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***

Gott sei Dank hatten sie das Gespräch abgebrochen und auf morgen vertagt. Dass Ulf nicht schlief, hörte sie an seiner Art, Luft zu holen. Zur Seite gerollt, lag er neben ihr im Bett und atmete seine Sorgen in die Dunkelheit. Seine größte war, sie in Gefahr zu bringen. Die Kripo, die Steuerfahndung, und sie, seine Lebenspartnerin, als Mieterin direkt am Schauplatz des Geschehens. Es könne gefährlich werden, wie oft hatte er das wiederholt und Szenarien entworfen, in denen jemand sie zusammen sah und falsche Schlüsse zog. Als würde sie sich von der Kripo einspannen lassen.

Jona schlüpfte aus dem Bett und schlich durch die dunkle Wohnung auf den kleinen Balkon. Im Haus gegenüber waren mehrere Fenster erleuchtet. Die Stadt schlief nie. Sie zündete sich eine Nelkenzigarette an und sah zu, wie die Glut sich knisternd durchs Papier fraß. Die letzte hatte sie gemeinsam mit dem Studenten vor der Tür geraucht; es schien Ewigkeiten her. Und es war schön gewesen. Wie lange hatte sie schon nicht mehr mit einem jungen Menschen geredet, der die Welt philosophisch betrachtete? In ihrer Welt ging es immer nur darum, Probleme anzugehen. Ulfs Welt bestand aus Opfern, Tätern und dem Versuch, eine Gerechtigkeit herzustellen, die es ohnehin nicht gab. Dass Joschua der Welt moralfrei begegnete und keine Urteile fällte, war erfrischend.

Ulf hatte davon gesprochen, dass der Tote bei Joschua ein- und ausgegangen sei, angeblich, weil es keine Waschmöglichkeiten in der Mansarde gab. Es war absurd, darin mehr als reine Freundlichkeit zu sehen. Aber Ulf hielt ja auch Maren Keiler für gefährlich, und Ellen Beetz dazu. Herrje, wenn er die beiden beim Sektempfang erlebt hätte. Alles, was sie wollten, war in Ruhe dort zu leben. Und sie boten den Maklerbonzen die Stirn. Absurd, dass es schon verdächtig war, wenn jemand sich an diesem Mietenwahnsinn nicht beteiligte und sich weigerte, seine Träume zu verkaufen. Die kleine Gemeinschaft der Villa war speziell und liebenswert. Wieder fiel ihr die scheue Bewohnerin aus dem ersten Stock ein, die ihr Interesse und ihren Zuspruch förmlich aufgesaugt hatte. Morgen sollte sie mal kurz vorbeisehen, ob es ihr wieder besser ging. Aber kurz, einer neuen Nachbarin angemessen, und etwas unverbindlicher. Sie drückte ihre Zigarette in Steiners Aschenbecher aus und zählte vier weitere Stummel, die definitiv nicht von ihr waren.

Gegenüber erlosch das Licht in einem Fenster. Wieder einer, der Ruhe gefunden hatte. Fröstelnd lief sie ins Schlafzimmer zurück und erfasste den dunklen Schatten am Fenster erst, als Ulf sich ihr zuwandte.

»Den Wunsch nach einem eigenen Zimmer kann ich gut verstehen.«

Die Stille, die seinen Worten folgte, stand zwischen ihnen. Jona spürte, wie ihr Körper sich anspannte. Eine ganze Weile standen sie sich im Dunkeln gegenüber, dann hörte sie das Knacken seiner Fußgelenke.

»Vielleicht ist dir entgangen, dass ich auch keinen Rückzug habe, seit du hier wohnst.«

»Nein, ist es nicht.« Sie griff nach seinem Arm und fasste ins Leere.

»Der Einzige mit eigenem Zimmer ist Jakob«, sagte er mit gepresster Stimme, »und für den ist die Situation schwierig genug. Ich tue, was ich kann, um dir ein neues, gutes Zuhause zu geben, und du mietest dir heimlich einen Rückzugsort. In der Mansarde eines Toten, dessen Mordfall ich betreue. Hast du eine Ahnung, was das bedeutet? Wenn du denkst, alles …« Er brach den Satz ab.

Nein, sie dachte nicht, dass sich alles um sie drehte. Sie hatte noch nicht mal eine Ahnung, wo sie stand.

Zwei Schritte trennten sie von seiner reglosen Silhouette. Zwei Schritte und das Wissen, dass sie den Kosmos seiner Person nie ganz begreifen würde. Dass sie sich liebten, weil jeder für sich ein Kosmos war, hautnah und unerreichbar.

Ihr Entschuldige klang rauer als beabsichtigt. Die Gedanken waren plötzlich verstummt. Alles war verstummt. Sie griff nach seinen Händen. Spürte seine warmen Lippen, seine Muskeln, seinen Körper, der sich in ihrer Umarmung entspannte. Hörte sich sagen, dass sie eine Grenze ziehen würde, für eine Weile, eine Grenze zwischen sich und der Villa. Dass sie morgen damit beginnen würde, nach einem letzten Besuch.

***

Es dämmerte bereits, als sie am nächsten Abend ihren Roller parkte und das verrostete Gartentor aufdrückte. Die Villa thronte im Garten, nur erreichbar über den steinernen Treppenaufgang, der ihr etwas wie Würde verlieh.

Im Treppenhaus roch es nach altem Holz und Äpfeln. Das Deckenlicht legte einen gelben Schein auf die ausgetretenen Stufen. Jona blieb im Vorraum der Diele stehen und lauschte einen Moment in die Stille, der ein leises Schleifgeräusch unterlegt war. Das Geräusch kam von unterhalb der Treppen. Bisher war ihr gar nicht aufgefallen, dass es Kellerräume gab. Ob der Geruch nach gelagertem Obst den Vorratskammern entströmte? Sie setzte einen Schritt nach vorn und stand plötzlich im Dunkeln. Wieder dieses Geräusch. Dazu ein Sirren.

»Hallo?«

Niemand antwortete. Kurz entschlossen trat sie die Stufen ins Untergeschoss hinunter, vorbei an einem blinden Spiegel und einem Garderobenständer, hinter dem eine Eisentür offenstand. Von der Schwelle aus bot sich ihr ein seltsamer Anblick. In der Mitte eines unverputzten Gewölbes beugten sich der Student und Ellen Beetz über ein auf den Sattel gestelltes Fahrrad. Hinter ihnen bedeckten Sägen, Gartengeräte und Schraubenschlüssel die Wände, in der rechten Ecke stand eine Töpferbank. Niemand hatte beim Einzug diese perfekt ausgestattete Werkstatt erwähnt, die sich in dem fensterlosen Raum versteckte. Als Jona an die offene Eisentür klopfte, schreckten beide auf.

»Hey.« Joschua lächelte. »Wieder da?«

Mühsam erhob sich Frau Beetz und wischte die ölverschmierte Hand an ihrer Gartenschürze ab. Das Neonlicht leuchtete unbarmherzig ihr müdes Gesicht aus.

»Ich will nur ein paar Sachen von oben holen. Und mich bei Frau Vers nochmal für die Pralinen bedanken.«

Ihr nächster Satz wurde vom Klimpern unterbrochen, mit dem der Schraubenschlüssel zu Boden ging. Ellen Beetz stoppte ihn mit dem Schuh. »Ich kann es ihr später ausrichten.«

»Das mache ich lieber persönlich.«

»Zu spät.« Diesmal war es der Student, der ihr entgegentrat. In seiner schmucken Hose und dem Leinenhemd wirkte er fehl an diesem Ort. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf seine sauberen Hände. Erklärte er seiner Nachbarin, was zu tun war, statt mitzuhelfen? »Heute Nacht kommt Hanna nicht nach Hause.«

»Herr Zingler!«

»Sorry«, erwiderte der Student und sah Ellen Beetz mit ehrlichem Bedauern an, »aber es gibt nichts, was sich lange verheimlichen lässt.« Er strich sich über seinen Vollbart. »Hanna ist zur Polizei gegangen und hat behauptet, sie hätte Torben Fischer umgebracht.«

»Wir glauben das alle nicht«, beeilte sich Ellen Beetz zu sagen. »Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Leben, das Sinn hätte, fragte nicht danach.« Joschua zuckte mit den Schultern. »Sagt jedenfalls Adorno in seiner negativen Dialektik. Ich kann auch nicht glauben, dass Hanna so etwas getan hat. Andererseits ist sie aufs Präsidium gegangen und hat denen ihre Schuld wie ein ordentlich geschnürtes Päckchen auf den Tresen gelegt. Und diese Helden haben sie dabehalten und sich auf die Schulter geklopft für ihren tollen Erfolg. Ich glaube, die Beerdigung hat sie in eine Krise gestürzt. Der Bulle mit dem weißen Hemd, der einen Besen verschluckt hat, hat sie wohl verfolgt.«

Steiner! Jonas Gesicht glühte. Natürlich war er zur Beerdigung von Torben Fischer gegangen, er war der zuständige Kommissar und auch der, bei dem eine Geständige zuerst landete. Was sie alles gar nicht wissen durfte. Aber wieso war Hanna zur Beerdigung gegangen? Doch nicht wegen ihrem Gespräch nach dem Sektempfang.

»Wieso Mord?« fragte sie so bestürzt wie möglich. »Der Mann, der die Wohnung meines Vormieters ausräumte, sagte mir, sein Bruder hätte sich wohnlich vergrößert.«

»Wohnlich vergrößert – das ist stark.« Der Student grinste kurz. Ohne Vorwarnung stieß Ellen Betz das Fahrrad um. Oder hatte sie sich daran festhalten wollen? Als sie sich wieder gefangen hatte, legte sie die Gartenschürze ab und ordnete ihr drahtig wirkendes, graues Haar.

»Wir haben versucht, Privatsphäre zu achten. Wer kennt schon die Geschichte seines Vormieters?« Ihr Blick verlor die Schärfe, als sann sie über diese Frage nach, bevor sie unvermittelt von Hanna Vers zu erzählen begann, von ihrem freundlichen, zurückgezogenen Wesen, ihrer Schreckhaftigkeit, die mit dem Einzug von Torben Fischer zugenommen hätte. »Dieser Mord hat sie durcheinandergebracht, genau wie die Angst vor einem Verhör.«

Genau wie ein Gespräch über Ängste, fehlendes Selbstvertrauen und Mut. Jonas Magen krampfte sich zusammen. »Gesteht man deshalb einen Mord?« Unwillkürlich glitt ihr Blick über die Sägen an der Wand.

»Sie hat manchmal diese Bilder im Kopf. Da geht was durcheinander bei ihr. Selbst Maren ist es nicht gelungen, sie von ihrer fixen Idee abzubringen. Und jetzt läuft irgendwo ein Mörder frei rum, und Frau Vers bezahlt für ihre Ängste. Das ist nicht gerecht.«

»Gerechtigkeit gibt es nicht.« Jona fing den interessierten Blick des Studenten auf und wandte sich an Ellen Beetz, die neben seiner schmächtigen Gestalt plump wirkte, und verzweifelt.

»Außerdem wird niemand verurteilt, wenn nur irgendein Zweifel an der Richtigkeit der Aussage besteht.«

»Kennen Sie sich damit aus?«

»Ich hatte vor langer Zeit mal eine Klientin in der Praxis, die in Schwierigkeiten war«, hörte Jona sich sagen, während in ihrem Kopf eine Alarmglocke schrillte.

»Bevor Sie gehen, bitte kurz bei mir klingeln«, sagte Joschua, »ich hab noch den Toilettenschlüssel zur Dachmansarde.«

»Ich gehe jetzt gleich.«

 

»Dann komme ich gerade mit. Danke, Frau Beetz, ich schaue nachher nochmal vorbei.«

Summend lief der Student neben ihr die Stufen hinauf. Vor seiner Haustür sah er ihr das erste Mal ins Gesicht.

»Ich besitze keinen Schlüssel zur Dachtoilette. Aber die Beetz hätte dich nicht so schnell aus ihrem Gebet entlassen. Auf einen Tee?«

Zwei Minuten später saß Jona auf einem sperrmüllverdächtigen Küchenstuhl und verfolgte, wie der Student Tee aufbrühte und den Inhalt einer angebrochenen Kekspackung auf einen Unterteller dekorierte. Ihr war noch immer flau. Wieso musste sie Hanna nur an dem Abend beschwören, auf ihre innere Stimme zu hören, egal was andere sagten. Sie kannte sie doch gar nicht. Ein fast therapeutisches Gespräch unter Sekteinfluss; wenn sie das Ute erzählen würde. Jona sah auf. Was hatte der Student gerade gesagt – dass er einfache Einrichtungen mochte?

Sie sah sich in der Küche um. Dass hier nicht gekocht wurde, fiel selbst ihr auf. Die wenigen Dinge, die in den offenen Regalen standen, sahen nach Instantgetränken und Fingerfood aus. Was sich hinter dem Vorhang des oberen Hängeschranks verbarg, würde er ihr bestimmt nicht lange vorenthalten. Seine Attitüde, materiellen Dingen nichts abgewinnen zu können, stand zu deutlich im Raum. Im Gegensatz zur Patchworkeinrichtung nahm sich seine Kleidung makellos aus. Hemd und Stoffhose. Am Flurhaken ein Jackett. Sie schob den Gedanken an Hanna Vers’ leere Wohnung gegenüber fort, während ihr der Student eine Tasse Tee reichte und sich einen Küchenhocker an den Tisch heranzog.

»Danke.« Jona blies in den Tee. »Auch für die Rettung eben.«

»Nichts gegen Frau Beetz. Sie ist mehr als in Ordnung. Auch wenn sie denkt, ich mache den ganzen Tag nichts anderes als Joints rauchen und Löcher in die Luft philosophieren.«

»Und machst du noch etwas anderes?«

Joschua strich sich über den Bart. »Vorlesungen besuchen, Referate schreiben, Thesen prüfen, nachdenken, zweimal in der Woche Nachtdienst im Parkhaus, Mathe-Nachhilfe geben, mit Freunden ausgehen, Gedichte schreiben und …«, er lächelte, »noch ein paar andere Dinge.«

»Wie Frau Beetz Tipps beim Rad reparieren geben.«

»Eher andersrum. Ich habe ihr zugesehen, um was zu lernen. Sie kann alles, und sie macht auch alles im Haus. Manchmal denke ich, sie weiß auch alles.«

»Von der Aktion von Frau Vers hat sie nicht gewusst.« Jona sah in das junge, bärtige Gesicht des Studenten und fragte, wie er die Situation einschätze. Mit einem Schlag erlosch die Koketterie darin.

»Wenn du einmal in den Lauf einer Pistole geschaut hast, dann bleibt da was zurück. Nackte Angst um deine Existenz.«

»Geht es auch etwas undramatischer?«

»Das mit der Pistole ist keine Metapher. Vor ein paar Jahren hat ein Vermummter Hanna in der Sparkasse eine vors Gesicht gehalten. Taschen auf, Geld rein. Geisel für zwei Stunden. Seitdem hat sie Flashbacks und Phasen, in denen sie sich wie in einem Film vorkommt. So hat sie es mir erklärt.«

»Depersonalisation!«, murmelte Jona, das hatte sie bei ihr mit keinem Wort erwähnt. Nur diese Selbstzweifel. Sie versuchte sich vorzustellen, wie die beiden gemeinsam an einem Tisch saßen und über persönliche Dinge sprachen. Immerhin duzte er sie.

»Hanna ist nicht immer schräg drauf. Sie kann auch lustig sein. Letzten Sommer haben wir im Vorgärtchen gesessen und den Vögeln in den Bäumen Gespräche angedichtet.«

»Nüchtern?«

»Naja, ein paar Haschkekse waren im Spiel. Ich wollte sie einfach mal lockermachen. Ist gelungen.« Er verschränkte die Hände hinter seinem Nacken. »Was ist denn das Leben wert, wenn man sich nicht ab und zu frei fühlt?« Wie zur Bekräftigung zwitscherte ein Vogel vor dem Fenster. »Später war sie froh über diese Erfahrung.«

Jona schwieg. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um zu sehen, dass er selbst wusste, wie übergriffig diese Aktion gewesen war.

»Torben Fischer hat sie auch mal auf einen Wein eingeladen. Ist aber abgeblitzt.« Er zuckte mit den Schultern. »Zu anhänglich, denke ich mal. Und dann stand er unter Strom. Gerade abends. Wie ein Tiger lief er in der Mansarde auf und ab und hat ins Telefon gebrüllt, das hab sogar ich gehört. Und Hanna hat unter ihm gewohnt.«

»Wusstest du, dass sie zur Polizei wollte?«

»Nee, keinen Schimmer. Sonst hätte ich es ihr ausgeredet.«

Sein Handy klingelte. Nach einem Blick auf das Display trat er zum Fenster und rief etwas in den Vorgarten hinunter. Als er sich umdrehte, wirkte er belebter.

»Das Treffen in der Shisha-Lounge habe ich ganz vergessen. Sorry.«

Jona beobachtete die beiden vom Flurfenster aus. Die junge Frau auf dem Hollandrad, die vor dem Gartentor wartete, war ebenso zierlich wie Joschua. Sie umarmte ihn kurz, bevor sie gemeinsam davonradelten. Er war überzeugt von Hannas Unschuld. Und ihr ging das seltsame Gebaren der Mieterin im Sinaipark nicht mehr aus dem Kopf. Ein so zerbrechlicher Mensch konnte doch nicht bestialisch morden. Oder vielleicht gerade doch, aus einer Angst heraus. Langsam stieg sie die Stufen ins Dachgeschoss hinauf und suchte nach dem ersten Eindruck, den sie von Hanna Vers hatte. Sie war als Letzte zum Sektempfang dazugestoßen, und ihre Körpersprache beim Überreichen der Pralinen sagte … Jona blieb auf dem Treppenabsatz stehen … tu mir nicht weh! Hanna Vers wirkte wie ein Mensch, der darum bat, verschont zu bleiben – und damit jedem ausgeliefert war, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, diese Rolle zu übernehmen.

War das Torben Fischers Rolle gewesen?

Sie schloss die Dachkammer auf und sah im gleichen Moment das Foto des verdrehten Leichnams vor sich. So hell das Licht der Glühbirne auch die Kammer ausleuchtete, es blieb ein Schatten darin. Vor ein paar Tagen hatte der Tote hier noch energisch und lautstark telefoniert. Und sich Raum genommen, vielleicht über die Grenzen der Mansarde hinaus.

Sie wurde das Gefühl nicht los, dass der Raum noch immer Torben Fischer gehörte. Selbst ihr Futon wirkte in diesem Licht fremd. Wenn sie zurückkehrte, würde sie die Wände weißen.

Mit ihrem Laptop und zwei kleineren Taschen bepackt, trat sie wenig später die knarzenden Holzstufen hinab. Niemand hatte sie gebeten, sich abzumelden, wenn sie die Dachmansarde nicht nutzte. Es war ein Rückzugsort, nicht ihre Wohnung. Warum sie bei der Vermieterin klingelte, wusste sie selbst nicht.

7

Frankfurt platzte aus allen Nähten. Wo immer eine Fläche frei wurde, pflanzte sich ein neues Bauprojekt in die Lücke. An jeder Ecke hämmerte und bohrte es, in manchen Straßenzügen steckten gleich mehrere Gebäude in der Zwangsjacke eines Gerüstes. Ganze Wohnkomplexe lagen hinter Gitter. Längst gehörten die Immobilienagenturen, in deren Schaufenster neue Wohnobjekte wie Brillant Colliers hingen, ins Straßenbild eines jeden Stadtteils.

Auch das Ostend, in dem Ellen ihre Kindheit verbracht hatte, war seiner ungeschliffenen Mentalität beraubt worden, um saniert und veredelt zum Wohlfühlhafen der Finanzbranche zu werden.

Das Dichterviertel im Dornbusch war eines der begehrtesten Wohngebiete. Immer wieder hatte Maren ihr die Vorzüge aufgezählt und von den Villen und alleenartigen Straßen geschwärmt.

Ellen lief durch die Parkanlage, die den Dornbusch von ihrer alten Heimat trennte. Egal, was Maren sagte; ihr Herz schlug im Platenviertel. Hier kannte sie sich aus, hier kannte man sich, kannte sie. Das Platenviertel war das bessere Ostend, so hatte es ihre Mutter immer gesagt, nachdem sie umgezogen waren. Und es stimmte. In der Siedlung lebte es.

Es war die gleiche Luft, die durch ihre Lungen floss, der gleiche Nieselregen, der ihre Haut benetzte und auf Büsche und Asphalt niederging, und doch roch der Frühling hier in der Platensiedlung intensiver. Ellen ließ ihren Blick über die vertrauten Holzbalkone schweifen. Reihenhäuser in Siedlungen, für sie der Inbegriff von Geborgenheit. Das Nebeneinander verschiedener Kulturen besaß etwas Beruhigendes, auch wenn es nicht immer ruhig war. Ein Teil von allem sein, statt exklusiv zu wohnen – war nicht das die wirkliche Heimat?

Noch zwei Querstraßen, dann war sie dort, wo sie sich seit Torben Fischers Tod im Stillen wieder hin wünschte.

Wenn Maren das hören würde! Für sie war die Villa der ultimative Wohnort. Aber ein Haus war noch kein Zuhause. Das hatte sie Maren damals schon gesagt, auch wenn die ihre Worte wie lästige Insekten verscheucht hatte. Wahrheiten ließen sich nicht wegwedeln.

Ellen trat vor die Haustür. Wie immer suchten ihre Augen die Klingelschilder nach einer Veränderung ab. Kurz nach ihrem Auszug war Ulrike aus dem Erdgeschoss links fortgezogen. Die schüchterne Ulrike. Hatte endlich jemanden gefunden, der sie liebte, und war ihm in eine andere Stadt gefolgt. Sie zog ihren Schlüssel aus der Handtasche und ließ ihn, als im Nebenhaus die Tür aufging, schnell wieder zurückgleiten, um ordnungsgemäß zu klingeln. Wie zu erwarten, dauerte es mehrere Minuten, bis der Türdrücker summte.

Frau Kubitsch stand auf ihren Rollator gestützt an der Türschwelle, als Ellen schwer atmend die letzten Stufen in den dritten Stock nahm. Der Einkaufsbeutel war prall gefüllt mit Köstlichkeiten. Die alte Dame naschte gerne. Seit ihrem Einzug in den Neunzigern hatte Frau Kubitsch ihre schützenden Hände über sie gehalten und der Mutter öfter mit Geld ausgeholfen. Jetzt war es an Ellen, ihr den Lebensabend zu versüßen.

»Kaffeezeit.« Ellen stellte die Taschen ab. Es war zehn Uhr morgens, aber Plätzchen und Selbstgebackenes zauberten immer ein Lächeln in das Gesicht ihrer ehemaligen Nachbarin. Bis zum Mittag tauchten sie in alte Geschichten aus dem Viertel ein.

Später nahm sie den Bus und fuhr weiter zum Baumarkt an der Friedberger Warte. Als sie am Dichterviertel vorbeikam, versuchte sie einen Blick in die schnurgerade Straße zu erhaschen. Von einer blauen Vespa war nichts zu sehen. Schon waren sie über die Kreuzung und ließen den Ort hinter sich, an dem plötzlich alles anders war.

Ob man wegen Erinnerungsfetzen einen Mord gestand, hatte Jona Hagen gestern Abend gefragt. Ellen drückte sich ans Fenster und ließ die Gebäude an sich vorbeiziehen. Links das amerikanische Konsulat, das mit seinen meterhohen Eisenstäben wie ein Gefängnis aussah. Ein Konsulat hinter Gittern. Gut möglich, dass Hanna Vers schon hinter solchen saß und auf den Haftrichter wartete. Jetzt hielten sie auch noch direkt vor diesen umzäunten Flachbauten. Traurig sah das aus. Noch während sie sich drehte, fesselte etwas an der Tankstelle gegenüber ihre Aufmerksamkeit. Ein Lieferwagen, bordeauxrot, und quer über die Längsseite der bekannte Schriftzug: Boehm-Weine. Auf dem Beifahrersitz saß eine Brünette mit kurzen Haaren. War das … Maren? Maren, die sich vorbeugte und nach etwas im Fußraum griff. Wieso saß sie bei Viktor Boehm im Auto? Kein zu privater Kontakt mit den Mietern, das war ihre Ansage gewesen. Persönlich, aber nicht privat. Schlingernd fuhr der Bus an. Ellen drängte an ihrer Sitznachbarin vorbei in den Gang und drückte den Stoppknopf. An der nächsten Haltestelle stieg sie aus. Diesmal musste Maren ihr Rechenschaft ablegen. Fünf Minuten später saß sie im nächsten Bus und fuhr mit klopfendem Herzen nach Hause.

Die Villa wirkte verlassen. Ein farbloser Himmel filterte das Licht aus ihrem Antlitz, das heute nichts weiter als eine unnahbare Fassade war, selbst der Student aus dem zweiten hatte sein Fenster geschlossen. Mit einem Quietschen gab das Eisentor nach. Ellen lief durch den Vorgarten und erhaschte aus dem Augenwinkel eine Bewegung hinter Marens Küchenfenster. War ihr gemeinsamer Tripp mit Viktor Boehm also beendet.

Und wenn Maren es einfach zugab? Sie ging ohnehin ständig mit Leuten aus. Dass sie selbst nicht automatisch zu diesem Kreis gehörte, hätte sie sich denken können. Noch in Straßenschuhen lief sie zum Kühlschrank und verschlang zwei Wiener Würstchen. Es dauerte eine Weile, bis sich ihr Puls beruhigte. Sie starrte ins Innere des Kühlschranks. Wurstdosen, aufgetürmte Quarkpackungen und ein Stück Kuchen vom Wochenende. In der Tür stand der Pfirsichlikör, von dem sie nach dem Polizeibesuch letzte Woche zusammen getrunken hatten. Warum misstraute sie Maren immer, bis die ihr das Gegenteil bewies und ihr die eigene Kleinheit vor Augen führte.

Eine Erinnerung schlich sich in ihre Gedanken. Die Kühlschranktür fiel unter der Wucht ihrer Bewegung zu, und Ellen begann, durch die Wohnung zu tigern. Was wusste sie schon über Marens Leben jenseits der Villa, außer dass sie noch immer gelegentlich als Floristin in dem Blumenladen aushalf? Von den damals geplanten gemeinsamen Unternehmungen war nicht mehr die Rede, seit sie Tür an Tür wohnten. Maren konnte sich einfach nicht in ein geregeltes System einfügen. Schon als Kind nicht. Immer wollte sie etwas anderes.

 

***

Im Treppenhaus ging eine Tür. Sie spähte durch den Spion. Maren! Wohin denn jetzt schon wieder, mit ihrer schwarzen Lacktasche über der Schulter und einer Tüte in der Hand, aus der ein Zollstock ragte. Sie stürzte ans offene Küchenfenster und zuckte unter ihrer eigenen, lauten Stimme zusammen. Maren hielt am Gartentor inne und kam ein paar Schritte auf sie zu.

»Alles in Ordnung?«

»Entschuldige, fährst du in die Stadt?«

»Die andere Richtung, zum Friseur. Oder ist es wichtig?«

Ellen winkte ab. Nicht wichtig. Vor dem Haus gegenüber zogen Kranführer Betonplatten in die Höhe, Bella sprang auf den Küchenstuhl, Besorgungen standen nicht an; sie hatte nichts weiter zu tun, als dem nachzugehen, was Maren als Luxus bezeichnete: Müßiggang. Im Wohnzimmer sank sie in die Polster und legte ihre schweren Beine auf den Couchtisch, als plötzlich der Zollstock Eingang in ihre Erinnerung fand. Wozu in Gottes Namen brauchte Maren beim Friseur einen Zollstock? Du lügst, sagte sie halblaut, und im gleichen Moment drängte die Erinnerung, die sie beim Kühlschrank überfallen hatte, nun doch in ihr Bewusstsein.

»Zeig mal deine Taschen«, hatte der Filialleiter zur damals Siebenjährigen gesagt. Und Maren? Kopfschütteln, das Ausweichen vor seinen zupackenden Händen und die Wut, mit der sie die verpackten Eistüten in den Mülleimer geschmettert hatte und davongerannt war. Hätte sie nicht hinter ihr gestanden und ein gutes Wort für Maren eingelegt, wer weiß, wie es ausgegangen wäre. Später auf der Straße nur trotzige Erwiderungen. Süßigkeiten stehen mir zu, hatte Maren ihr, der Achtzehnjährigen, ins Gesicht geschrien und dabei mit dem Fuß aufgestampft, als gälte es, die ganze Welt darunter zu zermalmen.

Ellen setzte sich aufrecht. Was war so falsch daran, für sein eigenes Glück zu sorgen, wenn es niemand anders tat?

Der nächste Gedanke trieb ihr die Hitze ins Gesicht.

Wie sie auf die Idee mit dem Wintergarten gekommen war, wusste sie nicht mehr. In ihrem Rücken maunzte Bella, die es nicht gewohnt war, eingeschlossen zu sein.

Stumm lieferten sich die Möbel in dem Glasanbau ein Duell; ihr gepolsterter Ohrensessel gegen Marens elegante Chaiselongue. Sie starrte gegen die silbernen Lamellen, bevor sie vorsichtig die Klinke der Verbindungstür hinunterdrückte. Abgeschlossen. Atemlos kehrte sie durch ihre Glastür in die eigenen vier Wände zurück.

Genau vor neun Monaten, in einer anderen Zeitrechnung, hatte Maren ihr ein Duplikat des Generalschlüssels gegeben, um ihr im Notfall Zugang zu allen Wohnungen zu gewähren. Seitdem klebte er am Boden einer Teedose. Eine Schrecksekunde lang war sie sicher, er sei verschwunden, dann hielt sie die Teedose kopfüber in den Händen und löste den Klebestreifen vom Blech. Schwer lag der Schlüssel in ihrer Hand. In zehn Minuten würde er wieder am Platz liegen, als hätte sie ihn nicht aus seinem neunmonatigen Schlummer geweckt.

Im Treppenhaus war es still. Maren war unterwegs, wohin auch immer, Herr Boehm im Weinladen, die Vespa der Therapeutin stand nicht im Vorgärtchen, Frau Vers saß in Untersuchungshaft, und Frau Kücherer von oben im Rollstuhl fest. Blieb noch der Student. Sie eilte die Stufen in den Keller hinunter und spähte nach seinem Fahrrad, doch der Kellervorraum war leer.

Nur das Haus war Zeuge. Mit zittriger Hand schob sie den Schlüssel ins Schloss und schlüpfte in die Wohnung. Es roch nach Marens Parfum, Maiglöckchen, nach Kaffee und abgestandenem Zigarettenrauch. In der Küche sah es aus wie immer. Stylisch und aufgeräumt. Ein Brief hob sich vom schwarzen Tisch ab, flüchtig aufgerissen. Ellen warf einen Blick auf das Kuvert. Die Telefonrechnung.

Im Wohnzimmer empfing sie der bekannte Anblick. Ledersofa, Chrommöbel, ein Fernseher, der die halbe Wand einnahm. Vor der Stehbar auf der anderen Seite fehlten die goldenen Hocker. Einem Impuls folgend trat sie an die Glastür, die zum Wintergarten führte, und entriegelte sie. Nur für den Notfall. Der Gedanke, wie sie durch die Glastür in den gemeinsamen Wintergarten flüchtete, ließ Panik in ihr aufsteigen. Ihr Blick jagte über die silberne Vitrine. Fünf Minuten. Fünf Minuten für die Vitrine und das Sideboard mit den großen Schubladen im Flur, und dann zurück in die eigene Wohnung. Sie öffnete die Vitrine. Gläser, Keramikaschenbecher, Feuerzeuge und eine Shisha, darunter Schubladen. Die oberen enthielten Papiere aller Art. Sie griff nach einem Schnellhefter und legte ihn gleich wieder zurück. Ihr war heiß. Als sie die unterste Schublade aufzog, setzte ihr Atem aus. Auf einer schwarzen Samteinlage ruhten Schmuckstücke, die ihr nur allzu bekannt waren. Halskettchen, ein Collier mit Brillanten, Goldreife und ein antikes Armband. Dazu mehrere Ringe mit funkelnden Steinen.

Geschenke, summte es in ihrem Kopf, Geschenke, die eigentlich ihr gehörten.

Davon hatte Maren nichts erzählt. Immer nur davon, wie glücklich Frau Wismar nach einem ihrer Besuche oder ihrer Ausflüge war. Sie nahm den Goldreif heraus und sah die fleckigen Handgelenke der alten Dame vor sich. Es gab keinen Tag, an dem sie nicht an die verstorbene Traute Wismar dachte. An die freundlichen blaugrauen Augen und die vertraulichen Gespräche, in denen sie ihr aus ihrem Leben erzählte. Sie war bestimmt enttäuscht gewesen, dass sie sich nach ihrer Kündigung nie mehr hatte blicken lassen. Nicht einmal auf ihre Beerdigung hatte sie gehen können.

Ein Medaillon fiel ihr ins Auge. Vorsichtig nahm sie es auf und drehte es, und tatsächlich, es war DAS Medaillon, das Heiligtum von Frau Wismar, tagelang war sein Verschwinden Gesprächsstoff gewesen und die Zimmer von Mitbewohnern, die sie in ihrem Wohntrakt besucht hatten, beiläufig nach dem Stück durchsucht worden. Vergeblich. Der freche Blick ihres Gatten, vielleicht dreißigjährig, für alle Zeiten jung geblieben in dieser eingerahmten Erinnerung, hatte nichts von seiner Lebendigkeit eingebüßt. Fassungslos starrte Ellen auf das Antlitz des Toten, über dessen Verlust Frau Wismar untröstlich gewesen war.

Maren hatte beteuert, jeden Winkel in der Stiftswohnung abgesucht zu haben und Traute Wismar in ihrem Beisein am Telefon wortreich getröstet, während das Medaillon längst in ihrer Schublade lag.

Ellen legte es zu den anderen Schmuckstücken und schloss die Vitrine.

Sie hatte keine Kraft mehr, die großen Fächer und Schubladen des Sideboards zu inspizieren, keine Kraft mehr für weitere, verstörende Entdeckungen.

Ein letzter Kontrollblick durch den Spion gab den Blick auf ihre eigene Wohnungstür frei. Über dem Milchglaseinsatz hing ein Hufeisen zur Vertreibung des Bösen. Dabei waren in diesem Haus schon zwei Gebote gebrochen werden. Erst ein Mord, jetzt Marens Diebstahl. Vielleicht auch noch eine Falschaussage von Frau Vers oder … sie kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu denken. Aus dem Treppenhaus ertönte ein dumpfer Schlag. Ellen schlüpfte aus der Wohnung und schloss zweimal ab, bevor sie etwas atemlos die Holzdielen in den ersten Stock hinaufstieg.

Wie erwartet lag die alte Kücherer neben ihrem Rollstuhl. Sie war mutiger als die meisten Alten, die sie aus dem Heim kannte, und wagte ohne fremde Hilfe den Aufstieg in den Treppenlift, der ihr öfter misslang. Kaum saß sie in der Senkrechten, lächelte sie wieder.

»Haben Sie einen Moment Zeit?«

***

Mit der Nacht war Stille ins Viertel eingezogen. Dunkelheit saß hinter dem Fenster, ein frischer Wind streifte durch den Garten und zerrte an den Sträuchern. Bella hatte nicht streunern wollen, sie lag an ihren Oberschenkel geschmiegt auf der Couch. Ellen lagerte ihre Beine hoch. Ihre Knie schmerzten. Aber es hatte gutgetan, die alte Kücherer durchs Viertel zu schieben. Die schnurgerade Straße entlang zum Reformhaus, dem Obstladen und der Stadtteilbücherei; Stationen, die sonst oft der Student für sie abklapperte. Der sei mit Frauen beschäftigt. Abends die Therapeutin, nachts eine junge Frau. Die Jugend. Ach, sie sei auch noch so jung im Herzen. Munter hatte die Rentnerin im Rollstuhl vor sich hingeplappert, während ihr selbst das Atmen schwer geworden war. Aber lange Erwiderungen waren ohnehin sinnlos. Die Alte hörte nicht mehr gut. Seit neuestem zeigte sie auch Ansätze von Demenz. Man wusste nie, was sie mitbekam und ob das, was sie ausplauderte, der Wahrheit entsprach.

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