation nachweisen. Da Bradford 16 Kilometer entfernt lag, fuhr ich immer mit meinem Raleigh-Fahrrad dorthin, bis mir mein Vater ein neues Motorrad kaufte – eine 1936er BSA 600 ccm mit seitlichem, lang gezogenem Auspuff. Ich tuckerte damit Tag für Tag zum College – angesichts der Landschaft in Yorkshire eine wunderschöne Fahrt.

Ich hatte auch eine neue Freundin, Marjorie Butterfield, deren Mutter den Black Bull Pub in Haworth führte. Marjorie war ein hübsches, süßes Mädchen, und sie trug gern Röcke, die ihre Ausstrahlung unterstrichen. Glücklicherweise hatte die Mode sich so entwickelt, dass Röcke nicht mehr bis zu den Knöcheln reichten, sondern bis knapp unterhalb der Knie „aufgestiegen“ waren. Ich brachte Marjorie mit nach Haus, um sie meinen Eltern vorzustellen, die sie zu mögen schienen. Solange es so aussah, als entstände aus der Beziehung zu meinen Freundinnen nichts Ernstes, bereiteten sie mir keine Probleme, nicht zuletzt, weil mein Vater auch hübsche Mädchen mochte.

Ich war zwar kein von Natur aus begabter Tänzer, aber nahm mit 16 Jahren Unterricht in Walzer, Foxtrott und Quickstep. Ich machte das vor allem, um an die Damen heranzukommen, denn in Keighley gab es jede Woche Tanzveranstaltungen, auf denen ich mich beweisen musste. Im Winter richtete man die Tanztreffs in den Keighley Baths aus. Für die interessanteren – die privat stattfanden – benötigte man eine Einladung. Eins war klar – ob ich nun allein dorthin ging oder mit Marjorie –, ich musste mich herausputzen und gepflegt in einem schwarzen Anzug erscheinen und bloß nicht in der wollenen Arbeitskluft. Wir tanzten damals zur sogenannten Tanzsalon-Musik, zu deren Vertretern Joe Loss und seine Band gehörte. Sie wurde entweder live im Radio übertragen oder mit einem Grammophon abgespielt. Ich erinnere mich nicht, ob Freda mit zu den Tänzen kam, aber vermutlich nicht, was eine Schande ist, denn sie verpasste einiges. Sie hatte nur einen Freund gehabt, einen Kerl, den mein Vater nicht billigte, da er „nach nichts aussah“. Das war es dann auch schon. Aus Respekt vor Dad – das glaube ich zumindest – führte sie nie wieder eine Beziehung, was ich bedauerlich fand, denn sie hätte eine wunderbare Mutter abgegeben.

Trotz der Normalität meiner sorgenfreien Jugendjahre, die ich am College, bei den Tanzveranstaltungen und in der Familie verbrachte, wusste ich, dass sich hinter meinem beschränkten Horizont ein Gespür für eine zunehmende Bedrohung zusammenbraute. Wir als Nation konnten das Gefühl nicht abschütteln, dass ein weiterer Krieg im Bereich des Möglichen lag. Die aktuellen Nachrichten aus Europa wurden regelmäßig über das Radio oder im Kino verbreitet und die neusten Meldungen aus Deutschland füllten die Seiten der Daily News, die mein Vater täglich las, wie auch der Keighley News an jedem Samstag.

Auf eine befremdliche Art machte uns diese stetig steigende Anspannung hinsichtlich der tatsächlichen Möglichkeit eines Konflikts taub. Man rechnete schon so lange damit, dass man mit der Zeit abstumpfte. Außerdem waren wir eine Familie, in der große Sorgen nie offen gezeigt wurden. Erst jetzt wird mir klar, wie erschreckend der Gedanke, dass man mich in den Krieg schicken könnte, für meine Eltern gewesen sein musste. Davor ängstigte sich vermutlich vor allem mein Vater, der uns alle zusammenhalten wollte, sicher und in guter Verfassung. Meine Mutter muss wohl auch meine Einberufung befürchtet haben, doch sie hätte mir das niemals anvertraut. Ich bin sicher, dass meine optimistische Natur von ihr kommt. Meine Eltern schauten immer auf die freudigen Seiten des Lebens und näherten sich dem, was da wohl kommen mochte, in derselben geistigen Grundhaltung wie ich: Mach dir mal nicht zu viele Sorgen vor morgen. Morgen wird ein guter Tag.

Ich war damals wahrscheinlich viel zu sehr mit der Lektüre meiner Motorradmagazine beschäftig oder damit, mich mit Mädchen zu vergnügen, um die politischen Entwicklungen zu verfolgen. Und auch wenn ich es gemacht hätte, hätte ich den Krieg in meiner Naivität als ein Abenteuer betrachtet. Davon abgesehen, fanden in diesen Jahren einige Ereignisse in unserer unmittelbaren Nähe statt, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen. 1935 kam die Nation zusammen, um das Silberne Jubiläum von Georg V. zu begehen, zu dem sich meine Eltern extra eine Gedächtnis-Porzellantasse kauften, die sie ihrer Sammlung royaler Memorabilia hinzufügten. Die Stadtverwaltung hatte eine Feier in der Riddlesden Hall organisiert, mit Tee, Kuchen und einem Übermaß an Dekorationen. Kurz danach, im Januar 1936, verstarb der König im Alter von 70 Jahren. Ich erinnere mich an sein Ableben, aber nicht an die Beerdigung, abgesehen von der Tatsache, dass ich an dem Tag nicht arbeiten musste und mich mit Billy in die Moore aufmachte. Am Ende des Jahres fand ein weiterer Einschnitt statt, denn Edward VIII. verzichtete auf den Thron, da er die amerikanische Schauspielerin und zugleich auch noch geschiedene Wallis Simpson liebte. Das stellte eine höchst unpopuläre Entscheidung dar, und es gab zahlreiche Diskussionen darüber, allerdings keinerlei Mitgefühl. Die vorherrschende Meinung lautete, er sei selbstsüchtig und illoyal, er hätte bleiben und seiner Verpflichtung nachkommen müssen. Doch – wie so oft im Leben – hatte alles letztendlich einen Grund, denn Edward war nicht sonderlich für so eine Aufgabe geeignet und hatte bereits eine ausgeprägte Neigung für die Nazis entwickelt, die ihre Macht erheblich ausbauten. Edwards stotternder Bruder [George VI.] war eine angenehme Frohnatur, wollte aber zuerst nicht König werden. Er schlug sich mit Hilfe seiner Frau jedoch ganz ordentlich. Hätte Edward VIII. nicht auf den Thron verzichtet, hätten wie keine Queen Elizabeth II. bekommen, die beste Monarchin, die unser Land je gehabt hat.

Obwohl die Nachrichten aus Deutschland immer schlimmer wurden und deutsche Truppen 1938 in Österreich einmarschierten – was man als den „Anschluss“ an das Reich bezeichnete –, nahm mich Onkel Arthur mit zu meinem ersten Auslandsurlaub. Es ging in die Schweiz, nur wenige Hundert Kilometer von den Nazis in Salzburg entfernt. Alle verspürten ein beklemmendes Gefühl, da die Deutschen Teile von Europa an sich rissen, aber niemand schlug einen Abbruch der Unternehmung vor, was ein eindeutiger Beleg dafür war, wie sehr wir die Gefahr unterschätzen. Arthur und ich reisten mit dem Schiff und dann der Bahn zur mittelalterlich geprägten Stadt Luzern und überquerten den Luzernsee, um uns das Denkmal des Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell in Altdorf anzusehen. Wir besuchten einen durch das Eis gefrästen Tunnel unter dem Rhônegletscher und wanderten durch die Aareschlucht mit ihren spektakulären Bergpässen. Die Reise war für mich ein ganz besonderes Ereignis und öffnete mir die Augen für eine Welt abseits von Großbritannien. Außerdem liebte ich die gemeinsame Zeit mit Arthur, denn er zeigt sich durch und durch freundlich und zuvorkommend. Nicht ein einziges Mal hatte ich Angst, dass uns etwas in Europa zustoßen konnte, doch als wir schließlich nach Riddlesden zurückkehrten, hörte ich, wie Arthur meiner Mutter gestand: „Ich habe mir die ganze Zeit über Sorgen gemacht.“ Sie hatten sich mit demselben Gefühl herumgeplagt, wie ich unschwer an ihrem Gesichtsausdruck ablesen konnte.

Durch den sich bedrohlich abzeichnenden Krieg in Europa gedrängt, erkannte die Regierung, dass es in Großbritannien viel zu wenig Soldaten gab. Sie erließ den „Emergency Powers (Defence) Act“, durch den man alle Reservisten und Freiwillige zur Mobilmachung einberief. Der „Military Training Act“ forderte alle gesunden und leistungsfähigen Männer im Alter von 20 und 21 Jahren auf, sich zum Dienst für die Nation einzuschreiben. Ich musste noch ein Jahr am Bradford Technical College studieren und wusste von Vater, dass er einen Abschluss erwartete. Ich hoffte, mir würde dazu noch genügend Zeit bleiben.

Obwohl man den Krieg teils erwartete und die manischen Tiraden von Hitler und dem deutschen Propagandisten Lord Haw-Haw [Spitzname der verschiedenen Sprecher des aus Deutschland ausgestrahlten, englischsprachigen Radioprogramms im Zweiten Weltkrieg] aus unserem Radio bellten, klammerte sich jeder an die Hoffnung, dass er sich vermeiden ließe. Das verstärkte sich noch deutlich, als unser Premierminister Neville Chamberlain (meine achte Regierung in 19 Jahren) aus Deutschland zurückkehrte und mit einem von Hitler unterzeichneten Papierfetzen freudig in der Hand winkte. Er sichere uns den „Frieden für unsere Zeit“. Als am 3. September 1939 um 11 Uhr morgens der Kriegszustand erklärt wurde, zwei Tage, nachdem Deutschland Polen angegriffen hatte, wirkte das wie ein Schock auf uns.

Vater, Mutter, Freda und ich saßen im Club Nook ganz still um das Philco-Radio herum und hörten Chamberlain zu, wie er die heute als legendär geltenden Worte sprach:

Ich spreche zu Ihnen aus dem Konferenzraum in der Downing Street 10. An diesem Morgen übergab der britische Botschafter in Berlin der deutschen Regierung eine letzte Aufforderung. Sie besagte, dass ein Kriegszustand zwischen uns in Kraft tritt, wenn wir bis elf Uhr von ihnen nichts über die Bereitschaft hören, ihre Truppen aus Polen zurückzuziehen. Ich muss Ihnen nun mitteilen, dass so eine Zusicherung nicht überbracht wurde und dass sich dieses Land nun konsequenterweise im Krieg mit Deutschland befindet.

 

Wir vier schauten uns einen Moment lang ausdruckslos an, wonach Mutter meinem Vater das Gesagte mitteilte. Seine Augen wurden feucht, er schüttelte den Kopf und verließ dann mit ihr das Zimmer. Freda und ich saßen ganz still da. Wir fragten uns, was das alles bedeutete. Wenn man jung ist, wird man durch nichts so leicht aus der Bahn geworfen, und vielleicht war ich von den Nachrichten nicht so erschüttert wie die ältere Generation. Viel eher als die Bekanntgabe von Feindseligkeiten schockierten mich drei Hawker Hurricanes, die kurz danach über unser Tal flogen. Ich erinnere mich, dass ich zu ihnen hochgeschaut und gedacht habe: „Das ist nun wirklich der Krieg.“

Da Großbritannien immer noch weniger als eine Million Soldaten ausgebildet hatte – Frankreich verfügte über fünf Millionen –, veränderte sich für meine Generation alles. Die Männer meldeten sich nicht freiwillig wie im vorhergehenden Krieg, da sie wussten, was mit den Millionen geschehen war, die nicht mehr heimkehrten. Hätte es im Zweiten Weltkrieg keine Wehrpflicht gegeben, wären meiner Meinung nach nicht viele losgezogen.

Etwas musste getan werden, woraufhin der „National Service (Armed Forces) Act“ die Rekrutierung aller gesunden Männer im Alter zwischen 18 und 41 Jahren erzwang. Diejenigen, die eine Rolle bei wichtigen Industriezweigen spielten oder Zivilarbeit von nationaler Bedeutung leisteten – wie zum Beispiel in der Landwirtschaft –, fielen durch das Raster. Da ich nur Cousinen hatte, war ich der Einzige in der Familie, den man einberief. Ich nahm das alles aber immer noch auf die leichte Schulter und witzelte gegenüber anderen: „Der König hat mir so ’ne kurze Nachricht geschickt, dass es ihm ein bisschen an Leuten mangelt und uns ein wenig Ärger in Deutschland bevorsteht. Ob ich etwas dagegen hätte, da mitzumachen. Hatte ich nicht, und darum habe ich mich registrieren lassen.“ Die harsche Realität sah anders aus. Einberufen zu werden, bedeutete, sich der lange hinausgezögerten Musterung zu unterwerfen, bei der die aus medizinischen Gründen Untauglichen ausgesiebt wurden, die psychisch Instabilen und die Verweigerer aus Gewissensgründen, die einen anders gelagerten Beitrag leisten mussten, zum Beispiel als Fahrer von Rettungswagen oder als Tragbahren-Sanitäter. Die Sanduhr war gerade umgedreht worden.

Ich hatte keine Angst davor, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, und stellte niemals infrage, dass auch ich möglicherweise unseren gemeinsamen Feind ins Antlitz starren musste. Die Deutschen hatten angefangen, und ich empfand es als meine Pflicht, unser Land zu verteidigen. Zwei meiner Freunde waren bereits einberufen geworden – Charlie Dinsdale, der 1938 der Territorial Army beitrat, während er noch die Universität besuchte und dem 1st Battalion of the Duke of Wellington’s Regiment (West Riding) zugeteilt wurde, und Brian Booth von der Bradford Tech, der zur RAF ging und vier Jahre lang deutscher Kriegsgefangener war. Er kam aus einer netten Familie, die in einem großen Haus in Burley in Wharfedale lebte, hinter dem Moor. Seinem Vater gehörte ein Kalksteinbruch außerhalb von Skipton, der sich – obwohl ich es damals noch nicht wissen konnte – für mich später als eine Rettungsleine herausstellen sollte.

In den ersten Monaten nach der Kriegserklärung geschah so gut wie gar nichts und das Leben nahm seinen gewohnten Lauf. Diese Zeitspanne wurde als der „Sitzkrieg“ bekannt, da keine groß angelegten militärischen Schläge stattfanden und die Regierung sich auf wirtschaftliche Taktiken und Seeblockaden konzentrierte. Den größten Schock löste die Versenkung des Kriegsschiffs HMS Royal Oak aus, das von einem deutschen U-Boot torpediert worden war. Dabei kamen im Oktober 800 Menschen ums Leben, also kurz nach der Kriegserklärung.

Im Bezirk von Keighley gewöhnten wir uns – wie alle im Land – an die neuen Kriegsverordnungen, die eine Rationierung von Nahrungsmitteln, Benzin und Kleidung beinhalteten. Auch zogen wir für nächtliche Fahrten kleine Säckchen wie Kapuzen über die Autoscheinwerfer – und jeder erhielt die obligatorische Gasmaske in einer Art Pappkarton. Ich half meinen Eltern beim Nähen der schwarzen Verdunklungsgardinen, die man jede Nacht vor die Fenster hängte. Der Anblick von städtischen Gebäuden, schwer geschützt mit einem Haufen Sandsäcke, wurde schnell zur Alltäglichkeit. Da wir in einem Tal lebten und nicht das Gefühl hatten, zu einem der primären Industrieziele zu gehören, fand man in Riddlesden keine Luftschutzkeller vor, zumindest soweit ich weiß. Allerdings installierte man eine Luftschutzsirene auf den Coney-Lane-Elektrizitätswerken in Keighley, und eine Gruppe von Familien in Riddlesden buddelte sich einen über zwei Meter tiefen und circa 70 Meter langen Graben, in dem sie sich im Ernstfall schützen wollten. Ein weiterer Hinweis auf die geradezu stoische Haltung meiner Eltern gegenüber dem Krieg war die Weigerung, solch einen Graben an unserem Garten auszuheben. Wir ließen uns auch keine der Anderson-Luftschutzunterstände [ein einfacher Schutz aus dünnem Wellblech] andrehen, die so viele andere in heller Panik installierten.

Schon früh nahm die Stadt evakuierte Kinder aus Bradford auf, einer größeren Stadt, die wegen ihrer Schwerindustrie wahrscheinlich eher das Ziel von Bombardements werden konnte. Mehr als 1000 Kinder kamen in Spezialzügen und einer Flotte von Bussen, die dann alle in Empfangszentren registriert wurden, bevor man sie auf die verschiedenen Häuser verteilte. Mutter nahm etwas später zwei in Club Nook auf, und die örtlichen Schulen mussten Doppelschichten zum Unterricht organisieren. In kürzester Zeit eröffnete in Keighley das Arbeitshaus für Arme, das 1930 geschlossen worden war, wieder die Türen, um mehr als 100 ältere Menschen aus London unterzubringen. Aus der Tatsache, dass die älteste Umsiedlerin 96 Jahre alt war, wurde eine ganz große Sache gemacht. Die arme alte Frau.

Zur Abwehr eines breit angelegten deutschen Angriffs zu Land, zu Wasser oder aus der Luft erließ die Regierung unverzüglich einen zivilen Verteidigungsplan. Kriegsminister Anthony Eden ließ eine Ansprache senden, bei der er Männer im Alter zwischen 17 und 65 Jahren aufrief, in eine Art Bürgerwehr, die „Local Defence Volunteers“ (LDV), einzutreten. Später nannte man sie „Home Guard“ und heute ist sie als „Dad’s Army“ bekannt. Wie so viele andere meldete ich mich unverzüglich freiwillig. Innerhalb weniger Monate hatten sich 1,5 Millionen Männer der damals umgangssprachlich genannten „Ragtag Militia“ angeschlossen, darunter auch Onkel Arthur, der während des gesamten Kriegs Laster und Sanitätswagen fuhr. Über die LDV wird nur selten gesprochen, und einige wissen gar nicht, dass sie existierte. Sie spielte aber eine wichtige Rolle in der Beschwichtigung von Befürchtungen, dass Deutschland Spione mit Fallschirmen in Großbritannien absetzen würde, die dann unter uns unerkannt leben und arbeiten würden. In dem Fall hätten sie wichtige militärische Informationen weitergeleitet oder die Moral zersetzt. Überall tauchten nun Plakate mit Warnungen auf wie „Loose Lips Sink Ships“ oder „Be Like Dad – Keep Mum“. [Letzteres ist ein englisches Wortspiel, das „keep mum“ „die Mutter behalten“ oder „zur Mutter stehen“ bedeuten kann. In diesem Fall beschreibt „mum“ aber „Stillschweigen bewahren“ oder „den Mund halten“.] Es existierte ein triftiger Grund für die Verdunklungen und das Entfernen der Straßenschilder. Die Piloten der Luftwaffe waren nicht in der Lage, die Klein- und Großstädte auszumachen und zu identifizieren, und auch abgesetzte Spione konnten sich nicht mehr orientieren.

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