Faule Mieten

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3

Rückzugsgedanken, kenn ich. So ’ne kleine Flucht aus dem Alltag, es gibt nichts Besseres.« Das raue Lachen der Vermieterin schallte durch die Küche. Schwarz, Gold, Silber, andere Farben gab es hier nicht. Wie auf einer Raumstation, dachte Jona und trank ohne mit der Wimper zu zucken den Tütenespresso, den Frau Keiler vor sie gestellt hatte. Dass diese Frau gelegentlich aus dem Alltag ausbrach, glaubte sie ihr aufs Wort. Was für eine Energie. Selbst ihr Lachen war dynamisch.

Als die Türklingel ging, sprang sie mit den Worten auf, das sei bestimmt einer ihrer zukünftigen Mitmieter.

Jona sah ihr nach. Zwanzig Minuten Smalltalk, ein Lächeln bei der Erwähnung der Immobilienhaie im Viertel und die schnörkellose Wahrheit über den Grund ihrer Zimmersuche hatten ihr die Tür geöffnet. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Der Preis war unfassbar günstig. Wie gut, dass sie durchs Dichterviertel gefahren war, statt zu Steiner ins Präsidium. Einen Moment wurde ihr heiß. Nur da hatte sie der Wahrheit einen kleinen Schnörkel verliehen. Was er wohl dazu sagen würde, dass sie einen Lehrer aus ihm gemacht hatte?

Sie trat ans Fenster. Rasen, Büsche, eine Hecke, deren ungeschnittene Zweige in alle Richtungen zeigten. Für dieses Viertel nahm sich der Vorgarten schmucklos aus.

Von hier sah man, wie unauffällig sich das gusseiserne Gartentor zwischen die hohen Bäume schmiegte. Kein Wunder, dass es von der Straße kaum zu sehen war.

»Gefällt Ihnen die Aussicht?« Frau Keiler stand im Türrahmen und musterte sie unverhohlen. »Hintenraus ist es gepflegter. Und von oben nochmal anders.« Sie klimperte mit dem Schlüssel in der Hand.

Zwei Minuten später unterdrückte Jona einen kleinen Freudenschrei. Die Zwölfquadratmeterbude, wie es die Vermieterin nannte, besaß weder Schrägen noch eine Dachluke, sondern ein großes Fenster. Helles Licht floss in den Raum und auf den Steinboden. Eine olivgrüne Tapete mit goldenen Ornamenten zierte die Wände.

»Sie können natürlich auch neu tapezieren. Ihr Vormieter fand Geschmack daran.« Ihr Lachen klang nach zwei Schachteln Zigaretten am Tag. »Toilette ist über den Gang, mit etwas größerem Waschbecken.«

Jona öffnete einen der Fensterflügel. Der Ausblick hatte etwas Erhabenes; über die Baumkronen hinweg konnte sie auf das stuckverzierte Wohnhaus jenseits der Straße sehen. Daneben, etwas zurückgesetzt, dieses Baugerüstmonster. Hier entstehen Eigentumswohnungen für Sie, las sie ein zweites Mal, diesmal von oben. Am Horizont ragte der schlanke Fernmeldeturm in den Himmel, und die Miete, die Frau Keiler ihr noch einmal bestätigte, zerstreute jeden Zweifel.

Als sie eine Viertelstunde später das Haus verließ, sah sie das Dornbuschviertel mit anderen Augen.

In der Praxis empfing sie das Plätschern des Sandsteinbrunnens, und eine von Utes Patientinnen, über eine Zeitschrift gebeugt, nickte ihr vom Wartebereich aus zu. Wie schaffte Ute dieses Arbeitspensum, eine Sitzung nach der anderen? Erst kurz vor eins werkelte ihre Kollegin in der Praxisküche. Jona stürzte aus ihrem Sprechzimmer.

»Endlich. Setz dich mal, ich muss dir was erzählen.« In wenigen Worten schilderte sie ihren Beinah-Sturz über eine Filmrolle, die ihren Blick zu einem Sperrmüllhaufen gelenkt hatte, der wiederum zur Villa, zur Vermieterin, zu ihrem neuen, außergewöhnlichen Dachatelier.

»Ein Zimmer im Dichterviertel? Hast du nicht letztes Jahr noch gesagt, keine zehn Pferde …«

»… das ist was anderes. Die Gegend da ist voller Schönheit und Widersprüche. Die lebt.«

»Aha.« Ute streifte ihre Espadrilles von den Füßen und zog ihre Füße auf den Stuhl. »Und was willst du dort machen?«

»Pass auf: Zwölf Quadratmeter, lichtdurchflutet. Eine komplette Wand wird Leinwand. Kühlschrank auf der anderen Seite. Meine Musikanlage daneben. Über den Steinboden kommt ein dicker, roter Teppich, und darauf mein Futon. Dann kann ich vorm Einschlafen direkt in den Himmel sehen.«

»Ich denke, du willst zu Ulf ziehen?«

»Da ist ja noch sein Sohn, schon vergessen? Wir brauchen mehr Platz.«

Utes Gesichtsausdruck war unmissverständlich.

»Okay. Ich brauche mehr Platz. Noch habe ich nicht unterschrieben. Termin ist morgen früh. Aber ich glaube, ich mache das. Diese Dachkammer schickt der Himmel.«

»Na, da bin ich ja mal gespannt, was dein Superbulle dazu sagt.«

Ihre Blicke maßen sich aneinander, bis die Türklingel die Stille zerriss und Ute lächelnd aus der Küche ging.

Es dämmerte bereits, als Jona ihre Praxis verließ und den Weg über die Adickesallee nahm. Steiner saß wie verabredet in seinem Mercedes, als sie auf den Parkplatz des Präsidiums vorfuhr. Ein feines Lächeln spielte um seinen Mund.

»Heute ist dein Abend«, er nahm einen Helm vom Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen. »Essengehen, Wohnungsangebote im Internet suchen oder andere Dinge, die dir Freude bereiten.« Die Fahrertür schlug zu.

»Und Jakob?«

»Bei einem Freund. Die machen Party heute Abend. Ich habe ihm erlaubt, dort zu übernachten.«

»Dann lass uns spazieren gehen.«

»Ostpark?«

»Lieber hier ein bisschen. Es wird bald dunkel.«

»Hier?« Steiner ließ seinen Blick von der Adickesallee über die Kreuzung zur Eschersheimer Landstraße gleiten. Dicht an dicht jagten die Autos stadtauswärts.

Kurz darauf fädelten sie sich mit der Vespa in den Feierabendverkehr ein. Der Sinaipark war nur wenige Minuten entfernt, beim Spaziergang zwischen der Wiese und dem angrenzenden Naturschutzgebiet würde sie ihm von ihrem neuen Atelier ganz in der Nähe erzählen. Steiner tippte gegen ihre Schulter und rief etwas.

»Sind gleich da«, brüllte sie nach hinten und parkte wenig später den Roller auf dem Gehsteig.

»Voilá, der schönste, kleine Stadtpark Frankfurts.«

»Lass uns anderswo spazieren.«

»Warum denn?«

»Arbeit«, sein Blick glitt zum Park und verweilte dort, als spiele sich hinter den Büschen ein Schauspiel ab, das nur er sehen konnte. Jona spürte die Anspannung, die von seinem Körper ausging. Es dauerte eine Weile, bis er das Schweigen brach. »Ich war erst Montagabend hier. Mit Kovac, meinem Kollegen. Eine Hundebesitzerin ist spätabends über eine Leiche gestolpert. Den Jogger, von dem ich dir erzählt habe. Wie er dalag, blutüberströmt, der Körper verdreht, in diesen Sportklamotten.« Ulfs Stimme klang plötzlich heiser. »Entschuldige.«

»Ist doch okay.« Sie lächelte aufmunternd.

Natürlich fiel seine stoische Ruhe nicht vom Himmel. Wieso hatte sie sich nicht klargemacht, dass Ulf ein so feiner und erfolgreicher Kommissar war, weil er für seine innere Balance sorgte.

»Magst du erzählen oder vielleicht mal mit mir an den Ort gehen?«

»Das ist nichts für …«

»Therapeutinnen?« Sie zwinkerte und verstaute ihren Helm im Topcase.

Der Sinaipark war trotz der einsetzenden Dämmerung noch belebt. Auf dem Streetballplatz spielten Jugendliche Basketball, vereinzelt keuchten Läufer an ihnen vorbei. Es dauerte nicht lange, bis sie die gegenüberliegende Seite des Parks erreicht hatten. Dort, wo kurz hinter der Biegung des Schotterwegs ein weiterer zu einem Spielplatz führte, säumte ein Bankcarré die kleine freie Fläche. Jona setzte sich auf eine der Bänke und besah sich das, was vor Kurzem ein Tatort gewesen war. Nur eine feine Schicht Sand, von etlichen Schuhsohlen zertreten, wies noch darauf hin, dass hier Blut geflossen war. Auch Ulf starrte auf die Stelle.

»Hast du eine Idee, warum hier, in der Nähe der Häuser?« Jona schlang ihre Jacke fester um sich. »Wo man von den Balkonen aus alles beobachten kann. Du hast gerade gesagt, der Mord ist gegen neun Uhr abends verübt worden, da werden doch Hunde ausgeführt. Und durch diesen Seitenarm kann jederzeit jemand den Park betreten.«

»Vielleicht ließ es sich hier gut warten. Die Bäume gegenüber bieten Sichtschutz.«

»Es war doch ohnehin dunkel.«

»Der Tote trug eine Grubenlampe auf dem Kopf. Die war vollkommen zerschmettert. Die Scherben … ach, egal.«

»Ulf. Ich hab in meiner Praxis schon ganz andere Sachen gehört.«

Es war schon zu dunkel, um Ulfs Blick zu erkennen, der lange auf ihr lag. »Wenig Kampfspuren. Aber viel Blut. Elf Einstiche; da hat jemand eine Rechnung beglichen.« Er ging in die Hocke und strich mit der Hand über einen Baumstamm, der am Wegrand stand. »Die KT hat hier Reste einer Nylonschnur gefunden, und Rindenabrieb. Der Täter hat die Schnur zwischen diesen Baumstamm und die Buche neben deiner Bank gespannt und dann im Schutz der Bäume auf sein Opfer gewartet.«

»Aber nicht lange. Den Park umrundet man in sechs oder sieben Minuten.«

»Genau. Glück für ihn, dass niemand vorher vorbeiging und stürzte.«

»Du weißt nicht, wie oft er es probiert hat«, erwiderte Jona. »Wieso eigentlich »er«?«

Verdutzt sah Steiner auf. Zwei Hunde kamen über die Wiese geschossen und jagten an ihnen vorbei. »Ich hatte dein kriminalistisches Gespür verdrängt.« Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Meine Kollegen haben sämtliche Mieter der Wohnanlage befragt. Keiner hat etwas gesehen.«

Jona ließ ihren Blick über die Häuserreihen mit den ausladenden Balkonen gleiten. Die Lichter in den Fenstern sahen einladend aus. »Schafft das denn eine Frau überhaupt, einen sportlichen Typen mitten im Lauf zu überwältigen?« Jetzt lief doch ein kleiner Schauer über ihren Rücken. Steiner saß mittlerweile neben ihr auf der Bank. Seit er über den Mord sprach, wirkte er gefasster. »Er war chancenlos. Erst der Sturz. Und dann ging ein Messerstich direkt in seinen Hals. Die Rechtsmedizin meinte, es könnte der erste oder zweite gewesen sein, der dann auch tödlich war. Danach hat jemand nur noch wie besinnungslos auf ihn eingestochen. In den Arm, in den Bauch, in seine Genitalien.«

 

»Rache«, entfuhr es Jona.

»Oder jemand, der es wie Rache aussehen lassen wollte«, wandte Steiner ein. »Ein Immobilienmakler, Mitte dreißig, sportlich, in einer persönlichen Krise kurz vor der Scheidung. Auch beruflich lief es wohl gerade nicht so gut.«

»Wieso lief es beruflich nicht gut? Ich denke, er war Makler. Die schwimmen doch in Geld.« Sie vernahm, wie Ulf scharf Luft einzog und legte beschwichtigend eine Hand auf sein Bein.

»Anscheinend war er nicht besonders beliebt. Er kapselte sich in letzter Zeit laut seiner Kollegen immer mehr ab. Auch von seinem neuen Domizil wussten die wenigsten. Das Arbeitsverhältnis hätte nächsten Monat geendet – im gegenseitigen Einvernehmen.«

»Seltsamer Zufall. Gibt es da keinen Verdächtigen?«

Steiners Blick war eindeutig. Sie hatte Vorurteile gegen die ganze Branche. Gut, dass sie nicht ermittelte.

»Und seine Frau?«

»Hat keine Miene bei der Nachricht seines Todes verzogen.«

Ein Terrier mit rotem Leuchthalsband tippelte an ihnen vorbei und bohrte seine Schnauze in den Sandflecken, bevor ein schriller Pfiff ihn zurückflitzen ließ. »Wahrscheinlich war sie komplett überfordert«, sinnierte er. »Ich stelle mir das schwierig vor, wenn du dich nach einer Ehekrise trennst und dein Ex-Partner genau nach der Trennung ermordet wird. Und du bleibst mit deiner Wut und deiner Trauer zurück.«

»Noch-Mann.«

»Wie bitte?«

»Per Gesetz waren sie noch verheiratet. Das Ex bezieht sich also nur auf ihre Gefühle füreinander.«

Jona starrte auf den Sandflecken. Aus dem brutal ermordeten Jogger war innerhalb weniger Minuten ein unglücklicher Immobilienmakler mit Ehe-und Finanzproblemen geworden. Wie ein Fremdkörper kroch Ulfs Arm um ihre Schulter.

»Manchmal bist du mir unheimlich. Deine Formulierung hat ein Motiv ins Spiel gebracht. Aber wir haben die Vermögensverhältnisse schon ermittelt. Das Haus gehört seiner Frau.«

»Das ist doch schon mal gut«, sagte Jona gedankenversunken, während das Wort Domizil in ihrem Kopf Schleifen zog. Sie sollte aufhören, über geheime Domizile zu reden, bevor sie Steiner von ihrem eigenen erzählt hatte.

»Lass uns ein wenig laufen«, schlug sie vor, »mir ist kalt.«

4

Die Sonne goss warme Strahlen in ihr Wohnzimmer. Ellen lehnte sich ins Sofa zurück und schloss die Augen. Diese Albträume rissen an ihren Nerven. Heute Nacht der Treppenlift von Frau Kücherer, in dem sie plötzlich gesessen hatte. Rauf und runter in einem Irrsinnstempo, ohne dass sie aussteigen konnte, und dann ging es weiter nach unten, durch den Keller, unter die Erde, Hunderte von Metern in die Tiefe, es roch kalkig, das Mauerwerk verengte sich, sie konnte nach dem Schimmel in den Steinritzen greifen. Kein Boden unter ihr, nur Schwärze, in die sie einfuhr, bis ein Ruck … Sie schreckte auf und griff instinktiv nach der Katze, die zu ihr auf die Couch gesprungen war.

Die Bilder des Albtraumes hatten sie für einen Moment in ihren Strudel gezogen. In wenigen Minuten verschwand die Sonne hinter dem Haus. Sie spähte in den Wintergarten. Die schwarzgoldene Chaiselongue, auf der Maren öfter lag und in Prospekten blätterte, war leer. Im vorderen Bereich standen ihr eigener Ohrensessel und das runde Teetischchen, als warteten sie auf ihr Kommen. Sie musste sich erst an die gemeinsame Nutzung des Glasanbaus gewöhnen. Es war Marens Idee gewesen, Kakteen und Pflanzen der verstorbenen Traute Wismar aus dem Wintergarten zu räumen und jeder von ihnen die Hälfte zur freien Einrichtung zu überlassen. Sie war es auch, die den Hinterausgang des Hauses verschlossen hatte und so den Mietern den Zugang zum Garten verwehrte.

Aber wirklich genutzt hatte den nur der Student aus dem zweiten Stock, um in der Hängematte zu liegen und seine Joints zu rauchen. Jetzt saß er öfter auf dem Balkonaustritt im Dach und blies seine Dampfschwaden in den Himmel. Ob Joschua von seinem Nachhilfeunterricht für Schüler und dem Job im Parkhaus leben konnte? Egal. Die schmale Miete war pünktlich auf dem Konto, und er war hilfsbereit, gerade Frau Kücherer gegenüber. Neulich war er nach den Einkäufen sogar auf einen Tee bei ihr geblieben. Über was ein Philosophiestudent und eine dement werdende ältere Dame sich wohl unterhielten?

Sie trat mit dem Handbuch für Gartenpflege hinter das Haus. Rote Rüben, Möhren und Chicorée waren schon ausgesät, dazu Kopfsalat und ein ganzes Beet kleiner Kohlrabi-Pflanzen. Fehlte nur noch der Triebschnitt bei den Obstbäumen. Sie waren spät dran, fast schon zu spät. Zwei Rotkehlchen flohen aus dem Apfelbaum, als sie die Leiter davorstellte und mit einer Gartenschere in der Hand die Sprossen hinaufstieg. Die großen Äste hatte sie letzte Woche gemeinsam mit Torben Fischer abgesägt und Baumwachs auf die Wundränder gestrichen. An den Holm der Leiter geklammert, besah sie sich den Aststummel. Hier waren sie stehengeblieben letzte Woche, und hier genau hatte Fischer ihr das »Du« angeboten, um sie bei einer anschließenden Limonade zu fragen, ob die Pflege des Anwesens sie nicht überfordere. Was für eine hinterhältige Frage, jetzt, wo sie wusste, was er wirklich gearbeitet hatte. Das Holz zersplitterte unter der Wucht, mit der sie die Gartenschere zusammenpetzte. Fruchtholz. Das war genau verkehrt. Wenn sie nicht aufpasste, brachte sie sich um die Früchte. Warum war sie immer so naiv und beantwortete alle Fragen? Sie fasste in den Apfelbaum, bekam einen kräftigeren Zweig zu fassen. Mitteltrieb, hatte dieser Heuchler gesagt. Und dass man hier noch Konkurrenztriebe ausschneiden musste. Konkurrenztriebe ausschneiden! Energisch trennte sie einen Zweig nach dem anderen vom Ast und hielt erst inne, als ihre Hand zu schmerzen begann. Ihre Kehle schmerzte mindestens ebenso. Sie atmete tief durch, bis der Druck in ihrer Brust nachließ. Es war unangebracht, jemanden zu mögen, der einem etwas wegnehmen wollte, Maren hatte recht. Aber das half nicht. Sie mochte diesen jungen Mann, der selbst etwas verloren gewirkt hatte und der jetzt tot war. Ermordet. Ihr wurde schwindlig. Vorsichtig stieg sie von der Leiter und rieb ihre klammen Hände aneinander, dann griff sie zur Teleskopschere. Von hier unten konnte sie wenigstens kleine Seitentriebe kappen. Nach kurzer Zeit zitterten ihre Arme von dem Gewicht des Werkzeuges. Als sie sich umdrehte, stand Maren in der geöffneten Tür des Wintergartens und winkte.

»Du hast noch nichts zur neuen Mieterin gesagt«. Maren goss Tee in beide Tassen und sank auf ihre Chaiselongue. Sie schien guter Laune. Als gehöre Torbens Tod der Vergangenheit an und hätte nicht die Villa besudelt. Gewalt zog Gewalt nach sich, wusste sie das nicht? Im Garten zwitscherten die Vögel, als wollten sie beweisen, wie lächerlich diese Gedanken waren. Was sollte sie zur neuen Mieterin sagen? Sie kannte diese Frau mit den kurzen, braunen Haaren ja gar nicht. Groß wie ein Mann, bunt gekleidet wie ein Papagei. Das war alles, was sie vom Küchenfenster aus hatte sehen können.

»Herr Fischer ist noch nicht mal unter der Erde. Das sieht doch seltsam aus, wenn gleich wieder jemand da einzieht.«

»Im Gegenteil.« Maren steckte sich eine Zigarette an und schob mit dem Fuß die Tür des Wintergartens weiter auf. »Es wäre eher verdächtig, wenn wir sie leer stehen lassen.«

Der Rauch ihrer Zigarette schwebte durch den Anbau, blaugraue Schlieren im Sonnenlicht.

»Ellen, aus dieser Totenkammer muss wieder ein Wohnort werden. Je schneller, desto besser.«

»Du hättest mich trotzdem fragen müssen.«

Der Dampf zog Richtung Garten und löste sich allmählich auf.

»Tut mir leid, es ging alles so schnell, und es kam mir perfekt vor. Eine nette Frau, die gut in diese Mietgemeinschaft passt und die Dachkammer nur als Zweitwohnsitz möchte. Und sie hat einen soliden Job.«

»Ich denke, sie ist Therapeutin.«

»Mit eigener Praxis. Wenn das nicht solide ist. Ich hab diesmal gegoogelt, damit wir nicht noch eine Überraschung erleben.«

»Eine Therapeutin, Maren. Denk doch mal nach. Die durchleuchtet uns alle, die ist darauf trainiert, menschliche Abgründe zu durchschauen.«

»Hast du denn welche?« Marens Lachen klang eine Spur zu laut. »Ellen, da ist nichts, was sie sehen könnte. Alles gut.«

Alles gut. Wie sie diesen Ausspruch hasste, den jeder bei jeder Gelegenheit auf den Lippen trug. Dabei war nichts gut. Heute Morgen im Treppenhaus hatte sie es schon gespürt. Eine fiebrige, schleichende Unruhe, eine Krankheit. Jemand zapfte die Villa an, wie ein Virus, der seinen Organismus von innen lahmlegte. Warum glaubte Maren ihr nicht, dass etwas vor sich ging, was nicht zu greifen war. Den Blick starr auf die Tasse Tee in ihren Händen gerichtet, sprach sie es zögernd aus.

»Die Villa atmet anders als sonst«, wiederholte Maren, wobei sie jede Silbe einzeln betonte. »Die Villa atmet oder was?«

»Sie ächzt. Und damit meine ich nicht die Holzstufen.«

Ellen versuchte ein Lächeln, ohne aufzusehen. »Sie hat einen Grundpuls, verstehst du? Und der flattert. Nervös.« Hitze trieb in ihr Gesicht. Es war verboten, so etwas zu sagen, auch wenn es der Wahrheit entsprach. Seit die Polizisten vor ein paar Tagen ihre Pforte betreten hatten, war die Villa von etwas befallen. Sie schnaufte, wimmerte, setzte sich gegen etwas zur Wehr, jede Nacht konnte sie es hören, jede verfluchte, durchwachte Nacht.

Für einen Moment sah es aus, als würde ein Lachen an Marens Gesichtszügen zerren. Aber das war Täuschung. Maren sah sie besorgt an, bevor sie den Wintergarten verließ und wenig später mit einer Schale Plätzchen zurückkam, die sie auf das Teetischchen zwischen ihnen stellte.

»Wie meinst du das – Puls der Villa?«

Plötzlich war jede Überheblichkeit von Maren abgefallen, und im Scheinwerferlicht ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit entspannte sich Ellen und das Gedankenkarussell hielt an.

Wie damals.

An dem Tag, an dem sie ihre Mutter tot im Bett aufgefunden hatte. Warum sie ausgerechnet Maren angerufen hatte, die zu der Zeit in Berlin wohnte und sich seit Jahren nicht gemeldet hatte, wusste sie bis heute nicht. Aber dass es die richtige Entscheidung gewesen war, war ihr im Gedächtnis geblieben.

Während sie auf der Bettkante ihrer toten Mutter saß, zu Füßen leere Sektdosen, eine umgefallene Whiskyflasche und eine Packung, in deren Blister keine einzige Schlaftablette mehr steckte, fragte Maren mit ruhiger Stimme, was genau geschehen sei. Kommentierte weder, dass die Mutter die Schlaftabletten aus ihrer, Ellens Tasche, gestohlen haben musste, noch, dass Ellen genau jene Tabletten einer lebensmüden Heimbewohnerin in guter Absicht aus deren Schrank entwendet hatte. Das Argument, sie habe den Freitod ihrer Mutter erst ermöglicht, ließ Maren nicht gelten. Stattdessen zerschlug sie ihren Gedanken, bei der Polizei alles wahrheitsgetreu anzugeben und ertrug wortlos ihre Selbstvorwürfe. Noch nie hatte jemand so mit ihr gesprochen, so zugewandt. Am Ende, nach einem zweistündigen Telefonat, hatte Maren ihr ruhig und geduldig Anweisungen gegeben, was zu tun sei. Die Schuld war nach jenem Gespräch von ihrer Seite gewichen bis zu dem Tag, an dem …

»Ellen?«

Marens Blick lag noch immer auf ihr.

»Ich kann das mit dem Puls nicht erklären. Es ist wie eine Schwingung, die ich aufnehme. Und die mir Angst macht.«

Eine bedeutungsschwere Stille folgte.

»Wovor hast du wirklich Angst?«

»Ich hätte den Brief abschicken sollen. Das war unrecht.«

»Welchen Brief?« Es dauerte einen Moment, bis Maren begriff. »Ach Gott, Ellen. Das war doch gut, für alle. Traute Wismar hatte eine glückliche Zeit, und jetzt haben wir eine. Wir verkaufen die Villa nicht, wir lassen die Mieter kriminell günstig weiterwohnen – alles so, wie sie es wollte.«

»Aber dieser Mord jetzt.« Ellen schluckte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, hinunter. Heimsuchung. Das klang nach den Gedanken einer Verrückten.

»Ich weiß, dass es damit nichts zu tun hat«, flüsterte sie, »ich mochte ihn nur so gerne. Letzte Woche hat er mir noch beim Ausschneiden der Obstbäume geholfen.«

»Weißt du was – ich helfe dir.« Maren sprang auf.

Wenig später standen sie vor dem alten Pflaumenbaum und beratschlagten, wie sie das dicht verzweigte Astwerk ausdünnen sollten.

»Erstmal das tote Holz entfernen.«

»Eine gute Idee«, sagte eine Männerstimme in ihrem Rücken.

Wieder trug der Kommissar ein blütenweißes Hemd, diesmal unter einer Jeansjacke. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, als schlendere er durchs Viertel.

 

»Das Gartentor stand offen, und ich dachte, ich schau mal …«

»… wie man Pflaumenbäume richtig ausschneidet?« Maren lächelte auf diese bestimmte Art. Flirtete sie? Jedenfalls erwiderte der Kommissar ihr Lächeln.

»Ich dachte, das macht man etwas früher. Aber ich wollte mir das Grundstück ansehen. Die Immobilienfirma Greif beziffert den Wert auf 2,1 Millionen. Ich war neugierig.«

»Es ist ein Juwel, das diese Abzocker aufpolieren und für eine horrende Summe auf den Markt werfen wollen. Was glauben Sie, wie oft Post von denen im Briefkasten liegt. Wie oft Anrufe kommen. Hätte ich gewusst, dass Herr Fischer für diese Agentur gearbeitet hat …«

»Er war ja nicht der Einkäufer für dieses Objekt.« Der Kommissar begutachtete die Gartenschere, die auf dem Rasen lag. »Obwohl sich einige die Zähne ausgebissen haben, auch schon bei der ehemaligen Besitzerin, Frau Wismar, wenn ich nicht irre.«

Ellen ließ die Teleskopstange sinken. Diabolisch. Jetzt wusste sie, was hinter diesem freundlichen Blick lag.

»Sie irren nicht. Sie hat es mir unter der Bedingung anvertraut, alles so zu lassen, wie es ist.«

Warum erzählte Maren das? Und warum führte sie aus, wie sehr sie die Wünsche der verstorbenen Freundin respektiert hatte. Merkte sie nicht, dass dieser Steiner nur Stichpunkte lieferte, damit sie redete. Sich um Kopf und Kragen redete. Dass auch er gute Nachbarschaft schätze, hatte er gerade gesagt und dabei wie nebenbei die Regentonne an der Ecke inspiziert. Neulich wollte er noch ihr Alibi für den Mordabend wissen. Jetzt erzählte er seelenruhig, dass Immobilienmakler noch ganz andere Saiten aufziehen konnten.

»Niemand kriegt diese Villa.« Der Rasen unter ihren Füßen wankte, als sie zwei Schritte auf den Kommissar zutrat. »Sie beherbergt uns, wir pflegen sie. So einfach ist das.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Durfte die Polizei einfach so in ihren Garten eindringen?

»Dann sind Sie die guten Geister des Hauses!«

»Sounds good.« Maren lächelte den Kommissar an, wie nur sie das konnte. »Ich würde eher sagen: Win-win. Wir haben unseren Seelenfrieden, nette Menschen im Haus und ein Auskommen, und die Mieter können es sich leisten, hier zu wohnen. Das wissen sie zu schätzen.«

Von der Straße ertönte ein Scheppern, dem ein Fluch folgte. Er klang anders als das übliche Gebrüll der Bauarbeiter. Und es war eindeutig ihr Gartentor, das zugefallen war. Als Schleifgeräusche folgten, legte Ellen die Teleskopstange auf den Rasen und lief Richtung Vorgarten. Die neue Mieterin kam ihr entgegen. Im Schlepptau ihrer Linken klemmte ein eingerollter Futon und eine prall gefüllte Tüte, mit der anderen Hand hielt sie ein medizinisches Skelett an der Aufhängung in die Höhe, bemüht, es nicht auf den Boden schleifen zu lassen.

»Ich brauche noch den Schlüssel«. Keuchend trat sie in den Garten. »Und ich bringe jemanden mit.« Ein Rütteln an der Aufhängung ließ die Gebeine des Skeletts klappern. »Er ist hilfsbereiter, als er aussieht. Darf ich vorstellen …« Sie lächelte in die Runde und verstummte, als ihr Blick auf den Kommissar fiel. Auch er wirkte mit einem Mal verkrampft. Einige Sekunden verstrichen, in denen niemand etwas sagte. Nur ein Vogel setzte unbeirrt seine Lockrufe ab, die unerwidert blieben.

Maren löste sich als Erste aus der Starre und hieß die neue Mieterin willkommen. Nach einer kurzen Entschuldigung half sie mit der Tasche und verschwand mit ihr zum Haupteingang.

Inzwischen war die Sonne hinter der Villa verschwunden. Im Schatten wirkte der Garten verlassen. Warum ging der Kommissar nicht? Stand da wie ein Ölgötze. Sie musste etwas sagen. Vielleicht zur neuen Mieterin, die der Kommissar angestarrt hatte, als hätte er noch nie ein weibliches Wesen in Schlaghosen und Windblouson gesehen.

»Wenn ich Ihnen noch weiterhelfen kann«, sagte sie vorsichtig.

Steiner drückte Daumen und Zeigefinger gegen seine Nasenwurzel.

»War das eine Mieterin von Ihnen?«

»Gerade frisch eingezogen. Eine Therapeutin und Künstlerin.« Schweigend quittierte sie sein Nicken, mit dem er sich verabschiedete, und sah seiner steifen Gestalt nach. Als das Gartentor hinter ihm zufiel, presste sie ihre Hände aneinander. Er hatte sie auch für eine Vermieterin gehalten. Sollte er noch einmal auftauchen, musste sie das richtigstellen.