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5

Die Holzdielen knarrten, Stimmen hallten im Treppenhaus. Im ersten Stock stand das Flurfenster offen und trug das Knallen des Korkens ins Freie. Sekt am Nachmittag mit allen Mietern, wieso waren Maren und sie vor neun Monaten nicht auf die Idee gekommen, ihren Einstand in der Villa zu feiern? Ein handgeschriebener Zettel an der Innenseite der Eingangstür hatte ausgereicht, um die gesamte Mieterschaft in der Diele zu versammeln. Selbst Herr Boehm hatte einen Freund gebeten, ihn für die letzten Stunden in seinem Weinladen zu vertreten und sich in Schale geworfen.

Ellen sah zu, wie die Perlen im Glas aufstiegen und sich auf der goldenen Oberfläche kräuselten. Das Glas in ihren Händen und das Korkenknallen weckten alte Erinnerungen.

Sekt für die guten Tage, Whisky für die schlechten. Ihre Mutter trank nicht erst, seit ihr zweiter Mann sie verlassen hatte und es ruhig wurde in der Wohnung am Hafen. Am Osthafen, im Wohnblock, der Schieflage hatte. Tagelöhner und Sozialbaracken mit Pöbelcharme hatte dieser Keiler gebrüllt, bevor er sich seine eigene Tochter schnappte, um für immer zu gehen. Ab da wurde ihr Trinken exzessiver. Ab da gab es wieder nur Mutter und sie. Schäumende Sekttage wurden seltener, die Whiskynächte stiegen ins Unermessliche. Nur wenn es ihrer Mutter gelang, einer Arbeit nachzugehen, floss Prickelwasser. Bis zu ihrem letzten Tag vor sieben Jahren Whisky, Schlaftabletten und Sekt.

Ellen führte das Glas an die Lippen und verharrte im letzten Moment. Sieben Jahre hatte sie keinen Sekt mehr angerührt. Aber Jona Hagen hatte ihr ein Glas in die Hand gedrückt, und nun stand sie mit den Mietern zusammen im Treppenhaus und wartete darauf, bis jeder ein gefülltes Glas in den Händen hielt. Gute Stimmung brachte die Neue mit, das musste man ihr lassen. Ein Kniff am Oberarm riss sie aus ihrer Betrachtung.

Die alte Kücherer! Saß im Drehsitz des Treppenliftes und hielt ihr Glas in die Höhe. Ihr weißes Haar kräuselte sich dicht am Kopf, wahrscheinlich hatte sie wieder selbst daran herumgeschnitten. Dass alte Menschen so eigensinnig waren. Ellen schüttelte den Kopf. Burning down the house schallte es aus Marens geöffneter Wohnungstür. Eine Hausparty war so richtig nach ihrem Geschmack. Sie wippte mit den Hüften zu den Bässen und verschwand nach einem kurzen Wortwechsel mit Jona Hagen in ihrer Wohnung. Gleich darauf verstummte die Musik.

Die Neue trat in die Mitte der Holzdiele. Aus der Nähe sah sie älter aus, als es die Kleidung erwarten ließ. Jeans mit Schlag und ein gepunktetes Sweatshirt. Sie war nur unmerklich kleiner als Herr Boehm, mindestens einsachtzig. Apart sah das aus, die grünen Augen zu dem braunen Kurzhaarschnitt. Wenn die jemanden um den Finger wickeln wollte, dann gute Nacht. Vom Typ her glich sie Maren. Ob sie auch Anarchopotenzial in sich trug? Jetzt erhob sie ihr Glas.

»Alle da?«

»Hanna fehlt«, konstatierte der Student vom Treppenabsatz her.

»Frau Vers ist unpässlich.« Maren sah kurz zu ihr herüber und zuckte mit den Achseln. Sie musste heute Mittag bei ihr gewesen sein. Warum vertraute Hanna Vers sich Maren an. Warum nicht ihr?

»Na dann, auf gute Nachbarschaft.« Die Therapeutin drehte sich einmal im Kreis und lachte. Ein Schluck Sekt schwappte auf die Holzdielen und verschwand unter dem Taschentuch, das sie zu Boden fallen ließ. Ellen erwiderte ihr Lächeln. Es war einfach so aus ihr herausgeflossen. Der Schaumwein perlte in ihrem Mund, und die Musik, die Maren nach dem Toast wieder leiser anstellte, ging ihr in die Beine. Vielleicht hatte sie Recht, aus dieser Totenkammer musste wieder ein Wohnort werden. Kühl prickelte der nächste Schluck auf ihrer Zunge. Dem Dachboden Leben einhauchen, das könnte der Neuen gelingen. Ellens Blick wanderte zur Eingangstür, wo Viktor Boehm auf sie einredete. Vermutlich ging es um Wein. Bei ihm ging es immer um Wein oder klassische Musik. Seine Wangen glühten, mit dem Körper schirmte er sie von den restlichen Mietern ab.

»Unser Dionysos!«, bemerkte der Student in ihrem Rücken, und die alte Kücherer kicherte. Heute schien sie glasklar zu sein. Wenn sie bloß nicht von Torben anfing. Ellen stellte ihr leeres Glas auf dem Treppenabsatz ab. Ob sie mal nach Frau Vers sehen sollte? Die Neue kam auf sie zu, streckte ihr die Hand entgegen.

»Die gute Seele des Hauses, habe ich gehört.« In ihrer Miene lag kein Spott. Gute Augen, so viel Wärme darin.

»Wer sagt denn sowas?«

»Alle, mit denen ich geredet habe. Dann wird es stimmen.«

Die Hand der Therapeutin lag noch immer in ihrer. Plötzlich überschwemmte sie eine Welle der Dankbarkeit.

Herr Boehm füllte die Gläser auf. Endlich wieder Gespräche im Haus. Ihre Gläser stießen gegeneinander, ein Klirren wie Musik, bis Maren in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit rückte. Maren fixierte etwas hinter ihr Gelegenes, und im gleichen Moment wandte auch Jona Hagen ihren Blick zur Treppe.

Wie ein Geist schwebte Hanna Vers die Stufen herunter. Sie wirkte noch schmaler als sonst, die geblümte Bluse nahm jede Farbe aus ihrem Gesicht. Dass sie bis eben gelegen hatte, war unschwer an ihrem zusammengedrückten Haar zu erkennen. Vielleicht war sie wirklich krank. Psychisch krank, wie Maren es gestern angedeutet hatte. Ein verkrampftes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, während sie auf Jona Hagen zusteuerte und eine Schachtel in ihren Händen vor sich hertrug, als sei es eine Mission, Pralinen zu überreichen.

»Sekt?«

Hanna Vers schüttelte den Kopf. Das Glas Orangensaft, das die Therapeutin ihr reichte, steckte wie ein Fremdkörper in ihrer Hand. Die Augen hinter der randlosen Brille auf die Neue gerichtet, fragte sie schüchtern, ob sie ab jetzt in der Dachkammer wohne.

»Es ist eher ein Rückzugsort, wenn ich mal nachdenken oder malen möchte.«

»Ich wohne unter Ihnen. Und ich bin froh …« Sie brach den Satz ab und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Froh, dass jemand so nettes jetzt dort einzieht.« Wieder das scheue Lächeln, das unvermittelt abriss. Wie fahrig sie war.

Zum ersten Mal hatte es der Therapeutin die Sprache verschlagen. »Auf gute Nachbarschaft«, sagte sie nach kurzem Zögern und berührte Frau Vers am Oberarm.

Ein neues Lied setzte ein und wischte den seltsamen Auftritt fort. Warum war sie heruntergekommen? Seit vorgestern harrte sie in ihrer Wohnung aus. Erschöpfung stand auf ihrer Krankschreibung. Psycho, hatte Maren gesagt, als sie Dienstagabend aus ihrer Wohnung kam. Sie sei starr geworden bei der Nachricht von Torbens Tod. Starr und zittrig. Auch jetzt stand sie vor der Neuen, als könnte sie ein falsches Wort in die Krise stürzen.

Ellen leerte ihr Sektglas in einem Zug und stellte sich zu den beiden.

»Wenn es nach Essen duftet, kann man sicher sein, es kommt aus der Wohnung von Frau Vers.«

»Das zieht dann hoffentlich zu mir hoch.«

Die Neue lachte und kramte in ihrer Umhängetasche. Sie schien absorbiert von ihrem Glück über das Zimmer und bot jedem von den Zigaretten an, die sie aus der Tasche befördert hatte. Der Student griff als einziger zu und führte sie an seine Nase. »Nelke.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor er der Therapeutin zum Rauchen vor die Tür folgte.

Hanna Vers sah ihnen nach. Sie schien zu zögern, ob sie den beiden folgen sollte und nippte am Orangensaft, bevor sie das Glas abstellte und kurz darauf in ihre Wohnung zurückkehrte. Unschlüssig sah Ellen zu Maren. Ein Schulterzucken war alles, was der dazu einfiel. Und Viktor Boehm ließ noch einen Korken knallen. Take me to the matador, schallte es durch den Hausflur, Marens Lippen bewegten sich zu dem Text, fehlte nur noch, dass sie anfing, laut zu singen. Plötzlich schien ihr die Party seelenlos. Sie beugte sich zu Frau Kücherer, die mit geröteten Wangen im Treppenlift saß und den Trubel genoss.

»Alles okay?«

Das Strahlen in dem faltigen Gesicht war Antwort genug. Am Türrahmen gegenüber prosteten sich Maren und Herr Boehm zu. Niemand sagte etwas. Ihr fiel auch nichts ein. Erst als die beiden vom Rauchen zurückkehrten, wurde es belebter. Auf Marens Frage begann Jona Hagen von den Bildern zu erzählen, die sie in der Dachkammer malen wollte.

Am frühen Abend löste sich der Umtrunk allmählich auf.

***

Die Bauarbeiten am Haus gegenüber ruhten, und das bläuliche Flimmern in den Fenstern verriet, wer um diese Uhrzeit schon fernsah. Ellens Blick fiel auf die Vespa vor dem Gartentor. Ob die Neue schon heute in der Mansarde übernachtete? Sie raschelte mit der Futterpackung, doch das typische Tapsen von Katzenpfoten blieb aus. Vermutlich war Bella während der Feier ins Freie entwischt und streifte durch die Vorgärten. Vorsichtshalber öffnete Ellen ihre Wohnungstür, doch auch im Treppenhaus war von der Katze keine Spur. Das Aftershave von Herrn Boehm hing noch in der Luft. Und von oben kamen leise Klopfgeräusche. Von einem Nagel, der in die Wand getrieben wurde, oder pochte jemand gegen eine Tür? Sie konzentrierte sich. Da war es wieder. Knöchel an einer Tür, wenn sie es richtig deutete. Der Lautstärke nach im zweiten Stock.

»Bella«, rief sie laut und stieg die Holzstufen nach oben. »Bella.« Wieder das dezente Klopfen. Doch als sie den Absatz des zweiten Stockwerkes erreichte, stand sie allein dort. Und jetzt hörte sie auch, dass die Geräusche aus der Wohnung von Frau Vers kamen, begleitet von harschen Gesprächsfetzen. Führte sie Selbstgespräche?

Unschlüssig blieb Ellen vor der Holztür stehen, deren Glaseinsatz ein Tuch verhüllte, dann gab sie dem Drang nach und klingelte. Drinnen erstarben die Geräusche. Auch im Treppenhaus war es still. Die Villa hielt den Atem an. Nur ihr eigener Puls rauschte in den Ohren. Sie sollte wieder nach unten gehen, dachte sie, während ihr Daumen erneut auf die Klingel drückte. Endlich ein Rascheln. Die Tür öffnete sich einen Spalt und Hanna Vers, barfuß und mit einem weißen Kaftan bekleidet, sah sie unheilvoll an, bevor sie die Tür vollständig öffnete. Die Frage, ob alles in Ordnung sei, blieb Ellen im Hals stecken. Erst als die Mieterin die Hand mit dem Pfefferspray sinken ließ, folgte sie der Einladung ins Innere. In der Küche brannte eine Kerze auf dem Tisch und beleuchtete flackernd zwei leere Teetassen.

 

Dunkelheit hatte sich über das Dichterviertel gesenkt. Unbeteiligt hing die blasse Mondsichel am Himmel, als hätte sie sich für immer von der Erde losgesagt. Ellen fuhr ihre schmalen Konturen mit den Augen nach. Zum ersten Mal erkannte sie tatsächlich die runde Klinge eines Werkzeuges darin.

Von hier konnte man die grellroten Scheiben des Ginnheimer Spargels sehen, wie eine galaktische Raumstation ragte er in den Himmel. Wo blieb Frau Vers? Es war schon Minuten her, dass sie sich entschuldigt hatte, um im Bad zu verschwinden. Im Geiste versuchte Ellen, den bruchstückhaften Bekenntnissen der Mieterin Sinn zu verleihen. Dass sie das im Fall einer Befragung erzählen musste, stand fest. Deswegen fürchtete sie sich auch vor einem Besuch des Kommissars. Hanna Vers hatte von Schritten aus der Dachkammer erzählt, die ihr in die Träume gefolgt wären. Von rätselhaften Geräuschen bis in die Nacht hinein. Sein Anschleichen, sein plötzliches Neben-Ihr-Auftauchen, wenn sie Wäsche auf den Dachboden hängte. Mit jedem weiteren Wort schien es, als habe Torben Fischer ihr Leben diktiert. Hanna Vers, die zwar ein zurückhaltendes, etwas verstaubtes Dasein führte, aber doch im Leben stand. In einer Bank arbeitete. Die noch nie ihre Tür verriegelt hatte oder jemandem mit Pfefferspray in der Hand begrüßte.

Mehrmals war das Wort ›Schuld‹ gefallen. Es ging um Erinnerungslücken. Hatte sie wirklich gesagt, sie wisse nicht genau, an welchem der vergangenen Abende sie im Sinaipark gewesen sei? Man konnte doch nicht wegen ein paar Gläschen Wein vergessen, ob man abends in einen dunklen Park gegangen war. Und warum überhaupt? Auch darauf hatte die Mieterin keine Antwort gewusst. Das alles klang … verrückt. Ellen sah auf die beiden Tassen Tee, die Frau Vers in die Spüle geräumt hatte. Auf ihre Frage nach Besuch war sie nicht eingegangen. Unruhig durchquerte sie die spartanisch eingerichtete Küche und trat in den Flur. Wenigstens kamen Wassergeräusche aus dem Bad. Als sie sich umdrehte, jagte das Schrillen der Türklingel ihr Adrenalin durch die Adern.

Durfte sie öffnen? Sie schob einen Zipfel des Tuches zur Seite und erkannte durch den Glaseinsatz das Rot von Marens Bluse. Was wollte denn die schon wieder bei Frau Vers?

»Komme gleich«, rief es aus dem Bad.

Unschlüssig zog Ellen die Tür auf und sah in ein lächelndes Gesicht, das sich bei ihrem Anblick verdüsterte.

»Was machst du hier?«

»Ich mache mir Sorgen um Frau Vers.«

»Ich auch.« Maren schob sich in die Wohnung.

Wenig später saßen sie zu dritt in der hell erleuchteten Küche.

Hanna Vers trug wieder ihre bunte Bluse vom Nachmittag. Der Versuch, sich zu schminken, hatte rote Flecken auf ihren Wangenknochen hinterlassen. Ellen konnte den Blick nicht von der Stirn abwenden, die nass glänzte, von den kleinen Pusteln unter dem Haaransatz. Doch niemand bemerkte, dass sie starrte. Seit Maren die Küche betreten hatte, schien sie selbst unsichtbar.

»Und Sie sind sicher, dass Sie am Dienstagabend bei mir gewesen sind? Die ganze Zeit?« Die Frage der Mieterin klang wie eine Bitte, ihr das Gegenteil zu bezeugen, die Maren mit einem bedauernden Kopfnicken abschlug. Sie wirkte angestrengt, als sie hinzufügte, dass sie darüber doch schon am Mittag gesprochen hatten.

»Worüber denn?«, entfuhr es Ellen.

Eine Pause entstand, und Hanna Vers griff sich theatralisch an die Schläfen.

»Das, was ich die ganze Zeit versuche zu erklären. Meine Ängste. Und auch die Ausfälle. Ich kann mich an den Dienstagabend kaum erinnern. Ich hatte Kopfschmerzen am nächsten Morgen. Mein Kopf war Matsch.«

Maren zog die Augenbrauen hoch, »Sie haben eine ganze Flasche Rotwein getrunken. Filmriss nennt man das.«

»Aber da ist ein Film. Ein unheimlicher. Fetzen davon spuken in meinem Kopf herum.« Ihr Blick ging ins Leere, als spulten sie sich gerade auf einer inneren Leinwand ab. Im Schein der Deckenlampe wirkten ihre Gesichtszüge schärfer.

»Da ist dieser Park. Es war dunkel. Ich bin spazieren gegangen. Auf dem Weg. Es war kalt, aber ich hatte eine Jacke an. Oder hatte ich die ausgezogen? Weiß nicht. Und dann …«, angestrengt sah sie in die Ferne, »… dann lag ich da. In der Finsternis.« Sie biss sich auf die Lippen. »Ich lag im Gestrüpp. Über mir kein Himmel, nur schwarze Bäume. So dicht. Ich war … begraben von diesem Dickicht.«

»Und dann?«, fragte Ellen mit trockenem Mund.

»Habe ich geschrien. Ich rappelte mich auf und rannte und rannte und … dann war es morgen, und ich bin in meinem Bett aufgewacht.«

Ellen stieß die Luft aus. »Sind Sie sicher, dass es kein Albtraum war?«

»Ich kenne den Unterschied zwischen Albträumen und meinen …«

»Ängsten«, ergänzte Maren nach einer Weile.

»Aussetzern.«

»Frau Vers«, Maren drehte an ihrem Nasenstecker, ein Anzeichen, dass sie langsam die Geduld verlor, »wir kennen uns seit über zwei Jahren, und seit neun Monaten wohnen wir im selben Haus. Ich habe noch nie ein lautes Wort von Ihnen gehört.«

»Vielleicht vermischen Sie manches?« Kaum ausgesprochen, bereute Ellen ihre Worte. Sie hatten freundlich klingen sollen, aber die Panik in ihrer Stimme brachte alle drei zum Schweigen. Was geschah hier eigentlich?

Sie wollte in ihre Wohnung zurück. Bella füttern, zu Abend essen, und zwei Episoden der neuen Krimi-Staffel sehen.

Gerade als sie im Begriff war aufzustehen, schob Hanna Vers den Ärmel ihrer Bluse nach oben. »Und was ist das?« Wie eine Anklage prangte der Abdruck von fünf Fingern als blau verfärbtes Hämatom auf ihrem Oberarm. »Muss ich das der Polizei nicht zeigen, wenn sie nochmal ins Haus kommt?«

Maren betrachtete die Druckstelle auf dem Arm. »Ich weiß nicht. Lieber nicht. Und Sie wissen nicht, woher das stammt?«

Aus dem Treppenhaus ertönte Gepolter. Wie auf Kommando verstummten sie alle drei. Etwas Metallenes schepperte von Stufe zu Stufe bis zum unteren Treppenabsatz. Die Neue schien mit einem Möbelstück zu kämpfen.

Es dauerte eine Weile, bis Ruhe im Hausflur einkehrte und Maren nach ihrem Wohnungsschlüssel griff.

Schweigend verabschiedeten sie sich von der Unglücklichen, schweigend liefen sie die Treppe hinunter. Erst als sie sich in der Diele gegenüberstanden, ergriff Maren das Wort. »Durch den Wind, sage ich nur.« Sie klaubte zwei Chips vom Boden auf. »Und ich sag dir noch etwas.« Ihr Gesicht kam so nahe an Ellens heran, dass ihr Zigarettenatem zu riechen war. »Ich habe sie am Montagabend aus dem Haus gehen sehen, auch wenn sie behauptet, die Abende zu verwechseln. Sie wirkte ganz normal, als ginge sie einkaufen. Sie hat Fischer bestimmt nicht abgemurkst. Trotzdem gut, dass Steiner sie nicht angetroffen hat.«

In ihrer Küche brannte noch Licht. Ellen sackte in den Stuhl und starrte auf den Sisalstamm, an dem Bella sonst ihre Krallen schärfte. Kaum zu glauben, was sie gerade erfahren hatte. Vielleicht saß Hanna Vers noch am Holztisch, nur wenige Meter über ihr, mit ihrem Film im Kopf und diesem verrückten Blick. Beim Hinausgehen hatte sie ihn auf sich gespürt. Sie wusste nicht allzu viel über die nette, zurückgezogene Frau. Sechsunddreißig. Viel zu jung, um blumige Blusen zu tragen und sich nach der Arbeit zu Hause zu vergraben. Schon Frau Wismar hatte den Kopf über sie geschüttelt. Die braucht mal einen Mann, hatte die alte Kücherer letztens gesagt und gekichert. Torben Fischer war ein Mann, und er hatte direkt über ihr gewohnt. Und laut eigener Aussage in Scheidung gelebt.

Ellen stützte ihr Kinn in die Hände. Von oben war die Stimme des Moderators zu hören, dessen Show Frau Kücherer liebte. Aus dem Wohnzimmer vernahm sie ein Maunzen. Sie fand Bella vor der gekippten Tür im Garten. Im Schein des Bewegungsmelders glänzten die braunen Knopfaugen. Ihre Barthaare waren blutverschmiert, und vor ihren Pfoten lag eine tote Ratte.

6

Jona erwachte vom Läuten der Kirchenglocken. Das Kabel mit der nackten Glühbirne hing über ihr wie eine weiße Sonne, deren Licht erloschen war. Wenn sie ihren Nacken überstreckte, konnte sie in den farblosen Himmel sehen. Aber das war keine gute Idee. Der Schmerz schoss sofort zwischen ihre Brauen. Sie schloss die Augen und tastete nach dem Handy. Zehn Uhr. Und keine Nachricht von Ulf. Um diese Uhrzeit hatte er längst mit seinem Sohn gefrühstückt. Automatisch wählten ihre Finger die vertraute Nummer und drückten die Verbindung wieder weg. Der Gedanke, einfach so seine Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören, war seltsam.

Sie lag in einem Paralleluniversum, abgeschnitten von ihrem bisherigen Leben, randvoll mit Bildern und Eindrücken der letzten vierundzwanzig Stunden. Kaum zu glauben, dass über ihnen das gleiche Flugzeug am Himmel seine Kondensstreifen zog.

Wie sollte sie Ulf die ganze Geschichte erzählen, die mit einem Sperrmüllhaufen begann und in der Küche von Maren Keiler endete, jetzt, wo ihnen diese Leiche dazwischengekommen war, die Leiche des Toten, in dessen Mansarde sie lag. Es musste sich um die Mansarde des ermordeten Immobilienmaklers handeln, von der Ulf im Park erzählt hatte, warum sonst war er im Garten der Villa gewesen? Das konnte doch kein Zufall sein.

Sag einfach die Wahrheit, hatte Ute ihr am gestrigen Abend nach dem zweiten Calimocho beim Spanier geraten. Und das so schnell wie möglich. Nach ihrem vierten Calimocho hatte sie ihr nahegelegt, bis zum nächsten Tag zu warten.

Jona stand auf und spülte eine Kopfschmerztablette mit eiskalter Cola hinunter. Ihr Designerkühlschrank, ihr Futon auf dem roten Teppich und zwei Eimer mit Pinseln und Farbtuben in der Ecke. Sie konnte nicht verhindern, dass der Anblick ihres neuen Zimmers sie glücklich machte. Eine Künstlerbude. Wann wurde sie erwachsen? Morgen würde ihr geregeltes Leben in der Praxis weitergehen. Sie musste mit Ulf reden. Und davor frühstücken. Ob es im Wohnviertel um diese Uhrzeit irgendwo Schokocroissants gab?

Zwanzig Minuten später nippte sie zwischen Süßigkeiten und Kaltgetränken an einem Espresso. Vom Ofen in ihrem Rücken zog ein Duft nach frischen Brötchen durch den Raum. Sonntagmorgens glich die Tankstelle einer Bäckerei. Kaum jemand tankte. Eine Angestellte reichte Backwaren, Getränke und Zeitungen über die Theke, aus den Boxen rieselte Popmusik. Auch eine Art, die Menschen aus dem Viertel kennenzulernen. Jona lächelte der Frau hinter der Theke zu. Ihr gefiel der Ort. Ob Ulf hier tankte? Das Präsidium lag in der Nähe. Wie oft war sie in Versuchung gewesen, ihn anzurufen. Bei der letzten Fahrt zwischen Bornheim und der Villa im Dornbusch hatte sie den Weg über das Nordend genommen, um dann doch nicht in die Neuhofstraße einzubiegen. Seit wann wich sie Konflikten aus?

Wieder schob sich sein müdes Gesicht in ihre Erinnerung. Er bat um Schonung, und in ihr explodierten die Wünsche. Es muss doch mehr als Alles geben, hörte sie ihren Vater spöttisch sagen und leerte den Pappbecher bis zum letzten Tropfen, doch auch der zuckrige Bodensatz konnte diesen Gedanken nicht versüßen.

Das in Papier gewickelte Schokocroissant wurde ihr über die Theke gereicht. Sie drückte der Angestellten einen Fünfeuroschein in die Hand und verließ die Tankstelle. Auf dem Gehsteig hinter den Zapfsäulen eilte eine schmale Gestalt in Sportanzug dem Park entgegen. War das die scheue Mieterin von gestern? Hanna Vers? Jona fixierte die Frau. Ihr Gang wirkte selbst auf die Distanz getrieben. Ein Tuch verdeckte die Hälfte ihres Gesichtes. Aber die Haare und die Körperhaltung verrieten sie. Ohne nachzudenken, überquerte Jona die Tankstellenanlage und folgte ihr. Hanna Vers war schon in den Schotterweg des Parks eingebogen. Mit am Körper abgewinkelten Armen schritt sie aus. Trieb sie Sport? Bei dem gestrigen Sektumtrunk hatte sie geistesabwesend gewirkt und war erst nach einer Weile aufgetaut. Umso erstaunlicher ihre Einladung auf eine Tasse Tee, als sie sich noch einmal kurz am Treppenabsatz begegnet waren. Sie schien einsam. Ihr Lächeln, die verkrampften Schultern. Und dann ihr Schweigen, als sie sich gegenübersaßen. Der Blick voll stummer Erwartung. Warum, verdammt, musste sie immer auf so etwas reagieren. Ob es ihr nicht gut ging. So etwas fragte man doch nicht beim ersten Treffen. Hanna Vers schien nur darauf gewartet zu haben.

 

Ein Liebespaar kam ihr entgegen. Jona wich den beiden aus und bemühte sich um einen Schlendergang. Der Park war übersichtlich; wenn Hanna Vers ihn umrundete, würde sie sie zwangläufig irgendwann sehen oder an ihr vorbeilaufen. Die einzige versteckt liegende Bank, die ihr einfiel, war die am Tatort. Aber das war perfide. Als sie ihren Blick wieder nach vorn wandte, war Frau Vers verschwunden.

Erleichtert biss Jona in ihr Croissant. Unter ihren Sohlen knirschte der Schotter, die Vögel zwitscherten. Sie würde ihren Spaziergang fortsetzen, ohne nach ihrer Nachbarin zu forschen. In der Praxis begegneten ihr täglich genug Neurosen. Aber seltsam war ihr plötzliches Abtauchen doch. Sie ließ ihren Blick schweifen und erhaschte auf dem gewundenen Pfad ins Gehölz einen Fetzen des bordeauxroten Sportanzuges. Was machte Frau Vers im Gestrüpp der Sinai-Wildnis? Jetzt bückte sie sich. Hatte sie etwas verloren an diesem gefällten Baumstamm, hinter dem sie erneut verschwunden war? Irritiert näherte sich Jona dem Pfad. Noch immer schien ihre Nachbarin wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich tauchte sie auf und stand wie eingefroren. Ob sie Hilfe brauchte?

Der Himmel war inzwischen fahl, aber immerhin pochte es nicht mehr hinter ihrer Stirn. Nur ihr Denken schien verlangsamt. Keine Eingriffe, keine Übergriffe, befahl sie sich im Geiste. Was gingen sie die Marotten ihrer Mitmieterin an? Sie war gestern schon viel zu tief in das Gespräch über Ängste und Selbstzweifel eingestiegen.

Erst nach endlosen Sekunden wandte sie sich ab und folgte dem Schotterweg bis zum Ende des Parks. Rechts ging es in eine Grünanlage. Ihre Gedanken wanderten zu Ulf. Wie es schien, hatten sie den ersten richtigen Konflikt. Es war 36 Stunden her, seit sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, und sein fassungsloser Blick im Garten der Villa ging ihr nach.

Sie blieb an einem Bronzekunstwerk stehen. Ein Mann saß auf einer Bank, ein zweiter stand abgewandt hinter ihm. Die perfekte Nichtkommunikation. Willkommen im Club, dachte sie und wählte, nachdem sie sich neben der sitzenden Skulptur niedergelassen hatte, Ulfs Nummer. Keine fünf Sekunden später hatte sie ihn in der Leitung.

***

Die Stufen zum Eingangsportal des Polizeipräsidiums kamen ihr steiler als sonst vor. Am Empfang wusste man bereits von ihrem Besuch. Die Beamtin hinter der kugelsicheren Trennscheibe gab das Drehkreuz frei. Das letzte Mal hatte sie den Innenhof in Vorfreude auf Ulfs Umarmungen überquert und es nicht erwarten können, durch die langen Gänge des hinteren Gebäudes zu seinem Büro zu kommen. Jetzt schien es ihr mit jedem weiteren Schritt unmöglicher, seiner Bitte, ins Präsidium zu kommen, gefolgt zu sein. Es war sein Bereich, sie eine Besucherin.

Ulf telefonierte mit dem Rücken zu ihr, als sie die angelehnte Tür des Büros aufschob. Graues Licht floss in den Raum, der ihr verändert vorkam. Vielleicht, weil vor dem Whiteboard eine zusätzliche Stellwand stand. Bevor sie sich bemerkbar machen konnte, beendete Steiner das Telefonat.

»Entschuldige.«

»Bist du im Dienst?«

»Nein.« Er bat sie ins Zimmer. Wie bei einer Vorladung. Mit spröder Stimme lehnte sie ein Wasser ab. Zwei Meter zwischen ihnen, und keine Regung in seiner Miene.

»Das, was ich dir sagen muss, wird dir nicht gefallen.« Er trat zur Stellwand und tippte mit dem Finger auf das Foto einer brutal erstochenen Leiche in Jogginganzug.

»Dein Vormieter«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Er wohnte nicht zufällig in dieser Villa. Sein Kollege Moritz Krampner gab gestern zu Protokoll, dass Torben Fischer geradezu verbissen gewesen sei, dieses Anwesen unter Vertrag zu kriegen. Er war verschuldet, und das Haus, in dem er vor seiner Trennung lebte, gehört seiner Frau. Wie du ja bereits weißt.«

Jona starrte auf die hingestreckte Person und musste an die olivfarbene Tapete denken, auf die der junge Mann noch kurz vor seinem Tod geschaut hatte.

»Keiner in der Firma hat es geschafft, die Besitzerin umzustimmen«, fuhr Steiner fort, »und Fischers Name kannte sie bis dato nicht.«

»Maren Keiler?«

»Wir reden von Traute Wismar. Die Frau Keiler das Haus im Falle ihres Todes zugedacht hat.«

»Und die ist jetzt tot?« Jona musterte die schmalen Augen hinter den Brillengläsern. Sie waren rot gerändert.

»Seit zweieinhalb Monaten. Die Erbangelegenheit läuft noch. Und vermutlich rechnete sich Fischer bei der neuen Vermieterin Chancen oder zumindest einen gewissen Einfluss aus.«

»Das ist Spekulation.«

»Eine Hypothese. Nimm seinen Laptop. Wir wissen nicht, wer die Daten geschreddert hat. Aber dass sie vor seinem Tod vernichtet wurden, hat die KTU bestätigt. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Torben Fischer es selbst getan hat. Sensible Daten vielleicht über das Haus, die Vermieter, über Vermögensverhältnisse.«

Aus dem Flur drangen Stimmen. Mit zwei Schritten war Ulf bei der Tür und drückte sie leise ins Schloss. Sensible Daten. Wahrscheinlich durfte er kein Wort davon preisgeben. Sie trat näher an die Stellwand. Ein Männername stand links vom Foto des Toten, und rechts der Name ihrer Vermieterin.

»Da haben wir Moritz Krampner, der gestern im Präsidium war. Er sagt, sie würden sich auch privat gut verstehen. Und …«, Ulf stand plötzlich so dicht neben ihr, dass ein Hauch seines Aftershaves zu ihr wehte, »… er war noch am Montag zwei Stunden vor seinem Tod bei ihm.«

Ob das schon verdächtig sei, hörte Jona sich fragen, während ihr die Kraft aus den Knochen wich. Wieso diskutierte sie mit Ulf über den Fall, statt endlich die Worte auf ihre Dachkammer zu lenken, statt ihn zu berühren, irgendwie, um diesen Bann zu brechen?

»Wenn er uns das freiwillig gesagt hätte, nein. Wir mussten ihn erst mit der Handyauswertung von Fischer konfrontierten. Er war der letzte Anruf auf seiner Liste. Angeblich bot Krampner ihm an, vorübergehend bei ihm zu wohnen.« Steiner räusperte sich. »In der Ermittlungsarbeit wimmelt es von guten Menschen und edlen Motiven.«

»Und Frau Keiler?«

»Schien perplex, als sie von seinem wahren Beruf erfuhr. Ihr wird die Villa gehören und eine Barschaft. Da gibt es noch eine enterbte Tochter von Frau Wismar, der ein Pflichtanteil zusteht. Wenn man sie findet. Astrid Wismar hat sich seit Jahren von ihrer Mutter und dem ganzen Spießerland, wie es der Notar formulierte, losgesagt. Eine Aussteigerin.«

Aussteigerin. Jona trat einen Schritt zurück. Unwillkürlich musste sie an Ute denken, die letztes Jahr auf eine kleine Insel ausgewandert war, um dann nach Monaten in der Praxis zu stehen, als sei nichts gewesen. Auswandern, wie weit war das weggerückt von ihr. Sie hatte jetzt zwei Zuhause. Wenn sie so weitermachte, bald keines mehr.

»Warum steht denn dann Frau Keilers Name an der Wand?«

Ulf zog seine Brille ab und wischte sich über die Augen.

»Setz dich mal.«

Sie rollte den Drehstuhl zu sich und verfolgte, wie Ulf aus dem Vollautomaten in der Ecke zwei Espresso zog. Sie wollten an diesem Wochenende gemeinsam nach einer Wohnung suchen. Vielleicht hatte sie alles kaputt gemacht. Der Blick, den er ihr von der Stellwand zuwarf, war nicht zu deuten.

»Bist du wirklich in diese Villa gezogen?«

»Ausgewichen. Als Rückzug und Atelier.« Sie zwang sich, den Blick nicht von Steiners verletztem Gesicht zu wenden. Es entsprach der Wahrheit. Ihrer Wahrheit. Steiners Wahrheit sah vermutlich anders aus. Schon allein das, was er ihr bisher erzählt hatte, konnte ihn seinen Job kosten.

Als lese er in ihren Gedanken, sprach er genau diesen Satz aus, bevor er von den ersten Indizien berichtete, die auf Ungereimtheiten in den Unterlagen der Immobilienfirma Greif schließen ließen.