Die normative Kraft des Decorum

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Das decorum juris naturae ist Teil des natürlichen Rechts und geht von der grundlegenden Gleichheit aller Menschen („ex communi hominum omnium aequalitate deducitur56) aus. Aus diesem Grund ist das decorum des natürlichen Rechts als natürliche Wohlanständigkeit mit nur wenigen Ausnahmen im Gegensatz zum politischen decorum fast immer unveränderlich.57

So verwundert nicht, dass Thomasius das politische decorum in den Cautelae ausführlicher beschreibt und dieses auch in Bezug zum Christentum setzt. Das politische decorum wird in den Cautelae XV, 10 als Lehre „höfflicher Sitten“ und wie man sich Freunde zu machen hat, definiert. Außerdem gehören als Spezifikum zu dem politischen decorum die Mitteldinge („actiones indifferentes“ in den Cautelae XV, 20). Im Unterscheid zum decorum juris naturae setzt das politische decorum die soziale Ungleichheit der Menschen voraus, weil es von den Standesunterscheiden („inaequalitatem hominum“) der Menschen ausgeht.58 Daraus resultiert bei Thomasius das Desiderat von Stände-decori, denn jeder soziale Status fordert ein anderes decorum: „[T]ot esse variantis decori species, quot sunt status variantes.“59 Das Verhalten eines Menschen wird gemäß seines Standes und sozialen Status in den Cautelae XV, 57 bestimmt: Einem höher Stehenden solle man eine anständige Hochachtung und Ehrerbietung zeigen, einem Menschen vom selben Stand solle man freundlich und höflich begegnen und mit einem Menschen von einem unteren Stande solle man leutselig und bescheiden umgehen. Wie bereits konstatiert, mangelt es einer genauen Regelbeschreibung für das jeweilige politische decorum, doch die gesunde Vernunft („recta ratio“) gilt stattdessen als Richtschnur für das decorum („decori communis regula“).60 Diese verschiedenen decora bedingen die Veränderlichkeit des politischen decorum: Je nach Völkern, Landschaften, Städten und Gesellschaften kann das decorum variieren.61 Diese Variation resultiert zum einen aus den sozialen Rangunterscheiden, ist aber auch bedingt durch die „zeitliche und situative Konstanz“62.

Das Prinzip des politischen decorum zeigt sich darin, dass der Mensch seine natürlichen und zufälligen Mängel vor seinen Mitmenschen verbirgt und keinen Ekel durch sein Handeln erregt.63 Diese Art des politischen decorum ist am besten zu erfassen und beobachten, wenn das eigene Tun durch Nachahmung („quod sit imitatio rationalis“) derjenigen Menschen des je eigenen Standes, die als vortrefflich und vorbildlich gelten, bestimmt wird, und die Regeln des justum, honestum und decorum nicht verletzt werden.64 Interessant ist hier die pragmatische Formulierung „Nachahmung von Menschen, die als vorbildlich gelten“, nicht notwendigerweise von Menschen, die vorbildlich sind. Der Anschein von Vortrefflichkeit reicht für das politische decorum allem Anschein nach für Thomasius aus.

Thomasius’ „Wissenschaft der Wohlanständigkeit“, die die moralische Beschaffenheit des menschlichen Handelns (Cautelae XV, 9) zum Thema hat und zwischen dem wahren decorum (decorum verum) und einem Scheindecorum (decorum apparens) unterscheidet (Cautelae XV, 14), berührt sich auch mit dem Christentum. Trotz des scheinbaren „Widerstandes“65 gegenüber Standesunterschieden und den daraus resultierenden verschiedenen decora – die zunächst scheinbar schwerlich mit dem christlichen Gesetz der Brüderlichkeit und Gleichheit zu vereinen sind – steht die Lehre vom politischen decorum nicht im Gegensatz zum Christentum: „Tantum vero abest, ut decorum politicum repugnet doctrinae Christi“66. Ganz im Gegenteil: Thomasius führt Beispiele für das politische decorum an, die zu finden und aufmerksam zu studieren seien: Christus strafe den Pharisäer nur leicht, als dieser ihm nicht die Füße wäscht, was ihm eigentlich das politische decorum als wohlanständige Tat und als Verhalten gemäß der Sitten der Juden gebiete.67 Dies ist Thomasius’ Hinweis dafür, dass das Christentum dem Christen und jedem Menschen rate, nach seinem jeweiligen Stande das politische decorum zu beachten und diese Kautelen, die Thomasius in diesem 15. Hauptstücke vorgestellt hat, zu berücksichtigen.68

In den oben besprochenen Werken von Christian Thomasius hat die Angemessenheit durchaus eine besondere Relevanz für seine Theorie. Nach Frederick Barnard ist der Begriff des decorum bei Thomasius mit demjenigen der „Rechtmässigkeit“ und Rechenschaft eng verbunden und beschreibt eine moralische und legale Dimension menschlichen Verhaltens, ohne jedoch eine strikte moralische Kategorie für Thomasius zu sein.69 Das decorum in der Konzeption von Christian Thomasius ist nach Barnard als ziviles Ethos für Gesellschaft und Politik zu sehen.

Zwar wird bei Thomasius, wie Till und Braungart gezeigt haben, eine paradigmatische Umstellung des decorum und der Affektenlehre, von der Rhetorik auf die Anthropologie vorgenommen, doch zeugen seine Beschäftigung mit dem decorum und seine Forderung und Beschreibung einer „Wissenschaft der Wohlanständigkeit“ von einem Desiderat für Gesellschaft und Wissenschaft im 17. Jahrhundert. So lässt sich auch eine Vielzahl zeitgenössischer Autoren nennen, die sich dem decorum als sozialem Regulativ widmen: Cumberland, Velthuysen, Pufendorf, Jungendres, Amthor oder Mencke70, um nur einige zu nennen. In der Neuordnung der Gelehrtenrepublik, die eine Aufwertung der Nationalsprache und deren Akzeptabilität und Angemessenheit71 in Poetik und Rhetorik, Hofberedsamkeit, Patriziat und Beamtenaristokratie zur Folge hat, ist der Bedarf an einem Verhaltensmaßstab jenseits von Recht und Moral offensichtlich.

2 Zur Etymologie von Decorum
2.1 Griechische Etymologie: πρέπον, εἰκός und ἐπιεικής

Obwohl das decorum heute das zentrale Konzept der Rhetorik darstellt, ist sein Begriffsumfeld nicht ohne Weiteres inhaltlich eingrenzbar oder bestimmbar. Dies ist zum einen einer langen Zeitperiode des kreativen Schaffens in Rhetorik und Philosophie von Homer bis Cicero und zum anderen der Tatsache geschuldet, dass sich im altgriechischen Sprachraum mehrere Begriffe finden, die Angemessenheit ausdrücken können. Zu nennen sind hier τὸ πρέπον, τό εἰκός und ἐπιεικής, die in diesem Kapitel in ihren Bedeutungsnuancen, Konnotationen und Kontexten analysiert werden sollen. Um diese Begriffe genau fassen zu können, werden diese chronologisch in den Werken von Homer, Gorgias, Platon, Isokrates über Aristoteles bis zu Dionysius von Halikarnassus untersucht.1

Das altgriechische Wort πρέπον ist das Partizip Singular Präsens Neutrum des Verbs πρέπω („hervorragen, passen“) im Nominativ und Akkusativ, das oft mit Dativ oder Infinitiv angeschlossen wird und laut Liddell und Scott „that which is seemly, propriety“ bezeichnet. In der häufigen Verwendung des unpersönlichen Ausdrucks πρέπει („es schickt sich“) werden sowohl die äußeren Umstände, als auch die moralische Angemessenheit in die Bedeutung mit einbezogen.2 Kemmann definiert πρέπον als den „Inbegriff des ethisch wie ästhetisch Ansehnlichen“, dessen visuelle Konnotation in der Übersetzung ins lateinische decorum und aptum jedoch abhanden gekommen ist.3 Inwiefern dieser aus der Kunsttheorie kommende Terminus als Prinzip Eingang in Philosophie, Ethik und Rhetorik gefunden hat, soll mit Hilfe der oben genannten Autoren im Folgenden beleuchtet werden.

Homer verwendet in seiner Ilias zumeist das Verb πρέπειν, um das Offensichtliche des Trägers, wie Gesichtszüge und äußere Erscheinung4, aber auch den gebührenden Respekt der Götter voreinander darzustellen (Ilias, I, 601-604). Doch auch die Art des gebührenden und anmutigen Sprechens des Prinzen Laodamas im 8. Gesang der Odyssee (VIII, 170-175) wird damit erfasst, die es dem Menschen ermöglicht, sich „θεὸν ὤς“ (wie ein Gott) zu präsentieren. Die Verwendung des Verbs πρέπειν dient nicht nur dazu, gesellschaftlich angemessene Verhaltenskodizes und eine beinahe himmlische Anmut des Sprechens von Menschen zu beschreiben, sondern kann auch das angemessen schamhafte Verhalten von Göttinnen umfassen, die beispielsweise die öffentliche Entlarvung des Ehebruchs von Aphrodite und ihrem Geliebten Ares gegenüber dem Ehemann Hephaistos (VIII, 321-324) nicht bezeugen wollen. Helden und Götter sind bei Homer Vorbilder des Menschen für πρέπον-gemäßes Benehmen und Sprechen im Rahmen einer sozialen Ordnung.

Der griechische Rhetor und Philosoph Gorgias von Leontinoi hingegen bestimmt πρέπον als ein praktisches Gesetz, das den sprachlichen Umgang mit der Realität bestimmt und in der Rhetorik als Prinzip Macht und Erfolg verspricht. Sprache – sophistisch begriffen als mächtiges Handlungsinstrument des Menschen – kann jedoch nicht kunstlos verwendet, sondern muss geschliffen und treffend sein, wenn sie den Menschen zu einem erfolgreichen Bürger machen soll, der sich seiner Wirkung bewusst ist. Das πρέπον dient als rhetorisches und juristisch-praktisches Gesetz. In seinem Lobpreis auf Helena bezeichnet Gorgias eine Rede, die einer Person, Rede, Tat, Stadt oder Sache unangemessen ist, als Verfehlung, denn Lobenswertes muss mit den seinem inhärenten Wert angemessenen Worten bezeichnet, ergo mit Lob geehrt werden.5 Dieses Prinzip der Proportionalität, Gleiches mit Gleichem zu bezeichnen, gilt auch für den juristischen Umgang mit straffälligen Menschen, indem Gleiches mit Gleichem vergolten wird. So ist das πρέπον ein angemessenes Gesetz, das für die Feststellung von Schuld, Unehre und Bestrafung eines barbarischen Täters herangezogen wird. Sei es als rhetorisches oder juristisches Gesetz, das πρέπον ist für Gorgias je situativ zu fassen. In seinem Epitaphios über heldenhaft gefallene Athener schreibt Gorgias:

 

Denn diese besaßen Göttliches, was ihre Tüchtigkeit, Menschliches dagegen nur, was ihr Sterblichsein anbelangt, weil sie vielfach das der Situation Angemessene dem eigensinnigen Rechtsstandpunkt vorzogen und ebenso oft der Genauigkeit eines Gesetzes die Geradheit der Rede, wobei sie dies für das göttlichste und allgemeinste Gesetz hielten; das Gebotene, wo es geboten ist, zu sagen und zu verschweigen und zu tun; zweierlei übten sie von dem, was geboten ist, besonders: Einsicht (und Stärke), die eine in der Abwägung und die andere in der Durchführung;6

Das παρὸν ἐπιειχές des Gorgias zeigt laut Buchheim den Primat der Sprache vor den Taten, der „mehr [ist] als nur diese äußerlich aufzuweisende Verbindung mit dem allgemeinen Gesetz der Entsprechung, welches ἀρετή, d.h. ein Gelingen des Lebens gewährt.“7 Die Entwicklung einer Sensibilität für die gegenwärtige Situation ist für den Rhetor unabdingbar, denn sie ist notwendig, um das jeweils Angemessene finden zu können. Das Befolgen des τὸ δέον ist laut Buchheim des Redners „sprechende Antwort“ auf seine eigene Betroffenheit in der Situation.8

Wenn auch Olympiodoros und Porphyrios Gorgias’ Lebensdaten unterschiedlich wiedergeben, ist bekannt, dass Gorgias ein langes, über 100 Jahre dauerndes Leben gehabt hatte; er soll sogar den nach ihm benannten Dialog Platons noch gelesen haben (Testimonium 15a). In diesem berühmten Dialog über die Rhetorik darf auch das πρέπον als Grundprinzip jeglicher rhetorischen Schöpfung nicht fehlen. Platons teleologisch ausgerichtete Dialoge, die den Versuch unternehmen, die Frage τί ἐστι meist bezüglich einer einzelnen Tugend, Kunst oder philosophischen Lehre zu beantworten und in einer Aporie enden (besonders die sokratischen Frühdialoge), bieten das bis dato größte Korpus an Definitionen für das rhetorische πρέπον. So wird im Gorgias 503e-504a das πρέπον als eine Ordnung innerhalb eines Kunst- oder Handwerkes begriffen, die alle Einzelglieder angemessen zu einem harmonischen Ganzen verbindet. Nicht nur Kunst und Handwerk, auch die Musik wird in der Politeia (399a) als Topos des πρέπον angeführt, wenn Platon davon spricht, dass Tonarten mit angemessenen Tönen und Silbenmaßen Mittel für die Erziehung eines tapferen und stoischen Wächters bieten. Ob gesungene oder gesprochene Rede, beide bedürfen einer musikalischen Untermalung, die sich im Klang der Wörter, der Tonsetzung und dem Takt der Redeintention unterordnet. Redeinhalt, Stil und Vertonung der Worte einer Rede müssen angemessen aufeinander abgestimmt sein, wollen sie sich gegenseitig in ihrer persuasiven Kraft verstärken. Diese Angemessenheit macht ein Werk schön. Deshalb wird im Hippias Maior 290d5 das πρέπον auch als Äquivalent zu καλόν (das Schöne)9 bestimmt. In weiteren Definitionen wird das πρέπον im Politikos 284e als Mitte zwischen zwei Ex­tremen auf einer Messskala bezeichnet und im Phaidros 272a als sophistischer καιρός des richtigen Zeitpunktes für eine Rede und die zeitgemäß angemessene Anwendung emotionaler Überzeugungsgründe innerhalb einer Rede. Diese, das Wesentliche der Rhetorik bestimmende Kategorie des πρέπον, ist jedoch keine losgelöste Norm, sondern hat sich jeweils an drei Redeinstanzen auszurichten: am Redner und dessen sozialem Status (Ion 540b-c und Gorgias 485c), am Redegegenstand (Phaidros 268d) und am Rezipienten (Phaidros 272a). Diese situative Gefasstheit des πρέπον wird bei Platon als Charakteristikum ausführlich dargestellt, indem alle Definitionshinweise als je situativ entstanden und erklärt werden, jedoch wird nie eine immerwährende, von der Situation losgelöste Definition vorgegeben. Die Anwendbarkeit des πρέπον auf Ästhetik, Musik, Rhetorik und die gesamte Lebensweise des Menschen dargestellt zu haben, kann als Verdienst Platons gesehen werden.

Diese große Bedeutungsvielfalt und Anwendung ist in dieser Art bei Isokrates – dem bedeutenden Schüler Gorgias’ – nicht zu finden, doch ist Isokrates derjenige, welcher das πρέπον als Forderung in der Rhetorik10 versteht. Gute Reden sind für Isokrates nur solche, die „die passende Gelegenheit [...] treffen und eine angemessene Darstellung und Neuheit der Gedanken [...] bieten“.11 Es ist die angemessene Anwendung von rhetorischen Techniken und Stiltugenden, wie die des ornatus, die einer Rede ästhetische Qualität verleiht. Diese Passage zeigt, dass es Isokrates nicht um das Anwenden starrer Regeln geht, die blind eingesetzt werden, sondern um Originalität und ein situativ bestimmtes Maßnehmen bezüglich der Regeln des πρέπον. Im rhetorischen Idealfall ist, wenn ein Redner ausgebildet ist und über genügend Erfahrung verfügt, auch eine gewisse Flexibilität in der Umsetzung des πρέπον möglich: An einer Stelle der Rede darf das Maß überschritten werden, solange an anderer Stelle der Rede inhaltlich Wichtiges überwiegt.12 Die isokratische Auffassung von Rhetorik orientiert sich stark an der praktischen Lebenserfahrung, und das Ethos des Redners wird ein wichtiger Faktor für seine Glaubwürdigkeit im rhetorischen Überzeugungsprozess: Er ist glaubwürdig, wenn er ein ehrenwerter und guter Mensch ist und als solcher auch unter den Mitbürgern gilt13. Robling folgert daraus, „[d]ass zur Kultur des Redners nicht nur Erziehung und Ästhetik, sondern auch die Ethik gehört“ und sich bei Isokrates „die rhetorische zur sozialen Perspektive“ erweitert.14

Aristoteles wiederum entwickelt in Abgrenzung von seinem Lehrer Platon eine Auffassung von Rhetorik, die weniger philosophisch-ethisch, als vielmehr systematisch geprägt ist. Aristoteles teilt das πρέπον systematisch in zwei Anwendungsgebiete ein: Es hat einen praktischen und einen poietischen Aspekt.15 In der Nikomachischen Ethik wird als Definiens zunächst der praktische Aspekt berücksichtigt, wenn er das πρέπον im Umfeld der gesellschaftlichen Selbstdarstellung eines Menschen zeigt, das „jedem gibt, was ihm zukommt“16. Dieses πρέπον richtet sich in der Praxis nach der Person, der Sache und den Umständen (eth.Nic. IV, 4, 1122a25f). Trotz der definitorischen Dominanz des Praktischen überwiegt aber die Anwendung des πρέπον im Poietischen, in Dichtung und Rede. In diesen Sphären leuchtet das πρέπον besonders als Stilqualität, die das Erscheinungsbild einer Rede maßgeblich prägt (Rhetorik III, 1, 1403b15-18), Sachverhalte angemessen und klar darlegt (Rhetorik III, 2, 1404b1-5) und analog zu diesem Sachverhalt Ethos und Pathos vermitteln kann (Rhetorik III, 7, 1408a10-11). Erst πρέπον gibt einer Rede Überzeugungskraft, denn die dem Sachverhalt angemessene Ausdrucksweise unterstützt die Plausibilität der Botschaft und gibt der elocutio gemäß der individuellen Eigenart des Sprechenden ihre Wirkung. Es ist das rechte Maß in der Rede als öffentlicher Erscheinungsform insgesamt, das den Erfolg des πρέπον ausmacht. Rhetorik ist wirkmächtig nur, wenn sie den Anderen als empfindenden Rezipienten in den Blick nimmt. Dieser ist der wahre Richter über das πρέπον, nicht der Redner, der mithilfe seines rhetorischen Kalküls eine angemessene Rede verwirklicht. Ihm obliegt es aber, sich dieses diffizilen Beziehungsverhältnisses bewusst und somit vorsichtig zu sein und das vorliegende πρέπον so gut wie möglich in seiner Rede zu beachten. Aus diesem Grund spricht Aristoteles in seiner Rhetorik (III, 1, 1404a1-5) auch von Gerechtigkeit, wenn er von einer Rede fordert, „nicht zu betrüben und nicht zu schmeicheln“. In der Topik (V, 5, 135a13) setzt er in platonischer Tradition das Schöne mit dem Angemessenen gleich. Brüllmann vertritt die These, dass Aristoteles mit πρέπον ganz allgemein das Verhalten des Tugendhaften als angemessen auffasst, ohne eine genaue inhaltliche Bestimmung vorzunehmen, und dass er seine ethischen Tugenden auch dahingehend definiert habe.17

Aristoteles’ Schüler Theophrast ist laut Diogenes Laertius (Leben und Meinungen berühmter Philosophen V, 38) von Aristoteles aufgrund seiner göttlichen und treffenden Ausdrucksweise von Tyrtamos in Theophrast umbenannt worden. Damit scheint er prädestiniert für die Erweiterung der aristotelischen Stillehre in vier Stiltugenden: ἑλληνισμός (Sprachrichtigkeit), σαφήνεια (Deutlichkeit), κατασκευὴ (Gestaltung/Redeschmuck) und πρέπον (Angemessenheit)18. Das Angemessenheitspostulat des Theophrast fordert den Ausschluss von Anstößigem jeglicher Art, wie beispielsweise Schwächen von Menschen im Gespräch aufzudecken, die kein Gefühl für das πρέπον entwickelt haben. In diesem Sinne zeichnet er den Charakter des gebildeten Menschen (πεπαιδευμένος) laut Fortenbaugh als denjenigen, der „ein Auge für das πρέπον hat“19.

Interessant für die etymologische Begriffsbestimmung des πρέπον im Altgriechischen ist auch Dionysius von Halikarnassus’ Werk De compositione verborum. In diesem griechischen Literaturkritiker aus der Wende des Jahrtausends verbinden sich griechische und römische Sprachkunst. Als Grieche lebte er lange Zeit im augusteischen Rom und verfasste rhetorische Schriften über die großen Redner Athens, wie Lysias und Demosthenes, die primär für Lehrer und Schüler der Kompositionslehre und Grammatik geschrieben waren. Nach Kennedy ist sein Werk „On Literary Composition [...] the most detailed account we have of how educated Greeks reacted to the beauties of their native language.“20 In diesem detaillierten Bericht über die Schönheit der altgriechischen Sprache werden vier Ursachen für deren Schönheit angegeben: μέλος (Melodie), ῥυθμός (Rhythmus), μεταβολή (Vielfalt) und πρέπον (Angemessenheit) (De compositione verborum 11). Besondere Betonung legt er in De compositione verborum (12) dabei auf das πρέπον, das determiniert, dass das „setting“ dem Redegegenstand angemessen und schicklich sein muss. Als wichtigstes Element einer Rede neben vornehmem Klang, herrschaftlichem Rhythmus und eindrucksvoller Vielseitigkeit ist das πρέπον ausgemacht, dessen diese drei bedürfen. Und so ist seine Definition von πρέπον als Hauptquelle literarischer Schönheit im 13. Kapitel seines Werkes ein ästhetisch-linguistischer Beitrag in Anbindung an Platon und Aristoteles.

Fasst man das altgriechische Konzept der Angemessenheit als rhetorisches Phänomen und Prinzip auf, darf nach πρέπον auch εἰκός nicht fehlen, dessen Bedeutung auch logische Wahrscheinlichkeit impliziert. In der Hauptepisode der Homerischen Hymnen wird diese Bedeutungsnuance deutlich, wenn argumentiert wird, dass Hermes nicht als Räuber der Kühe des Apollon gelten kann, da er als Baby einem Räuber nicht ähnelte, er ist also wahrscheinlich nicht der Täter. Bereits hier kann „Ähnlichkeit“ im Zusammenhang mit „logischer Wahrscheinlichkeit“ gedeutet werden. Εἰκός ist das Partizip Neutrum der (zweiten) Perfektform von ἔοικα mit präsentischer Bedeutung für „wahrscheinlich oder ähnlich sein“ und wird auch oft in der substantivierten Form als Nomen τό εἰκός für „Wahrscheinlichkeit, Glaubwürdigkeit und Angemessenheit“ verwendet. David C. Hoffman hat als älteren Hauptsinn von εἰκός „ähnlich sein“ bestimmt, das sich in Urteilen zur Angemessenheit in „To be similar to what is socially expected“ und in Urteilen über die Wahrheit von Begebenheiten in „To be similar to what is known to be true“ und in „To seem“ wandeln kann.21 In der Bedeutung der Angemessenheit schwingt implizit meist ein Vergleich mit: angemessen in Bezug auf etwas. Hoffman teilt in seinem Artikel diese Bezüge in Sitte (engl. custom), Recht (justice), Charakter und soziale Postition (character/position) und Sachlage oder Umstände (circumstance) auf. Die Verbindung mit dem Vergleich ist nicht nur der Übersetzung geschuldet, sondern leitet sich auch aus dem Altgriechischen ab, das das Perfekt ἔοικα mit einer Dativ-Ergänzung vergleichend („ähnlich sein; gleichen“) und ohne Dativ, in absoluter Verwendung, normativ benutzt („angemessen sein“).22 Manfred Kraus führt als weitere Verwendung (S. 130) diejenige Platons im Phaidros (272d-273d) an, der εἰκός nicht als Wahrheit, sondern als das der Wahrheit Ähnliche, als das Glaubwürdige (τὸ πιθανόν) und als Meinung der Masse (τὸ τῷ πλήθει δοκοῦν) definiert. Als Äquivalent dazu dient das Adjektiv ἐπιεικής („schicklich, angemessen, geziemend“), das sich entweder in attributiver Position auf ein Nomen bezieht oder wie bei Homer, in parenthetischer Verwendung ὡς ἑπιεικές („wie es sich gebührt“) mit Infinitiv oder Accusativus cum Infinitivo auftaucht. Für Kraus (S. 136) ist das εἰκός in absoluter Verwendung (ohne eine Dativergänzung) mit der Bedeutung von ἑπιεικές identisch und zeigt auf, dass das εἰκός dasjenige billigt, das mit dem sozial und ethisch Erforderlichen in Einklang ist. Alle diese etymologischen Erkenntnisse, Verbindungen und Bedeutungsvarianten zeigen nach Kraus ein genuin rhetorisches Konzept von εἰκός auf, das eben nicht auf der Nähe zur Wahrheit beruht, sondern auf der Nähe zur Erfahrung des Publikums, zu dessen emotionaler Empfänglichkeit und zu seinen Verhaltensformen.23