Die normative Kraft des Decorum

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3.1 Die Schmuckfunktion des Decorum (ornatus)

Die Rede muß geschmückt sein, denn nur in der geschmückten und damit vollkommenen sprachlichen Darstellung wird der Gehalt der Aussage erkennbar.1

Der ornatus als virtus elocutionis, der durch die Vollkommenheit der Rede den Inhalt wahrnehmbar macht, hat als rhetorische Kategorie einen festen Platz in der elocutio und Stillehre. Während Klarheit (perspicuitas) und Sprachrichtigkeit (latinitas/puritas) als Voraussetzungen jeder (erfolgreichen) sprachlichen Kommunikation gelten (recte dicendi), ist der ornatus (bene dicendi) zur sprachlichen Verständigung nicht zwingend notwendig. Doch gerade der Schmuck der Rede bietet dem Redner die Möglichkeit, die volle rhetorische Macht seiner Worte zu entfalten.

Dabei ergeben sich mehrere Fragen: Ist diese Entfaltung grenzenlos oder wird sie von einer anderen rhetorischen Kategorie begrenzt? Wie stehen die beiden rhetorischen Kategorien ornatus und decorum in Beziehung zueinander? Gibt es überhaupt eine Lehre des ornatus nach Cicero? Beschränkt Cicero den ornatus nur auf die ästhetische Ebene oder erfährt dieser auch eine Ausweitung ins Ethische? Wo liegt die Gefahr eines falsch verwendeten ornatus? Diese Fragen sollen untersucht und das Wesen des ciceronischen Decorum in seiner Verflechtung mit dem ornatus nachgezeichnet werden.

Ciceros Sicht der Rhetorik legt den Schluss nahe, dass decorum und ornatus als virtutes dicendi ineinander verflochten sind, indem zum einen das decorum die Anwendung des ornatus normiert und zum anderen der ornatus das decorum ins Ästhetische hebt. In seinen Werken Orator und De oratore zeigt Cicero besonders deutlich, inwiefern das decorum den ornatus normiert. Sein Konzept eines Orator eloquens betont den bestimmenden Aspekt, dass sapientia und oratio2 miteinander verbunden sein müssen, will der perfekte Redner den schwierigsten Prüfstein einer Rede – zu sehen, was angemessen (deceat) ist – meistern. Das decorum wird als unantastbares Regulativ definiert, welches den gedanklichen und sprachlichen Ausdruck einer Rede bestimmt. Dabei müssen drei Faktoren beachtet werden: „[D]as hängt zum einen von der Sache ab, um die es geht, zum andern von der Person sowohl derjenigen, die reden, als auch derer, die zuhören.“3 Das Anwendungsgebiet des decorum sieht Cicero jedoch nicht nur im Bereich der Kommunikation, sondern auch in der Dichtung und im Leben allgemein. Er begreift das decorum damit als ein rhetorisches und soziales Instrument mit ubiquitärer Wirkungsweise. So verwundert es nicht, dass das decorum als „ein Maßstab, den wir immer an alle unsere Äußerungen und Handlungen, die kleinsten und die größten, anlegen“4 definiert wird. Im Gegensatz zur rhetorischen Kategorie des aptum5 scheint das decorum eine Maßeinheit sui generis zu sein. Das innere aptum bezieht sich auf die Rede selbst, während das äußere aptum sich mit den äußeren Gegebenheiten einer Rede wie beispielsweise dem Publikum und dem Setting beschäftigt. Dennoch sind beide Arten des aptum eng an die Rede als solche gebunden und verbleiben damit im rhetorischen Wirkungsbereich einer Rede. Der Begriff decorum hingegen verweist auf den sozialethischen Aspekt der Beredsamkeit, indem nicht nur die Sachangemessenheit einer Rede, sondern vor allem das rhetorische Stilprinzip decorum als ethische Handlungsnorm des Menschen in den Fokus gerückt wird.

Der ornatus als schmuckvolle Formulierung einer Rede ist nach Cicero eine „concinnitas“6, deren Ziel Harmonie und Wohlklang der Wörter ist. Das lateinische Nomen concinnitas (f.) bedeutet kunstgerechte Verbindung, rhetorische Kunstform oder Harmonie. Das wortverwandte Adjektiv concinnus präfiguriert schon in seiner Etymologie „durch Ebenmaß und Harmonie gefallend“7 eine Verbindung von Maß (decorum) und Harmonie/Schönheit (ornatus/εὐρυθμία). So lobt Cicero dementsprechend auch Demokrits Sprachtalent: „[D]ie Schönheit seiner Sprache selbst ist aber als die Leistung eines Redners zu betrachten.“8 Schönheit ist nicht nur im ästhetischen Sinne, d.h. in Bezug auf einen gefälligen Rhythmus oder Redestil zu verstehen, sondern auch in einem übergeordneten Sinn von Ordnung und Maßhalten. Ähnlich wie die Rhetorik ohne Philosophie als Quelle und die Philosophie ohne die Rhetorik als wirkungsvolles Kommunikationsmittel nicht zur Vollkommenheit nach Cicero9 ausreichen, so ist auch der ornatus mit dem decorum in der angemessenen Sprache untrennbar verbunden.

Doch wie lässt sich der perfekte ornatus einer Rede bestimmen? Als beste Art der Formulierung einer Rede definiert Cicero diejenige, die latine, plane, ornate und apte ist.10 Es wäre jedoch ein Trugschluss zu glauben, das Verhältnis von decorum und ornatus ließe sich auf eine einfache Regel reduzieren. Es ist kein statisches, absolutes, eher ein dynamisches, situativ verankertes Verhältnis, das in der jeweiligen Redesituation unter Berücksichtigung aller redeimmanenten und externen sozialen Faktoren vom Redner selbst neu bestimmt werden muss. Das decorum als rhetorischer Maßstab bestimmt dabei den ornatus der Rede.

Doch welche Wirkung hat der ornatus auf die rhetorische Basiskategorie decorum? In seiner Vorlesung schreibt Nietzsche über die Beziehung zwischen ornatus und decorum:

Der Schmuck also verlangt die Übertragung des Angemessenen in eine höhere Sphäre von Schönheitsgesetzen, er ist Verklärung des Charakteristischen, einmal durch Ausscheidung des minder Edlen im Charakterist., sodann Steigerung des Edlen und Schönen; der großen Züge des Charakteristischen. Er ist höhere Natur, im Gegensatz zu einer gemeinen Natürlichkeit, Nach- und Umbildung, im Gegensatz zur Nachahmung und Nachäffung.11

An die Stelle einer unlösbaren Verbindung von ornatus und decorum scheint bei Nietzsche eine Hierarchisierung zu treten, wenn der ornatus das decorum in ästhetische Gefilde erhebt und so ein Mittel der „Steigerung des Edlen und Schönen“ an sich ist. Im Schönen zeigt sich „der Mensch als Maß der Vollkommenheit“12, das er aber definiert und erarbeitet. Das Schöne an sich existiert nicht, es wird aktiv am Menschen erarbeitet.13 So wird als erste Wahrheit der Ästhetik die These postuliert: „Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön [...] nichts ist häßlich als der entartete Mensch“14. Der Mensch als archimedischer Punkt von Schönheit muss sich Maximen unterwerfen, will er schön sein. Nietzsche integriert in seine Ästhetikvorstellung eine moralische Dimension, wenn er eine Wechselwirkung zwischen Sitte und Schönheit oder Erkenntnis und Schönheit betont. So wird derjenige zunehmend schöner, der sich völlig der Sitte unterwirft, d.h. der sich körperlich und geistig anpasst.15 Der Bereich des Schönen konvergiert zunächst mit dem des moralisch Guten, doch die Existenz von vielen Arten von Schönheit – auch die des schönen Bösen – wird dennoch nicht negiert. Im Gegenteil, Nietzsche betont diese Art der Vielfalt an menschlicher Schönheit, die noch zu entdecken bleibe.16 So ist nach Nietzsche nicht nur die Erkenntnis des Schönen schön, sondern auch die Erkenntnis der hässlichsten Wirklichkeiten ist schön. Die Erkenntnis des großen Ganzen der Wirklichkeit erfüllt den Menschen mit Entzücken, unabhängig davon, ob der Mensch Hässliches oder Schönes erkennt. Das Erkennen an sich macht die menschliche Welt schön, indem der Erkennende die Schönheit um die Dinge und in die Dinge legt.17 Nietzsche betont hier beide Seiten: das Schöne und moralisch Gute und das schöne Böse. Nach seinem Verständnis ist der ornatus imstande, das decorum ästhetisch zu erhöhen und ist somit gestalterisch aktiv.

Indem Sprache ein Bild eines Dinges entwirft, wird ein Abbild der Wirklichkeit und der menschlichen Erscheinungen geschaffen, die durch den ornatus in der Rede zum Leben erweckt und dem Zuhörer vor seinem inneren Auge durch figurative Rede vorgeführt werden können. Begreift Cicero „gestaltend“, wie später Nietzsche, den ornatus als Mittel der ästhetischen Erhöhung des decorum?

Die Anforderungen des ornatus machen nach Cicero eine Rede glanzvoll, wenn aptum und congruens in Bezug auf Redegegenstand, Redner und Auditorium konvergieren. Es genügt nicht, sich strikt den Regeln einer Schulrhetorik zu unterwerfen, sondern der Topos „vita omnia“ und vor allem die Abstimmung von ornatus und decorum müssen vom Redner beachtet und beherrscht werden. Auf diesen Maximen basierend sieht Cicero das Proprium der wahren Redekunst: „[E]st enim eloquentia una quaedam de summis virtutibus“.18 Im Idealfall lässt die richtige Wahl des Redestils und des ornatus eine Rede nicht fuco19 inlitus, sondern so erscheinen, dass „sanguine diffusus debet color.20 Auch Cicero betont – ähnlich wie Nietzsche – die ästhetische Macht des richtig angewandten ornatus für eine Rede. So liege der größte Vorzug der Beredsamkeit in der Ausgestaltung eines Themas durch den Schmuck der Rede. Durch Steigerung (amplificatio) und Hervorhebung (augendum) oder Abschwächung (abiciendum) und Verkleinerung (extenuandum/extenuatio) würden nicht nur Leidenschaften im Publikum erregt, sondern auch Sympathien gewonnen. Diese stilistischen Kunstgriffe müssen jedoch angemessen sein, wollen sie ihre Wirkung entfalten. Die Aufgabe, das Angemessene zu tun, hängt nach Cicero von der Kunstfertigkeit (facere artis est) und der Begabung (natura) des jeweiligen Redners ab.21 Auch in diesem Punkt scheinen der ornatus und das decorum eine untrennbare Symbiose eingegangen zu sein. So ist der ornatus eine wichtige Voraussetzung, um jede Schönheit der Wirklichkeit abzubilden, aber auch für das Adjustierungsprinzip von Rhetorik und für die persuasive Kraft22 einer Rede23 im Allgemeinen24.

 

Resümierend lässt sich feststellen, dass der ornatus als rhetorische Kategorie durch seine vielfältigen Funktionen für die Rede mannigfache Auswirkungen in der konkreten Redesituation hat (Abwechslung/varietas, Lebendigkeit/vivum, Kunstfertigkeit/facere artis), mittels derer der Redner gezielt die Aufmerksamkeit des Publikums steuert, um dieses von seinem individuellen, subjektiven Zertum zu überzeugen. Durch die Konvergenz der einzelnen Funktionen und Wirkungen des ornatus wird einer Rede geglaubt, d.h., δόξαι werden in ένδοξαι umgewandelt. Indem der ornatus auf das ästhetische Empfinden des Auditoriums einwirkt, wird die Rede nicht nur kunst- und glanzvoller, sondern auch überzeugender, da sie die Emotionen der Menschen anspricht und damit deren Herz gewinnt.25

Durch die Reziprozität der beiden Kategorien des ornatus und decorum scheinen in der Rhetorik Ästhetik und Ethik eine innere Verbindung einzugehen. Oder um es mit Nietzsche zu sagen:

Das eigentliche Geheimniß der rhetorischen Kunst ist nun das weise Verhältniß beider Rücksichten, auf das Redliche und auf das Künstlerische. Überall, wo die „Natürlichkeit“ nackt nachgeahmt wird, fühlt sich der künstlerische Sinn der Zuhörer beleidigt, wo dagegen rein ein künstlerischer Eindruck erstrebt wird, wird leicht das moralische Zutrauen des Hörers gebrochen. Es ist ein Spiel auf der Grenze des Ästhetischen u. des Moralischen: jede Einseitigkeit vernichtet den Erfolg. Die aesthetische Bezauberung soll zu dem moralischen Zutrauen hinzukommen [...].26

Die Symbiose von ornatus und decorum scheint aus rhetorischer Sicht vonnöten zu sein, da das eine ohne das andere wirkungslos ist. Jede Art von Einseitigkeit wird den rhetorischen Erfolg einer Rede vernichten, denn nur gemeinsam verwirklicht, entfaltet sich erst die volle Macht der Rhetorik.

Jede rhetorische Handlung ist auf den Menschen als Empfänger einer Botschaft gerichtet und wirkt damit per se in einem sozialen Raum. Dieser ist durch gewisse moralische Maximen und soziale Verhaltensweisen und Sitten geprägt, die das Bewusstsein eines jeden Mitglieds dieser Gesellschaft – oft auch unbemerkt – beeinflussen. Eine Rede, die diese Prägung in der Ausgestaltung nicht beachtet, wird erfolglos sein. Sie kann nur dann wirken, wenn die Rede zum jeweiligen Setting passt und sich so einen angemessenen Platz in diesem sozialen Raum erobert. Der ornatus kann lediglich dann auf ein solch geneigtes Auditorium einwirken, wenn er das decorum beachtet. Nach Aristoteles ist dies dann gegeben, wenn „er [der sprachliche Ausdruck] auf einer rechten Mischung beruht: aus Herkömmlichem und Fremdem, Rhythmus und Glaubwürdigkeit, die von der Angemessenheit ausgeht.“27 Diese εὖ μιχθῇ wird durch das entscheidende Kriterium πρέποντος definiert. Das altgriechische Adverb εὖ beschreibt nicht nur den technisch-kompetenten Bedeutungsbereich, sondern hat auch eine moralische Konnotation, wie es beispielsweise im Ausdruck „εὖ πάσχω“ (mir widerfährt Gutes) oder εὐδαίμων (einen guten Dämon habend; glücklich/glückselig) zum Tragen kommt. Im Gegensatz zu καλός jedoch, welches ein ethisch Gutes, Schönes, Ehrenhaftes oder Edles in Bezug auf eine äußere Gestalt (Menschen und Götter) bezeichnet, ist mit „εὖ“ eher die Qualität einer Handlung, eines Wissens und Vermögens bewertet. So wird mit εὖ μιχθῇ nicht so sehr ein moralisches „gut“, sondern ein „gut“ im Sinne des richtig abgemessenen Maßes bezeichnet.

Diese gute Mischung zu treffen, lässt sich durch keine Regel garantieren und muss je situativ bestimmt werden. Quintilian gibt dieses Proprium des ornatus – seine nicht in Regeln zu fassende Seinsart – durch einen Vergleich mit dem individuellen Genuss von Speisen wider:

Die Beachtung dieser Regel [das rechte Maß halten] lässt sich eher gleichsam gefühlsmäßig mit dem Geschmack [iudicium] erfassen, als daß sich in Regeln fassen ließe, was hinreichend viel ist und wieviel die Ohren zu fassen vermögen; hier gibt es nicht ein festes Maß und gleichsam eine Gewichtsmenge, weil wie bei den Speisen den einen diese, den anderen jene eher sättigt.28

Cicero weist aus diesem Grund apophantisch auf die Gefahr eines falsch verwendeten ornatus hin. Das rhetorische Telos einer Rede ist es, ohne Überdruss (satietas) zu gefallen. Dies wird nach Cicero durch varietas und decorum im ornatus einer sprachlichen Ausformulierung verhindert.29 Ästhetischen Genuss, gestützt im Überzeugungsprozess durch das subjektive Zertum des Redners, soll das Publikum spüren, nicht Langeweile und Ekel. Wird jedoch keine gute Mischung von ornatus und decorum erreicht, so sind die rhetorischen Folgen fatal: Eine positive, da anziehende und so zu einer Art Symbiose führende Wirkung der Rede durch den ornatus ist zerstört, die Rede hat das Gegenteil von sozialer Bindung, nämlich Ablehnung von Seiten des Auditoriums, bewirkt, das redne­rische Zertum konnte in keinen allgemeinen Konsens münden und Persuasion des Publikums ist nicht mehr möglich. Und der Redner hat sich als solcher selbst desavouiert, da er keinen passenden Stil für seine Rede gefunden hat, der den Redegegenstand, den Redeanlass, das Publikum und das Redeziel beachtet. In toto ist eine solche rhetorische Performanz nicht geeignet, den guten Charakter des Redners abzubilden und simultan das Ethos des Redners in den Köpfen und Herzen der Zuhörer zu verankern.

Einige öffentliche Auftritte deutscher Politiker, die diese fatale rhetorische Rückwirkung auslösen, mögen zur Illustration dienen. So ist beispielsweise Heinrich Heidel (FDP) zu nennen, der 2009 bei der Aktuellen Stunde im hessischen Landtag zum Thema Milchpreis in betrunkenem Zustand seine Rede hielt und statt persuasivem Erfolg lediglich abwertende Belustigung seitens der Opposition erntete. Trotz der Plausibilität seiner Argumente konnte aufgrund seiner Vortragsweise keine stringente Performanz und kein tragfähiges Ethos erreicht werden. Das nicht beachtete decorum schwächte sein Ethos als Redner und seine unprononcierte Aussprache machte die Argumente seiner Rede wirkungslos. So hat dieser Auftritt zwar nicht seine Karriere beendet, aber seine Rede hat ihren persuasiven Zweck nicht erfüllt, sondern ihn als nicht ernst zu nehmenden Volksvertreter exponiert. Auch die öffentlichen Auftritte anderer Politgrößen, wie des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke oder die häufig gestammelten Stilblüten des damaligen Ministerpräsidenten von Bayern, Edmund Stoiber, sind unvergessen in das öffentliche Gedächtnis eingebrannt – langfristig offensichtlich nicht zum Schaden des Letzteren, der bis Ende 2015 eine Funktion auf europäischer Ebene (Sonderberater für bessere Rechtsetzung) hatte.

Wird das Telos in einer Rede durch eine Falschanwendung des ornatus nicht erreicht, so ist die Rede nicht nur stilistisch gescheitert, sondern hat auch das decorum als sozial-ethische Handlungsnorm außer Kraft gesetzt. Werden rhetorisch-ästhetische und rhetorisch-ethische Prinzipien nicht beachtet, kann die Rhetorik nicht mehr als größter Genuss für Ohr und Herz der Menschen triumphieren.30 Sie richtet dann ihre strahlenden Waffen gegen sich selbst und so kann der ornatus eine Rede sogar „entwerten und die Kraft der Gedanken, die sie enthält, gegen sie selbst richten.“31 Die rhetorische Kategorie ornatus erweist sich als eine glänzende, aber bipolare Waffe des Redners im öffentlichen Auftritt, da sie sich bei Falschanwendung auch gegen das Ethos des Redners selbst richten kann. Sie beweist ihre Schönheit und Kraft gerade im agonalen Umfeld des rhetorischen Wortkampfes, aber sie kann auch das Ethos eines Redners und dessen Überzeugungskraft zerstören.32

Wie lässt sich nun das Verhältnis des ciceronischen decorum und ornatus auf einer Metaebene beschreiben?

Das Faktum der Untrennbarkeit von decorum und ornatus lässt sich ganz besonders ontologisch anhand von Platons Ideenlehre zeigen. Um diesen Zusammenhang von ornatus und decorum auf der einen Seite und Platons Ideenlehre zu verstehen, sei zunächst dessen Konzept von Idee/Urbild, Abbild und Nachbild skizziert, um daran anschließend die Einordung von ornatus und decorum in die jeweiligen Ebenen der Wirklichkeit von Sprache darzulegen. Platons Zwei-Welten-Theorie, in der er die unvergängliche Welt der Ideen von der Welt des Vergänglichen unterscheidet, zeigt verschiedene Stufen im menschlichen Bewusstseinsprozess, der vom ungesetzten, objektiven Urbild (εἶδος (gr. Idee)) und einem nach diesem Urbild geformten Abbild ausgeht. Diese Interpretation einer Welt des Sichtbaren und einer Welt des lediglich dem Geiste, der Vernunft (νόησις) Zugänglichen präfiguriert die verschiedenen Abstufungen menschlicher Bewusstseinssetzung und Bewusstseinswerdung. Platons Begriffsbestimmung dient als Prolegomenon für weitere Auseinandersetzungen mit der wirklichen und der unwirklichen Welt des Menschen. Die Frage nach dem Wesen des Urbildes und seines Abbildes, nach dem wahrhaften Sein und dem bloßen Schein betrifft auch – schon zu Platons Zeiten – die Kunst (Politeia) und die Rhetorik (Phaidros/Gorgias). Was ist das Wesen einer Rede – Abbild, Schein oder Sein? Und welche Rolle spielen in dieser ontologischen Sicht das decorum und der ornatus?

Mit Hilfe des platonischen Höhlengleichnisses in der Politeia, in dem sich Platon der Erkenntnis und Unterscheidung des wahrhaft Seienden vom bloßen Schein widmet, soll dieser Frage weiter nachgegangen werden. Ähnlich wie den in der Höhle gefesselten Menschen werden den Zuhörern einer Rede Abbilder von Lebewesen oder Ereignissen vor Augen geführt, die sie selbst nicht als Zeugen geschaut haben. In der Höhle wirft das Feuer die Schatten an die Wand, in der Rede ist es die sprachliche Nachzeichnung des Redners. Die wirklichen Dinge, Personen oder Ereignisse können in ihrer Reinheit vom Auditorium in einer Rede selbst nicht wahrgenommen, jedoch als „Urbilder“ erkannt werden. Das Sein in seiner Reinheit kann nur objektiv, ohne jegliche extrinsische Darstellungsmöglichkeit durch Andere und nur durch die menschliche Vernunft erkannt werden. Es lassen sich so drei Ebenen der Wirklichkeit von Sprache bestimmen:

1 Urbild/Idee (εἶδος)

2 Abbild

3 durch Sprache geschaffenes Nachbild

Der ersten Stufe entspricht die intelligible Welt, die nur geistig, nicht materiell erfasst wird. In diesen Bereich gehören auch die Gedanken und das Denken des Menschen allgemein. Auf dieser Stufe ist das Sein in seiner Reinheit, seiner Unvergänglichkeit und Unveränderlichkeit nach Platon zu lokalisieren. Das Sein ist so jeglicher extrinsischen Darstellungsmöglichkeit und -wirklichkeit entzogen. Die Sprache als darstellendes Kommunikationsmittel hat hier keinen Platz, da das Urbild zwar jeder Sprache innewohnt, durch sie dennoch nicht darstellbar ist. Der Grund hierfür ist der Primat des Urbildes, der vor jedem Gegenstand der sichtbaren Welt existiert und als Urform fungiert. Als Vorstufe jeglicher Existenz auf Erden ist sie für den Menschen zwar erkennbar, aber nicht sprachlich mitteilbar. Denn die menschliche Seele hat nach Platon die Ideen in einem früheren Jenseits geschaut, beim Eintritt der Seele in den menschlichen Körper diese jedoch vergessen und erinnert sich nun im Diesseits wieder der Ideen (ἀνάμνησις). Das Sein des εἶδος oder der ἰδέα33 ist in der Präexistenz aller Dinge und Begriffe und wird erst in der Form des Abbildes in den konkreten natürlichen oder künstlichen Dingen zur mitteilbaren Existenz.

Die zweite Stufe umfasst die zweite Welt der sinnlichen Wahrnehmungen und des Körperlichen. Hierunter sind die verschiedenen künstlichen Dinge, wie Gegenstände, und die natürlichen Dinge, wie beispielsweise die Lebewesen einer Gattung zu klassifizieren. Sie alle sind in einer Kategorie je einem Urbild unterzuordnen. Dieses Verhältnis eines Urbildes zu seinen Abbildern ist das der Parusie. Der griechische Terminus ἡ παρουσία stammt vom Infinitiv πάρειμι (anwesend sein; teilnehmen an) ab und bezeichnet das Faktum der Teilhabe der Ideen in jedem Einzelding.34 So ist ein Gegenstand schön zu nennen, wenn ihm die Idee des Schönen innewohnt. Die Idee der Schönheit oder auch eines Lebewesens ist paradigmatisch in jedem konkreten Einzelding anwesend. Jedes Einzelding strebt laut Platon danach, durch Mimesis (ἡ μίμησις = Nachahmung) und Homoiosis (ἡ ὁμοίωσις = Angleichung) der jeweiligen Idee als normativer Instanz zu entsprechen. Dieses Streben eines jeden Einzeldinges ließe sich auch auf die Ebene der Sprache übertragen. Wie die jeweiligen Abbilder die Angleichung an das Urbild erstreben, so erstrebt auch die Sprache die Angleichung an das wahrhaft Geschehene, welches sie sprachlich nachzeichnet. Dieses Ordnungsprinzip ist nicht reziprok, sondern einseitig, indem sich das Abbild (εἴδωλον) am Urbild und die Sprache am Geschehenen orientiert. So kann Sprache nie das Sein in seiner Reinheit darstellen, sondern nur einen nach dem Sein strebenden Schein. Dazu bedarf es des ornatus. Er ist das Instrument, das den Schein mit dem wahren Sein auf sprachlicher Ebene konvergieren lassen kann.

 

Die dritte Stufe stellt die durch die sinnlichen Wahrnehmungen bewirkten kognitiven Vorstellungen und die Empfindungen dar. Diese durch Sprache bewirkten Bilder in den Köpfen der Menschen sind von den Abbildern der zweiten Stufe zu unterscheiden. Sie sind nicht mehr sichtbar, sondern nur kognitiv oder empfindend wahrnehmbar. Da sie lediglich in den Köpfen existieren und sich von den Abbildern der wirklichen Welt unterscheiden, sind sie gewissermaßen durch Sprache geschaffene künstliche Nachbilder. Im Gegensatz zur intelligiblen Welt der Ideen sind die künstlichen Nachbilder veränderlich. Diese künstlichen Nachbilder werden im Geist des Rezipienten aufgenommen und je nach der individuellen Wahrnehmung geprägt. Diese subjektive Aufnahme des künstlichen Nachbildes stellt für den jeweiligen Rezipienten dann das subjektive Scheinbild dar. Oder um es mit Platon zu sagen: „Wahr also ist mir meine Wahrnehmung, denn sie ist die meines jeweiligen Seins.“35 In dieser dritten Stufe ist das wahre Wirkungsgebiet der Rhetorik zu finden. Wie der ornatus auf der zweiten Stufe eine Konvergenz von Sein und Schein realisieren kann, so kann das decorum auf der dritten Stufe sicherstellen, dass aus einem sprachlichen Schein, welches das reine Sein nachzubilden erstrebt, ein wahrscheinlicher Schein wird. Dieser Schein ist der wahrscheinlichste Schein, der nah am Sein zu sein ermöglicht. Das Prädikat der Wahrscheinlichkeit wird durch die rhetorische Kategorie des decorum erzielt, das die kreativen Zeichnungen des ornatus auf ein angemessenes und glaubhaftes Maß beschränkt. Idealiter macht das decorum folglich das vom ornatus erschaffene Nachbild glaubwürdig, indem das decorum das Scheinen angemessen macht. Durch die Verwendung von Sprachstilen und Formulierungen, die den Gegenständen oder Ereignissen entsprechen, die sie beschreiben, wird der sprachlichen Nachzeichnung des Abbildes Glauben geschenkt. Wie Timaios im gleichnamigen Dialog Platons darlegt, ist den Menschen als finiten Wesen allein die wahrscheinliche Erzählung möglich:

Wundere dich also nicht, o Sokrates, wenn wir in vielen Dingen über vieles, wie die Götter und die Entstehung des Weltalls, nicht imstande sind, durchaus und durchgängig mit sich selbst übereinstimmende und genau bestimmte Aussagen aufzustellen. Ihr müßt vielmehr zufrieden sein, wenn wir sie so wahrscheinlich wie irgendein anderer geben, wohl eingedenk, daß mir, dem Aussagenden, und euch, meinen Richtern, eine menschliche Natur zuteil ward, so daß es uns geziemt, indem wir die wahrscheinliche Rede über diese Gegenstände annehmen, bei unseren Untersuchungen diese Grenze nicht zu überschreiten.36

Die Unfähigkeit, die reine Wahrheit zu kennen und in Erzählungen durch den Menschen zu verbreiten, wird hier zur conditio humana.37 Auch Platon spricht unter dieser Bedingung der wahrscheinlichen und abbildhaften Rede nicht ihre Daseinsberechtigung ab. Das Verhältnis vom Abbild zur Rede als dessen wahrscheinlichem Nachbild entspricht nach Platon dasjenige vom Sein zum Werden und von der Wahrheit zum Glauben.38 So steht auf der einen Seite das absolute Sein, welches dem göttlichen und transzendenten Bereich (Sein/Wahrheit) zuzuordnen ist, dem relativen Sein, welches durch die menschliche Sinnessphäre bedingt ist (Werden/Glauben), auf der anderen Seite gegenüber. Das wahre Sein ist damit außerhalb der menschlichen Lebenswirklichkeit existent, die sich lediglich durch „Objekte[n] eines durch Empfindung veranlaßten Dafürhaltens (δοξα μετ’ αισθησεως αλογου)“ bestimmt.39 Der Mensch muss sich nur dieser Abbildrelationen bewusst werden, will er zur für ihn möglichen wahren Erkenntnis gelangen.

Damit stellt sich die dritte Stufe als die höchste, erreichbare Stufe einer Rede dar, da das reine Sein als absolutes platonische Ideal (ἰδέα) in der menschlichen Wirklichkeit nicht sprachlich zu fassen und so auch nicht erreichbar ist. Da das ideale Sein nicht fassbar und analog eine absolute Wahrheit nicht feststellbar ist, muss sich die Rhetorik40 im Wissen darum mit dem wahrscheinlichen Schein als Leitbild im Überzeugungssystem begnügen.


Ebene I Ebene II Ebene III
Urbild/Idee (εἶδος) künstliches Nachbild
Gedanken/Denken sinnliche Wahrnehmung Sprache/Rhetorik
Sein Sein als Schein (ornatus) wahrscheinlicher Schein (decorum)

Tab. 1:

Übersicht über die Stufen der Erkenntnis/Wirklichkeit in Verbindung mit Sprache